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Mit der NATO zum Frieden? Ausgabe Nr. 64, 12. Juli 2022

Mit der NATO zum Frieden?

Am 21. Februar 2022 erkennt Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als Volksrepubliken an und bricht damit Völkerrecht. Kurze Zeit später fallen russische Bomben auf die Ukraine, russische Soldaten marschieren auf ukrainisches Staatsgebiet ein. Monate später scheint bestätigt, was schon dort prognostiziert wurde: Die NATO ist ein notwendiges Mittel für Frieden in Europa – gar der Welt. Ein kritischer Blick in die Geschichte und Gegenwart der NATO lässt an diesem Narrativ zweifeln. Gerade in Zeiten, wo es scheinbar keine Alternative zur Aufrüstung gibt, ist Kritik an der NATO dringlich wie lange nicht.

Russlands Einmarsch ist mit nichts zu rechtfertigen – daran kann es keinen Zweifel geben. Doch dass deshalb die NATO als westliches Militärbündnis, als die einzige, oder gar notwendige, Alternative zur „Friedenssicherung“ unhinterfragt bleibt, leistet eher einem anachronistischen Lagerdenken des kalten Krieges Vorschub, als zu einer kritischen Auseinandersetzung beizutragen. Und auch beim jüngsten NATO-Gipfel in Madrid hält der Ukraine-Krieg als Steilvorlage für massive Aufrüstung her. Russland wird als „größte und unmittelbarste Bedrohung“ eingestuft und beschlossen, die schnellen Eingreiftruppen von 40.000 auf mehr als 300.000 Soldat*innen zu erhöhen. Doch damit nicht genug: Damit die Türkei ihr Veto gegenüber dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands aufgibt, werden Erdoğan Zugeständnisse gemacht; unter anderem, 33 Kurd*innen an die Türkei auszuliefern. Wieder einmal ein Ausverkauf der so hochgehaltenen westlichen Werte.

Der jüngste militärische Konflikt in der Ukraine zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung. Weder die Zunahme militärischer Präsenz in Osteuropa, noch die Absage des von Russland geforderten Rüstungsabkommens auf Augenhöhe kann ignoriert werden. Genauso wenig kann daraus ein Gegennarrativ legitimiert werden, dass die russische Aggression rechtfertigt oder relativiert. Allzu einfach werden in der aktuellen Debatte Alternativen skizziert, die sich auf scheinbare Eindeutigkeit festlegen und internationale Kämpfe mit nationalistischen Souveränitätsnarrativen überschreiben.

Dabei verweist die Geschichte der NATO selbst auf eine imperialistisch-militaristische Bündnispolitik. Diese betrifft nicht nur die Frage der NATO-Osterweiterung, die keineswegs so einfach vom Tisch zu wischen ist, wie derzeit behauptet wird. Denn die Zusage, auf eine solche Expansion des Einflussgebietes der NATO-Mitgliedsstaaten zu verzichten, lag 1990 vor und hätte an sich eingehalten werden müssen. Doch bereits 1993 wurden diese Zusagen von westlichen Politikern relativiert, gar zurückgezogen. 1997 kam die NATO-Russland Grundakte (die auch von Russland unterschrieben wurde) und 1999 der NATO-Angriffskrieg in Jugoslawien/Kosovo. Spätestens hier wurden die ideologischen Grenzen deutlich, die NATO bricht selbst Völkerrecht. Doch auch über die Einflussnahme in Osteuropa hinaus hat sich die NATO seit ihrem Bestehen keineswegs als demokratisches oder gar demokratisierendes Bündnis beweisen können. Am berüchtigtsten ist wohl der Einmarsch im Irak, wo die USA die NATO gleich zweifach zur Unterstützung eigener geopolitischer Interessen einsetzen konnte. Doch auch Afghanistan, Libyen, Mazedonien, Kuba und weitere Teile Lateinamerikas oder Afrikas mussten schmerzvoll erfahren, wie eine „humanitäre Intervention“ der NATO aussehen kann.

Es kann nicht darum gehen, Frieden um jeden Preis und durch Krieg zu erlangen. Dass antifaschistische Partisan*innen Kriege auch mit eigener Waffengewalt beenden konnten, zeigt, dass moralisierende Argumente zu kurz greifen, wenn sie Pazifismus verabsolutieren. Jedoch wird oftmals unterschlagen, dass eine von der NATO geforderte nationale Aufrüstung sich lediglich um die Verteidigung nationaler Ressourceninteressen schert und auch ein ukrainisches Proletariat von einer EU- beziehungsweise NATO-Integration vermutlich wenig Sicherheit vor Ausbeutung, Rassismus und Repression zu erwarten hat. Andererseits bedeutet die Aufrüstung für autokratisch regierte Länder auch mehr Repressionen und Gewalt nach innen, wie die Türkei beweist, die seit Jahrzehnten militärisch gegen Kurd*innen vorgeht und Rojava bombardiert. Und auch die 100 Milliarden für das deutsche Militär lassen angesichts der Schlagzeilen über rechte Netzwerke in militärischen Einrichtungen eher vermuten, dass es in Zukunft mehr kampferfahrene Rechtsradikale geben wird, als dass sich hochstilisierte Gegnerschaften plötzlich auflösen.

Obgleich sie bis vor kurzem noch als hirntot bezeichnet wurde, die NATO lebt und ihre Berechtigung wird zur Zeit kaum angezweifelt. Wir widmen uns in diesem Schwerpunkt der NATO und ihren Narrativen damals und heute, um zu fragen, wie eine gigantische Kriegsmaschinerie als Friedensbündnis verstanden werden kann. Welche Legitimation erfährt die NATO national und international? Welche geopolitischen Interessen werden mit militärischen Mitteln in diesem Bündnis ausgetragen? Welche Freund-Feind-Unterscheidungen werden (re-)aktiviert? Welches „demokratische“ Selbstverständnis kommt darin zum Ausdruck? Wie kann eine linke Antwort auf das Wettrüsten lauten?

In der nächsten Ausgabe #65 im Herbst 2022 beschäftigen wir uns mit dem Thema Dating im Neoliberalismus. Wir fragen mit Blick auf die Paradoxien, die wir im Kontext von Sex, Beziehungen, Körperlichkeit wahrnehmen, wie es in unserer Gesellschaft um das Kennenlernen von Anderen steht. Welche Möglichkeiten und Abwege von Begegnung(en) im Neoliberalismus gibt es und welche Beziehungsweisen können daraus entstehen?

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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