Der zerstörte alte, weiße Mann
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- Édouard Louis
- Buchtitel
- Wer hat meinen Vater umgebracht?
Edouard Louis auf den Spuren Didier Eribons: Er erkennt im geschundenen Körper des Vaters den Niedergang des Industrieproletariats.
Eigentlich müsste am Ende des Buchtitels ein Fragezeichen stehen. Doch Édouard Louis hat keine Frage. Seine knapp 80-seitige autobiographische Schrift „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ist ein gewaltiges Ausrufezeichen, ein wütender Schrei. Der junge aufstrebende Schriftsteller aus Paris richtet sich darin direkt an seinen Vater, einen Arbeiter aus Nordfrankreich. Dieser lebt zwar noch, er ist gerade mal über Fünfzig, doch sein Körper ist zerstört, buchstäblich kaputt geschuftet.
Das Buch beginnt mit einem Treffen: Louis hatte mit seinem Vater in den vergangenen Jahren kaum noch etwas zu tun. Jetzt besucht er ihn.
„Ich sah dich an, versuchte, die Jahre, die ich fern von dir verbracht hatte, aus deinem Gesicht zu lesen. Später erzählte mir die Frau, mit der du jetzt lebst, dass du fast gar nicht mehr gehen kannst. Und auch, dass du nachts ein Gerät benötigst, um Luft zu bekommen, ohne das dein Herz stehenbleibt, denn es kann ohne Hilfe, ohne die Unterstützung eines Apparates nicht mehr schlagen, will nicht mehr schlagen.“ (S. 12)
Louis hatte bereits über seinen Vater geschrieben. In seinem gefeierten Erstlingswerk „Das Ende von Eddy“ beschrieb er die Enge einer strukturschwachen Provinz als schwuler Jugendlicher, die Ablehnung seines Umfelds, auch die seines Vaters. An seine Kindheit habe er keine einzige glückliche Erinnerung, hieß es am Ende des Buches. Es las sich wie eine Abrechnung.
Die Mörder des Vaters
Nun geht Louis den Verhältnissen auf dem Grund, die seinen Vater zu dem gemacht haben, der er heute ist. Anhand der Krankheitsgeschichte des Vaters zeigt er auf, dass politische Entscheidungen auf Kosten der Armen konkrete Auswirkungen haben.
So etwa die Regierung von Jacques Chirac: Im Jahr 2006 teilte der damalige Gesundheitsminister Xavier Bertrand mit, dass die Kosten für diverse Medikamente von nun an selbst beglichen werden müssen – darunter auch Medikamente gegen Verdauungsstörungen. „Da du seit deinem Arbeitsunfall den ganzen Tag liegen musstest und dich schlecht ernährtest“, schreibt Louis, „hattest du unablässig Probleme mit der Verdauung. Jetzt mussten wir die Mittel dagegen selbst bezahlen, das fiel uns immer schwerer. Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt.“ (S. 68)
Wegen einer Gesetzesänderung unter Nicolas Sarkozy musste der Vater trotz zerstörter Wirbelsäule als Straßenkehrer arbeiten. Sarkozy habe seinem Vater das Rückgrat gebrochen, so Louis. Dann kam, vor knapp drei Jahren, die umstrittene Arbeitsrechtnovelle der Arbeitsministerin Myriam El Khomri unter Francois Hollande.
„Dein heutiger Gesundheitszustand, deine schlechte Mobilität, deine Atemprobleme, dein Angewiesensein auf die Unterstützung einer Maschine, all das liegt zu großen Teilen an einem Leben voller monotoner Bewegungen in der Fabrik, und auch an der Arbeit als Straßenkehrer, jeden Tag acht Stunden, um die Straßen zu reinigen, um den Dreck der anderen zu beseitigen. Hollande und El Khomri haben dir die Luft genommen.“ (S. 72)
Und schließlich gibt es da noch Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron. Der aktuelle Präsident, der gerne von seinen Visionen für Europa spricht, kürzte bei den Armen und senkte gleichzeitig die Vermögenssteuer – und, so Louis, stahl damit dem Vater das Essen direkt vom Teller. Die Regierungschefs der vergangenen Jahre sind für Louis letztlich Mörder seines Vaters.
Personalisierung als Mittel, um Strukturen sichtbar zu machen
Louis nutzt das Mittel der Personalisierung, um sichtbar zu machen, was sonst hinter abstrakten Zahlen und Armutsgefährdungsquoten verschwimmt. Durch die Zuspitzung möchte er Strukturen offenlegen und die strukturelle Gewalt der Klassengesellschaft beschreiben. Der zerstörte Leib des Vaters ist eine Chiffre für den Niedergang der Arbeiterklasse.
Durch die dichte Collage an wirkungsvollen Bildern gelingt es Louis, den Zusammenhang von Männlichkeit, Gewalt und Armut eindrücklich zu verdeutlichen. Die Sprache ist gradlinig, drastisch, radikal.
Am Ende des Buchs überrascht der Vater mit einer veränderten politischen Einstellung. Jahrelang hat der Vater „den Ausländern“ und „den Homosexuellen“ die Schuld an allem gegeben. Plötzlich aber kritisiert er den Rassismus in Frankreich und will mehr von dem Mann wissen, den Louis liebt.
An dieser Stelle zeigt sich die Grenze der gewählten Form. Die Klageschrift vermag es nicht, die Entwicklung des Vaters zu beschreiben, warum sich der Vater um 180 Grad gewandelt hat, bleibt unvermittelt und unverständlich. Das ist umso bedauerlicher, da die Ursachen für einen solchen Wandel wegweisend für eine Klassenpolitik sein könnten, die den Niedergang des klassischen Industrieproletariats im Zuge der ökonomischen Globalisierung mit einer antirassistischen und internationalistischen Perspektive verbindet.
Édouard Louis stellt in einem kurzen poetischen Prolog fest, dass seinen Vater und ihn Welten trennen, ihnen eine gemeinsame Sprache fehlt. Eine Perspektive, wie der linke Intellektuelle und der geschundene, alte, weiße Arbeiter zusammenkommen, scheint Louis nicht zu haben. Dazu passt das Credo des Franzosen, das der Verlag in den Buchumschlag gedruckt hat: „Literatur muss kämpfen, für alle jene, die selbst nicht kämpfen können.“ Doch wie kommen die Machtlosen zum Kampf? Louis hat darauf keine Antworten. So ist „Wer hat meinen Vater umgebracht“ zwar ein Ausrufezeichen, ein wütender Schrei, letztlich aber ein verzweifelter.
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Eine kürzere Fassung dieser Rezension erschien im März 2019 im Journal auf NDR Kultur.
Wer hat meinen Vater umgebracht?. Übersetzt von: Hinrich Schmidt-Henkel.
S. Fischer, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3103974287.
80 Seiten. 16,00 Euro.