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„Eine Brücke zwischen aktuellen Forderungen und der sozialistischen Revolution bauen“

„Eine Brücke zwischen aktuellen Forderungen und der sozialistischen Revolution bauen“ © Clara Marnette
Interviewpartner_innen
Interview mit der Aktivistin Simin Jawabreh

Die gesellschaftliche Linke ist mehr Szene als relevante gesellschaftliche Kraft. Kleinigkeiten im Miteinander erscheinen als große Spaltungslinien und die Überfokussierung auf Kampagnen blendet die langfristige Organisierung aus.

Kritisch-Lesen: Vielen Dank Simin, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns zu sprechen. Wir wollen über politische Bündnisse sprechen und über gemeinsame Kämpfe der außerparlamentarischen Linken. Magst du uns deine Arbeit vorstellen?

Simin Jawabreh Ich bin seit zehn Jahren hauptsächlich in der antirassistischen Bewegung aktiv, vor allem als Kommunistin. Für mich prägend war 2014 das Aufkommen von Pegida und der AfD. Da habe ich angefangen, Gegendemonstrationen in Berlin mit zu organisieren und kam darüber mit Organisierungsformen in Berührung, die eine Notwendigkeit benennen, dass wir kollektiv zusammenkommen müssen, um gesellschaftliche Transformation zu erreichen. Ich bin außerdem in der politischen Bildungsarbeit aktiv zu Themen wie Rassismus, Marxismus, Dekolonialismus, aber auch Abolitionismus, also alles, was sich rund um die Abschaffung von Strafapparaten, insbesondere der Polizei dreht. Außerdem arbeite ich an der Uni und schreibe ab und zu auch journalistisch.

Jetzt, zehn Jahre nach 2014, befinden wir uns in einer Lage, die sogar ein bisschen dramatischer als damals ist. Wie würdest du die Zuspitzung der Krise charakterisieren?

Für mich aktuell prägnant ist vor allem die Aufrüstung und damit auch die gesellschaftliche Aufrüstung. 2022 sind 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr geflossen, während Gesundheit, Bildung und Kultur immer weiter kaputtgespart wurden. Während Waffen wie noch nie produziert und exportiert werden und ständig von Sicherheit gesprochen wird, wird unser tägliches Leben durch Inflation, Arbeitslosigkeit und wachsende Perspektivlosigkeit verunsichert. Und das alles mit der Ansage, dass wir wieder kriegstüchtig werden müssten. Das ist nicht nur ein abstrakter Aufruf, sondern konkret spürbar, zum Beispiel wenn in Schulen die Bundeswehr Werbung machen kann und darüber diskutiert wird, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt werden soll. Und es ist natürlich auch konkret spürbar in internationalistischen Kämpfen, die stattfinden, weil deutsche Waffen unsere Heimat zerstören für den Profit der Wenigen.

Ich glaube, dies geht aktuell zusammen mit einem Umbau jener Strukturen, die vor allem über Repression und Kriminalisierungen das System legitimieren und am Laufen halten. Wir erleben krasse Angriffe auf das Streikrecht, wenn es um die Organisierung in Betrieben geht. Da gibt es aktuell das Paradebeispiel, dass der Kitastreik unterbunden wurde. Wir haben auch die Situation an Berliner Unis, dass mit dem neuen Hochschulgesetz Zwangsexmatrikulationen wieder ermöglicht werden. Und wir erleben den krassen Anstieg von Polizeipräsenz und damit natürlich auch Gewalt in unseren Kiezen und das alles, während die faschistische Bedrohung immer realer wird. Aber mir ist immer wichtig, wenn man über diese faschistische Bedrohung spricht, zu schauen, welche Bedingungen dafür geschaffen werden. Welchen Anteil hat beispielsweise die Ampelregierung daran, die die heftigsten Sozialkürzungen seit der Agenda 2010 veranlasst hat? Weil wir uns als Linke ja genau in diesem Zusammenhang verhalten müssen. Und da ist für mich gerade zentral, dass wir es unbedingt schaffen müssen, die soziale Frage mit der Antikriegsfrage zusammenzudenken und nach außen hin zu artikulieren.

Anfang des Jahres gab es die großen bürgerlichen Demonstrationen gegen die AfD, wo viele Linke die Dringlichkeit sahen teilzunehmen. Wie schätzt du solche Massenbewegungen ein? Wo kann man, wo muss man sich anschließen?

Es ist ganz wichtig zu sagen, dass ich aus der Berliner Politik komme und dort sozialisiert worden bin und nie länger woanders war. Da gibt es natürlich ein Stadt-Land-Gefälle. Ich weiß von Genoss:innen auf dem Land, dass dort die Anti-AfD Demos teilweise anders waren, beziehungsweise ich würde die anders bewerten, als ich es hier oder in Großstädten tun würde.

Der Slogan, unter dem die Demos stattgefunden haben – „Demokratie verteidigen” – lässt schon erahnen, worum es geht, nämlich den Status quo zu verteidigen. Dass dieser bereits für die Mehrheit der Gesellschaft gewaltvoll verläuft, geht natürlich unter. Solche Kollektivierungen sind also im besten Fall ein reformistisches Projekt, das noch versucht, liberale Rechte zu verteidigen. An sich finde ich, hat das Sich-Anschließen durchaus seine Berechtigung und es ist eine strategische Frage, wo es Sinn ergibt und wo nicht. In diesem Fall, würde ich aber sagen, hatten die Demos mehr mit einer tatsächlich emotional subjektiven Selbstvergewisserung der Menschen zu tun, doch auf der guten Seite zu stehen, während sämtliche Menschen, die versucht haben, da eine kritische Perspektive einzubringen, abgewiesen wurden. Demokratie verteidigen hieß letztlich nicht, für tatsächlich demokratische Verwaltung zu kämpfen, sondern den Status quo aufrechtzuerhalten und die Rechten als isoliertes Phänomen zu behandeln. Wir hatten aber Oury Jalloh, wir hatten Hanau, wir hatten Chemnitz, wir hatten all diese krassen rassistischen Gewalttaten, die der Status quo inhärent hervorbringt. Genauso wie jene, die sich in Solidarität mit Palästina äußerten, oder gar selbst palästinensisch sind und die die Erfahrung machen mussten, angespuckt zu werden. So würde ich zumindest die Demonstrationserfahrungen in großen Städten beschreiben.

Ein klassisches linkes Dilemma: Wie kann man eine kritische Perspektive einerseits erhalten und andererseits sichergehen, dass man Menschen erreicht und politisiert?

Ich glaube der Fehler, der ganz oft passiert, ist dass wir als Linke – und ich nehme mich da gar nicht aus – die Bündniszusammenarbeit von der Nähe zu Personen und persönlichen Verflechtungen mit anderen Gruppen abhängig machen. Obwohl es viel mehr um die politische Situation geht, in der wir uns befinden. Wenn ich wirklich eine real-faschistische Bedrohung habe, dann muss ich andere Entscheidungen treffen als zu einem anderen Zeitpunkt. Ich glaube, diese Form von Unterscheidung zwischen Analyse, Strategie und Taktik geht oft verloren und Leute orientieren sich nur an der gemeinsamen Analyse. Und das hat zum Teil seine Richtigkeit. Aber ich kann auch zu gewissen Zeitpunkten zu dem Entschluss kommen, dass es Sinn ergibt, zum Beispiel punktuell mit NGOs zusammenzuarbeiten, trotz des Wissens, dass wir auf jeden Fall dieses System stürzen müssen, weil wir ansonsten nicht zu einem guten Leben für Alle kommen werden.

Ein akutes Beispiel ist die drohende Abschaffung des Rechts auf Asyl. Bei den Kämpfen rund um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) ist es unglaublich wichtig, auch mit anderen Akteuren zusammenzukommen. Was aber nicht heißt, dass man sich jeweils in seiner Analyse einschränkt. Es ist wichtig, zur Heterogenität der Bewegung zu stehen und sich nicht nach innen hin abzustrafen, sondern einen Modus zu finden, wo man letztendlich zusammen schlägt.

Ich schöpfe gerade Hoffnung daraus, dass sich viele Leute radikalisieren und sich strengere Organisierungsformen wünschen. Es gibt ein sichtbares Aufkommen von neuen Jugendgruppierungen zum Beispiel, wie ich sie noch vor fünf Jahren nicht kannte. Ich hatte Probleme als Jugendliche, solche Zugänge zu finden. Inzwischen gibt es da ein viel größeres Angebot. Aber was oft passiert, ist das, was ich Verbalradikalismus nennen würde, also, dass man zur Erkenntnis kommt, dass Kapitalismus scheiße ist, und dann dort stehen bleibt. Das führt zur Isolierung der eigenen Position, wo man nur noch dieses Mantra rauf und runter rattert, aber nicht mehr offen ist, sich strategische und taktische Fragen zu stellen.

Lenin hat dieses wundervolle Buch geschrieben, das mich sehr geprägt hat: „Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Ich finde das eine sehr schöne Beschreibung für ein politpubertäres Verhalten: dass man nicht den Anspruch hat, tatsächlich in Massen einzuwirken und für Errungenschaften zu kämpfen, die die Stellung der Arbeiter:innenklasse als solche verbessern, sondern immer gleich das große Ganze will. Lenin hat die schöne Formulierung geprägt, dass es wichtig ist, als organisierte Kommunist:in immer einen Schritt voraus zu sein, aber eben nur einen Schritt. Ich glaube, manchmal sind wir zehn Schritte voraus und das führt eben zu Isolierung, wohl weil wir Angst haben, in die Reformismusfalle zu tappen.

Also du meinst, dass es die Maximalforderung vom Ende des Kapitalismus ist, die uns lähmt, statt sich auf bestimmte kleinere Schritte oder Vernetzungen einzulassen?

Ja, ich würde es als Spannungsfeld zwischen Ultralinks und Reformismus beschreiben. Ich treibe das jetzt ein bisschen auf die Spitze: Aber wenn man zum Beispiel gar nicht mehr in Arbeitskämpfe intervenieren würde, weil man sagt, es ginge doch nicht darum, dass Leute ein paar Pfennig mehr bekommen, sondern darum, Lohnarbeit als solche abzuschaffen - ja, auf jeden Fall. Aber in Zeiten von Inflation und krasser Perspektivlosigkeit müssen wir genau in diese gesellschaftlichen Kämpfe reingehen. Und müssen auch für besseren Lohn und Arbeit für Alle kämpfen. Ich halte es für eine unglaublich wichtige Forderung, weil es die Stellung der Arbeiter:innenklasse verbessert und weil es diese Kämpfe sind, in denen Menschen Klassenbewusstsein bekommen. Das passiert nicht im luftleeren Raum, sondern das wird immer erst in Kämpfen zugespitzt. Auch da müssen wir mit der Analyse dabei sein, dass wir das ganze System auf den Kopf stellen müssen. Aber das muss eben innerhalb der Praxis passieren und darf nicht dazu führen, dass man sich zurückzieht, aber mit erhobenem Zeigefinger ständig im Kommentierungsmodus bleibt.

Ich würde nicht sagen, die Linke scheitert an sich selbst. Es gibt natürlich auch objektiv systemische Gründe, warum wir in der Lage sind, in der wir heute sind. Aber ich glaube, es hilft, aktionsgebunden auf Basis eines Programms zusammenzukommen. Wenn wir Aktionskomitees gründen in betrieblichen Kämpfen, oder wenn wir in Schulstreiks Jugendkomitees gründen, dann müssen wir das wirklich als demokratische Organe verhandeln, die zusammen einen Programmentwurf machen, in dem festgehalten ist, welche Forderungen wir haben, von minimal bis maximal. Ein Entwurf also, der so was wie ein Recht auf Arbeit und bessere Entlohnung beinhaltet, aber genauso entschädigungslose Enteignungen. Zum Thema Enteignen hatten wir ja auch einen großen Kampf, der ganz wundervoll gezeigt hat, dass solche Forderungen gesellschaftsfähig sind, wenn sie mit den Leuten zusammen gestaltet werden. Da gebe ich der Kampagne wirklich Props! Aber man sieht auch die Grenzen in dem Moment, wo solche Komitees nicht weiter mobilisieren und der selbstermächtigende Faktor der Organisierung versickert, weil Forderungen nicht umgesetzt werden. Da gab es Enttäuschung und auf einmal macht die Kampagne Wahlkampf für die Linkspartei. Ich glaube, da hat es zum Teil an Programmatik und weiterer Mobilisierung gefehlt.

Wie lassen sich deiner Erfahrung nach Räume für gemeinsame Debatten schaffen und damit auch Grundlagen für gemeinsame Kämpfe?

Das ist eine Gratwanderung. Bestimmte Teile der Bewegung müssen total offen sein und andere können das zwangsweise wegen Repressionen nicht. Und das ist ein Verhältnis, das man immer wieder neu ausverhandeln muss. Eine Antikriegsbewegung hat natürlich die objektive Schwierigkeit, sich nicht öffnen zu können, wenn sie jede Woche mit Hausdurchsuchungen zu kämpfen hat. Da muss man gucken, wie man sich schützt. Aber letztendlich braucht es offene Räume, in die aufgrund einer akuten Problemstellung eingeladen wird; in denen man ein gemeinsames Programm erarbeitet, für das man aktionsbasiert zusammenkommt. Mit der Überzeugung, auch das Revolutionäre in Alltagsforderungen zu verankern, wenn es um bessere Arbeitsbedingungen geht beispielsweise, und vor allem das Vertrauen gewinnen zu können, dass es wirklich darum geht, das Leben der Menschen zu verbessern, lassen sich große Räume öffnen.

Ich glaube, dass wir die Einstellung brauchen, dass wir die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben und dass man sich stetig weiterbildet. Also dass man mit einer fertigen Analyse noch lange nicht am Ziel angekommen ist und dass das bessere Argument nicht gewinnt in diesem System. Deswegen müssen wir aus politischen Kämpfen und den strategischen und taktischen Diskussionen noch viel mehr lernen. Analytisch sind Leute sehr gut aufgestellt, aber es braucht eben die konkrete Praxiserfahrung und Weiterbildung darin, so platt es auch klingt: Welche unterschiedlichen Strategien gibt es? Welche haben historisch gesehen funktioniert? Was waren beispielsweise taktische Unterschiede zwischen einer Volksfront und einer Einheitsfront? Das sind alles Kämpfe, auch jene in der Komintern, aus denen wir lernen können, wie wir uns mit unserer Geschichte als Klasse und ihren Kämpfen bewegen müssen. Es gibt zum Teil ganz objektive Gründe, warum das in Deutschland gescheitert ist. Die Umstrukturierung zum Neoliberalismus hat wirklich krasse Angriffe auf Gewerkschaften und auf die Linke als solche bedeutet, die auch zu einer Isolierung geführt haben. Und während des Faschismus gab es einen politischen Genozid an Kommunist:innen, das darf man auch nicht vergessen. Die transgenerationale Weitergabe von Kämpfen ist in Deutschland lange nicht gewährleistet gewesen. Weil viele Genoss:innen dann einfach nicht mehr existierten, weil sie dezidiert vernichtet wurden und das Kampferbe nicht weitergeben konnten. Wir müssen uns vieles selbst beibringen.

Wir müssen uns also immer wieder aufbauen?

Ja, deswegen meine ich, dass es wichtig ist, immer nur einen Schritt weiter zu sein und nicht zehn. Weil man sonst den Anschluss verliert. Das Problem ist, eine Brücke zu bauen zwischen aktuellen Forderungen und, klassisch gesprochen, dem Programm einer sozialistischen Revolution, also einer Eroberung der Macht durch die Arbeiter:innenklasse. Da gibt es ja unterschiedliche Ansätze und theoretische Strömungen. Im Abolitionismus, also den Kämpfen, die sich vor allem um die Abschaffung von Sklaverei gedreht haben und sich heute auf strafende Regime fokussieren, nennt man das nonreformistische Reform, also Reformvorschläge, die nicht einfach nur der Macht ein neues Gewand geben, sondern die einen konkreten Abbau von machtvollen Institutionen anstreben. Ich will nicht, dass die Polizei Antirassismusschulungen bekommt, sondern dass sie weniger Geld bekommt. Ich will, dass sie weniger Anteil in der Steuerung meines Lebens hat. Deswegen ist auch eine Forderung wie 100 Milliarden für Soziales und Bildung statt für Aufrüstung eine, mit der man sehr gut Kämpfe mobilisieren kann, auch wenn man gleichzeitig die Enteignung oder Vergesellschaftung dieser Sektoren vorschlägt. Das muss benannt werden. Wir müssen da selbstbewusster auftreten und unserem Projekt nach außen hin mehr Glaubwürdigkeit geben. Ich habe das Gefühl, dass manche ihre Ziele zurückhalten und sich gar nicht erst in die Auseinandersetzung trauen. Bei aller Kritik an der KPÖ, die schaffen das zum Beispiel sehr gut zu sagen: Ja, natürlich stehen wir hier als Kommunist:innen!

Es ist ja auch eine ganz schöne Perspektive, wie zum Beispiel bei Deutsche Wohnen Enteignen, dass große Teile der Gesellschaft hinter einer solchen Idee stehen. Wir scheinen das aber nicht zu wissen.

Genau. Ganz aktuell frustrieren mich beispielsweise die Repressionen rund um die Palästina-Proteste. Ich habe die Überzeugung, dass Repressionen am Ende des Tages irgendwann alle betreffen werden. Auf den Demonstrationen wurden Grundrechte von Versammlungsfreiheit bis hin zu akademischen Freiheiten wie Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt und ausgehebelt. Das lässt wirklich Gruseliges erahnen für die Zukunft. Es hat mich krass frustriert, in Diskussionen zu geraten, wo ich sagen würde, wir können bei A und B unterschiedliche Positionen haben, aber wir müssen bei C zusammenstehen, weil das genauso ein Angriff auf dich sein kann in einem halben Jahr. Es gab eine Umfrage in der Süddeutschen Zeitung, dass 70 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen weitere Waffenlieferungen an Israel ist. Das ist total krass! 70 Prozent, das ist die absolute Mehrheit. Und trotzdem steht eine propalästinensische Bewegung vermeintlich vereinzelt da. Dieses Bewusstsein fehlt. Repressionen sind immer ein Mittel, um Menschen besser verwalten und disziplinieren zu können. Und sie weiten sich aus: G20 zum Beispiel, als auf einmal ein riesiges Areal als gefährliches Gebiet galt, wo Demonstrierende keine demokratischen Freiheiten mehr hatten und einfach so kontrolliert werden konnten. Als antirassistische Aktivist:innen sprechen wir ständig über sogenannte Gefahrengebiete und Racial Profiling. Das sind immer Taktiken, die an spezifischen Menschengruppen ausprobiert werden und dann letztendlich ausgeweitet werden. Natürlich richtet sich das auch gegen eine politische Linke.

An dem fehlenden Bewusstsein sieht man ganz gut, wo eine Kritik an die Bewegung formuliert werden muss. Es bringt nichts, jedes Wochenende nur auf Schockwellen surfend zu mobilisieren und ständig diese Aufmerksamkeitsökonomie zu bespielen und immer schlimmere Bilder zu produzieren. So im Sinne der Botschaft: Wenn du ein moralisch aufrichtiger Mensch bist, dann musst du jetzt auf die Straße gehen. Die stetig moralisierende Sprache hält zum einen Leute ab, sich auf die Straße zu trauen, schafft aber auch keine politische Relevanz in der Gesellschaft. Sie schafft es nicht, diese Kämpfe in den Betrieb oder in ihren Alltag zu tragen.

Würdest du sagen, dass die Politisierung über soziale Medien hauptsächlich über Affektökonomien läuft?

Und über Betroffenheitsökonomien! Leute haben mich oftmals angesprochen: Wie fühlst du dich als Palästinenserin, willst du nicht was dazu sagen? Nein, ich äußere mich dazu nicht, ich weiß, Leute erwarten das, aber ich bin niemandem schuldig, mein inneres Familientrauma nach außen zu tragen. Ich bin Kommunistin und ich kann dir strategische Vorschläge machen, wie wir damit umgehen sollten. Es ist spannend, was von Menschen erwartet wird und was vermeintlich zieht. Da müssen wir aufpassen, keinen Gefühlsdiskurs zu reproduzieren, weil das letztendlich auf medialer Ebene übrig bleibt. Dann lässt man mal eine Palästinenserin zu Wort kommen und es geht darum, ihre Gefühle auszuschlachten. Ihre Identität heißt noch lange nicht, dass sie eine Analyse von der Situation hat. Fernab der Frage, dass die Identität noch lange nichts über die politische Einstellung der Person aussagt.

Was ist deine Idealvorstellung, wie strategische Bündnisse heute aussehen könnten und wie würden sie organisiert werden?

Wir haben eine Situation, in der wir als gesellschaftliche Linke mehr Szene sind als relevante gesellschaftliche Kraft. Das müssen wir uns eingestehen. Das heißt unter anderem, dass eine Überfokussierung auf Kampagnen eine langfristige Organisierung und Verankerung ausblendet. Ich will ihnen ihre Existenzberechtigung nicht absprechen, aber ich finde Ansätze wie Stadtteilarbeit lohnenswerter. Insofern, als dass es um konkreten Strukturaufbau geht, der Leuten hilft, sich im Alltag konkret um ihre eigene Lebensrealität zu organisieren und zu ermächtigen. Das sind Strukturen, die wir in vorrevolutionären Zeiten viel stärker brauchen. Die Arbeit ist manchmal sehr unsexy, weil sie bedeutet, dass ich mit den Leuten in meinem Kiez ins Gespräch gehe; mit dem Späti- und Bäckereinhabenden nebenan, mit der Familie aus der Nachbarschaft und sie ganz konkret frage, welche die Probleme sind, die sie im Alltag beschäftigen. Und davon ausgehend versuchen wir ein politisches Programm zu bilden. So mache ich nicht Politik für Linke, sondern für mein direktes Umfeld. Auch wenn jemand letztens voll den rassistischen oder sexistischen Kommentar gemacht hat, wir müssen unser Gegenüber ernst nehmen. Ich erinnere mich an den BVG Streikposten im Februar. Das ist unglaublich anstrengende Arbeit. Man steht um 5:00 Uhr morgens da, das macht gar keinen Spaß, und alle Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben AfD gewählt. Da ist es doch total wichtig zu fragen, warum. Was stört sie an der aktuellen Politik? Mit allen Leuten hatte ich ein super gutes Gespräch, und ich sehe jetzt auch nicht weiß aus. Wir sprachen darüber, warum sie die Ampelpolitik ankotzt, warum sie die Grünen für Kriegstreiber halten. Das waren alles Punkte, wo wir in der Analyse Gemeinsamkeiten hatten, aber in der Konsequenz unterschiedliche Schlussfolgerungen getroffen haben. Wir müssen aber einen Unterschied machen, wo die real organisierten Faschos rumlungern, die wir wirklich blockieren und sabotieren müssen. Und wo die Leute sind, mit denen wir uns trotzdem noch gemeinsam für ein politisches Projekt begeistern können. Und damit möchte ich nicht den Rassismus relativieren, der da reproduziert wird. Aber will ich mich als politische Linke nur selbst vergewissern, dass ich die richtige Position habe? Oder habe ich tatsächlich den Anspruch, für gesellschaftliche Veränderungen einzustehen? Dann muss ich einfach anders handeln, egal wie unangenehm ich das zum Teil finde.

Bist du viel unterwegs und im Kontakt und Austausch mit Genoss:innen?

Teilweise ja, ich besuche beispielsweie gern meine Genossis im Osten, aber das ist vor allem ein Austausch, wo ich das Wissen extrem schätze und wo man zusammen schaut, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind. Da können Bündnisfragen ganz anders sein. Manchmal ist es in kleineren Dörfern total wichtig, mit dem kleinen lokalen liberalen Verein eine Kampagne zu machen, während wir in Berlin eine ganz andere Situation haben. Aber ich glaube schon, dass es hier auch Verschiebungen gab. Zu Zeiten, als meine Mama jünger war, waren Grüne und NGOs andere Ansprechpartnerinnen, während jetzt klar ist, dass sie ein Projekt des modernisierten Kapitalismus sind, sie sind zu politischen Gegnern geworden. Daran sind Kampagnen wie Genug ist Genug letztendlich gescheitert, weil sie mit Regierungsjugenden zusammengearbeitet haben, die ein politisches Projekt unglaubwürdig machen, da die Mutterparteien als politischer Gegner auftreten und dem dann Ausbleiben größerer Proteste.

Was dürfen wir als Horizont ins Auge fassen? Was ist machbar?

Ich glaube, die Revolution ist machbar. Das denke ich, wenn ich sehe, dass Leute in ihrem Betrieb mit ihren Kolleg:innen Betriebsgruppen gründen, dass sie an der Schule Schulkomitees gründen, dass sie Uni-Komitees gründen und dass das alles nichts Schwieriges ist und dass die Kraft, die einem vielleicht heute noch fehlt, dann kommt, wenn man es macht. Weil das Dinge sind, die helfen im Alltag. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass das linke Projekt nicht etwas Außenstehendes ist, was mit meinem Leben sonst nichts zu tun hat. Linkssein wird nicht konsumiert und dann nach dem Erlebnis zurückgelassen, sondern das muss man als ermächtigende Praxis begreifen. Wenn wir mehr diese nachhaltigen Strukturen im Alltag aufbauen, fällt es uns leichter, vereint zu schlagen und Kleinigkeiten im Miteinander, in den Diskussionen, nicht mehr als so große Spaltungslinien erscheinen zu lassen. Ich glaube, dass dieser abgrenzende Habitus, den wir manchmal an den Tag legen, auch durch massiven Druck kommt und durch massive Irrelevanz, die wir alle miteinander teilen. Wenn man gesellschaftlich gar keine Macht hat, aber den ganzen lieben Tag darüber redet, dann ist der einzige Raum, in dem man Macht ausüben kann, der Eigene.

Wenn wir die solidarischen Erfahrungen in unserem Alltag mehr verankern würden, würde das dazu führen, dass gewisse Drucksituationen sich entschlacken. Denn letztendlich geht es mir nicht darum, andere Linke zu überzeugen. Es geht mir um die große Mehrheit, die noch gar nicht positioniert ist. Und dann ist mir auch egal, was Gruppe XY sagt, solange ich weiß, ich stehe hier mit meinen Kolleg:innen und wir kämpfen gerade dafür, dass uns die Arbeit leichter gemacht wird. Diese Fokusverschiebung bräuchte es teilweise. Trotzdem halte ich Spaltungen für nichts grundsätzlich Schlimmes, ich würde nicht in dieses Mantra verfallen, wir Linke streiten uns nur untereinander und deswegen bekommen wir nichts hin. Ich finde es wichtig, dass wir miteinander streiten. Ich wünschte, wir würden mehr miteinander streiten und mehr Kritik aneinander üben. Das ist nichts Schlechtes, sondern etwas, woran wir alle lernen können. Kritik und Selbstkritik sind das Lebenselexier einer jeden progressiven Bewegung. Aber alleine durch den Druck, unter dem wir stehen und mit diesem riesigen Vorhaben, das wir uns alle auf die Fahne schreiben, wird auf einmal Kritik, die man aneinander übt, zu einem Todesstoß. Und deswegen würde ich sagen, nicht weniger Kritik, nicht weniger Spaltung, sondern einen lockereren Umgang mit Unterschieden: mehr politischer Streit, aber als lernender Faktor und nicht als einer der Aufregung. Das gehört einfach dazu und ist am Ende des Tages nicht so dramatisch, sondern gibt uns allen ein bisschen inhaltliche Klarheit und bringt Diskussionen voran.

Das Interview führte Sara Morais dos Santos Bruss

Literaturhinweis

Lenin, W. I. (1920). Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur.

Zitathinweis: Sara Morais dos Santos Bruss: „Eine Brücke zwischen aktuellen Forderungen und der sozialistischen Revolution bauen“. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/q9X2V. Abgerufen am: 21. 11. 2024 07:23.