„Auf dem Tahrir-Platz haben wir zum ersten Mal in unserem Leben Freiheit gespürt“
- Interviewpartner_innen
- Interview mit Milo
Wie die Revolution im Oktober 2019 das Leben einer ganzen Generation im Irak veränderte: Ein Gespräch über die Nicht-Selbstverständlichkeit von persönlicher und kollektiver Freiheit.
kritisch-lesen.de: Schön, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Kannst du dich kurz vorstellen?
Milo Ich bin Milo, ich bin 23 Jahre alt. Ich komme aus dem Irak, aus Bagdad. Jetzt bin ich in Deutschland. Ich bin lesbisch. Und ja, das war's. Oder?
Ja, das passt! Während dem Tishreen, der irakischen Revolution im Oktober 2019, warst du Teil der Bewegung auf dem Tahrir-Platz. Aktuell hast du gemeinsam mit deiner Partnerin* ein Asylverfahren in Deutschland begonnen. Ich kann mir vorstellen, dass dir einiges in den Sinn kommt, wenn du das Wort Freiheit hörst. Was bedeutet es für dich? Verwendest du dieses Wort oft?
Freiheit ist etwas sehr wichtiges für mich, weil ich sie fast nie gespürt habe, als ich im Irak war. Und ich habe dennoch immer von Freiheit geträumt. Freiheit, das heißt, ich kann als Mensch leben, ohne verletzt zu werden, ohne dass jemand droht, mich umzubringen. Dass ich als Mensch Rechte habe und auch nach meinen eigenen Regeln leben kann. Auch unabhängig von den Anforderungen der Gemeinschaft, der Regierung oder den religiösen Regeln. Also die Freiheit, bei sich selbst zu sein. Dass dich nichts kontrolliert, wie die Gesellschaft, deine Familie oder Ähnliches.
Was bedeutet Freiheit im Kontext des Irak, insbesondere für deine politischen Kämpfe? Was bedeuten diese Kämpfe für dich als Aktivistin*, Feministin* und vielleicht LGBTQ-Person, mit allen Begrenzungen, gegen die du kämpfen musst?
Die Freiheit im Irak ist nur etwas, das im Gesetz steht, aber wir sehen es nie und glauben nicht daran. Selbst wenn jemand sagt, du bist frei, dies oder das zu tun, du bist frei, jenes zu sagen, lachen wir, weil es nicht real ist. Wenn du deine Meinung als Aktivistin* oder als Frau* sagst, wirst du getötet oder zumindest massiv bedroht.
Wer bedroht dich?
Etwa die Milizen und Leute in der Regierung, die gegen uns sind. Als ich in den letzten Jahren mit Frauen*organisationen gearbeitet habe, um Frauen* zu helfen, war es sehr schwer, die Wahrheit zu sagen. Wenn du als Aktivistin* über Freiheit oder darüber sprechen möchtest, was wirklich in deinem Kopf ist, musst du einen Preis bezahlen. Du musst viel opfern, dich selbst eingeschlossen. So funktionieren die Tribes (mit ihren Milizen), und so funktioniert das System.
Kannst du erklären, welchen Einfluss die Tribes und Milizen haben, spezifisch im Irak?
Im Irak haben viele Clans ihre eigene Miliz. Diese Milizen sind im Krieg gegen den IS entstanden und wurden danach ins Militär integriert. Viele der Milizen haben auch Vertreter in der Regierung, im Parlament und besonders in der Polizei. Demnach haben wir keine Polizei, der zu trauen ist. Das sieht man etwa daran, wer hier im Gefängnis sitzt: Es sind so viele unschuldige Menschen im Gefängnis, und viele Kriminelle laufen überall frei herum. Zum Beispiel wurde für die über 700 Toten in der Protestbewegung niemand zur Rechenschaft gezogen. Auch jetzt passieren Morde jeden Tag, aber niemand verhaftet die Mörder. Und wenn jemand doch verhaftet wird, der eine wichtige Position hat oder Verbindungen, wird er kurze Zeit später wieder freigelassen. Aber nicht wegen des Gesetzes, sondern wegen der Clans. Weil der Richter sagen wird, ihr müsst es zwischen euch regeln, zwischen den Clans, ich will keinen Ärger haben mit euch. Also ist das Gesetz immer nur etwas Geschriebenes. Es ist nicht real. Es ist nur ein Traum, den wir uns wünschen. Wenn das Gesetz im Irak eingehalten würde, wäre das vielleicht ebenfalls nicht vollkommen, es wäre keine echte Freiheit. Aber wir würden frei genug sein, um uns auszudrücken, Aktivist*innen zu sein, ohne getötet zu werden, als Menschen leben, ohne Angst vor Einschränkungen und Verfolgung zu haben.
Und was ist mit der Gemeinschaft? Was sind die Grenzen der Gemeinschaft und der Familie? Ich meine, insbesondere für Mädchen* und Frauen* sind sie auch etwas, bei dem du nicht sicher sein kannst, ob sie dich einschränkt oder nicht. Kannst du das ein wenig erklären?
Ja. Letztlich ist es im Irak für Frauen* wie in einem Gefängnis. Wie ich vorher sagte, dreht sich bei den Clans alles um Religion. Religion meint damit nicht eine reale Religion. Es ist die falsche Religion des religiösen Mannes in den letzten hundert Jahren. Sie ist auf Frauen* fixiert, auf ihre Unterdrückung. Wenn eine Frau* von einer Person aus einem (anderen) Clan vergewaltigt wird, wird sie getötet. Weil sie damit einen schlechten Ruf für ihre Familie bringt. Der Mann, der sie vergewaltigt hat, bleibt frei, er muss nur Geld bezahlen. Es ist schwer, eine Frau* in der irakischen Gemeinschaft zu sein. Ja, gut, ich spreche nicht über den gesamten Irak. Es gibt Familien, die mit Frauen* anders umgehen, in denen Frauen* sicher sind. Aber ein Großteil ist wie meine Familie.
Wenn wir über die Probleme eines instabilen Staates sprechen, dann geht es also um einen Staat, der Schwierigkeiten hat, Gesetze durchzusetzen, und eine Polizei, die Kriminelle nicht verfolgt; und auch um die Probleme in der Gemeinschaft und die Clans sowie natürlich um Religion, was im Irak ein großes Thema ist, und um den Sektarianismus. Kannst du mehr über die Bewegung im Jahr 2019 erzählen? Also die Tishreen-Bewegung, die sich selbst „Oktoberrevolution“ nannte und hauptsächlich für die Abschaffung des konfessionalistischen Systems im Irak und für einen Ort der Verbundenheit und Solidarität trotz enthno-religiösen Unterscheiden kämpfte. Wie hast du diese Zeit in Bezug auf Freiheit erlebt?
Ich war damals 19, also eine junge Frau*. Als ich das erste Mal hinging, da merkte ich: Nicht nur ich, fast alle jungen Leute waren da. Wir haben uns auf dem Tahrir-Platz frei gefühlt. Weil wir unser ganzes Leben lang im Gefängnis waren, unter den Regeln der Gemeinschaft und unserer Familien, wo du dem System nicht widersprechen kannst. Du kannst nicht Nein zur Regierung sagen. Du musst gehorchen und schweigen. Die Älteren sagen: Du darfst dich über nichts beschweren, es ist besser als zu Zeiten von Saddam Hussein. Du hast Saddam Hussein nie gesehen. Also gut, ja. Und dennoch wird deine Antwort an sie sein: Aber nur weil ihr zu Zeiten von Saddam Hussein gelebt habt und ihr unter ihm gelitten habt, bedeutet das nicht, dass wir so leben müssen wie ihr. Und ihr müsstet auch für uns kämpfen! Und es wurde gekämpft – aber gegen uns. Sie haben uns bekämpft, weil wir für ein Heimatland und ein Ende dieser beschissenen Regierung gekämpft haben. Sie haben uns auf dem Tahrir-Platz umgebracht – mit Tränengas, mit Snipern, mit scharfer Munition. Es wurde mit der Zeit immer schwieriger dort, sie haben versucht, Leute zu entführen und zu bedrohen. Sie haben viele Menschen getötet. Dabei haben wir lediglich Grundbedürfnisse und Grundrechte eingefordert und ein Leben, wie es überall auf der Welt ist oder sein soll.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel Arbeitsplätze, Energie, sauberes Wasser. Es ist verrückt. Wir hatten kein Recht auf irgendetwas davon. Das, was auf dem Tahrir-Platz passiert ist, ist etwas, das wir nicht erklären können. Das passierte spontan, ohne dass uns jemand dazu aufrief, dass wir auf die Straße gehen sollen. Wir hatten nur dieses Gefühl als junge Menschen, als Iraker*innen, dass wir einfach hinausgehen müssen. Wir hatten alle genug. Und als wir sahen, wie viele am 1. Oktober 2019 auf die Strasse gingen, haben wir angefangen zu mobilisieren. Und bis zum 25. Oktober 2019 ist die Masse zu einer breiten Bewegung angewachsen und wir haben angefangen, Plätze zu besetzen und uns eine Welt nach unseren Vorstellungen aufzubauen. Auf dem Tahrir-Platz haben wir zum ersten Mal in unserem Leben Freiheit gespürt. Warum? Weil wir alle die gleichen Ideen hatten, was wir ändern wollen. Zum ersten Mal in unserem Leben haben wir miteinander gesprochen. Wir waren diese eine große Stimme gegen die Militärs, die Riot Police und die Leute mit Waffen. Sie haben versucht, uns zu töten – aber wir blieben bei dieser einen gemeinsamen Stimme. Ich weiß, es ist nicht gut ausgegangen, aber es hat viel in uns und für die nächste Generation verändert. Es wird vielleicht immer noch das größte Ereignis sein, das im Irak in diesem Jahrhundert passiert ist.
Wie war der Alltag und das politische Geschehen auf dem Tahrir-Platz? Ich meine, für Leute, die es nicht wissen oder nicht gesehen haben: Was war daran so frei?
Der Tahrir-Platz war wie ein kleiner Irak, von dem wir alle geträumt haben. Alles war da: Spitäler, Bibliotheken, Essensstände, Schlafzelte, sogar ein kleines Kino und ein kleiner Strand. Wir haben ihn gemacht, weil es keinen Strand im Irak gibt. So haben wir uns einen am Fluss aufgebaut. Wir haben einfach zusammen Zeit vebracht. Die Gesellschaft hat immer gesagt: Mädchen* und Jungs müssen jeweils für sich sein. Das hast du dein ganzes Leben lang gehört. Du kannst nicht zusammen sein, es sei denn, du bist verheiratet. Weil die Gesellschaft denkt, dass Frauen* und Männer nur für sexuelle Dinge zusammen sein können. Aber das stimmt nicht: Wir waren da wie Bruder und Schwester, wie eine große Familie. Wir haben geredet, getanzt, gelacht, füreinander gekocht und zusammen gespielt: Fußball, Volleyball, Basketball… Es war der Irak, von dem jeder geträumt hat, vor allem unsere Generation, die in Kriegen geboren wurde. Kriege und wieder Kriege, im eigenen Land, nur das kennen wir. Wir sind nicht einmal in einen Park gegangen, als wir jung waren, weil es zu gefährlich war, von zu Hause wegzugehen. Der Tahrir-Platz war der Ort, an dem wir wir selbst sein konnten, ohne dass uns jemand beurteilt oder sagt, dass es verboten ist. Also das war für uns die Freiheit. Man selbst zu sein und seine Meinung zu äußern, ohne getötet zu werden. Aber sobald wir den Tahrir-Platz verlassen haben, wurden wir bedroht, entführt und du weißt, was passiert ist. Es war das sicherste Gebiet im Irak, der Tahrir-Platz damals.
Ich habe den Eindruck, wenn du für Freiheit und für einen besseren Irak kämpfst, sind doch Unterschiede sichtbar, oder? Denn da kämpfen die Jungs direkt gegen den Staat, weil sie das Patriarchat auf ihrer Seite haben. Aber die Mädchen* müssen zuerst gegen die Väter oder die Familien kämpfen und dann gegen den Staat. Kannst du beschreiben, wie das für dich als Frau* war, für die Freiheit auf dem Platz zu kämpfen?
Wenn du die Fotos ansiehst, verdecken darauf fast alle Mädchen*, die zum Tahrir-Platz gegangen sind, immer ihre Gesichter. Weil ihre Familien nicht wussten, dass sie dort waren. Aber wir sind trotzdem hingegangen, weil wir das Gefühl hatten, dass dies auch unser Zuhause ist. Eine Frau* zu sein bedeutet nicht, dass du nur eine Gebärmaschine bist oder nur die Köchin im Haus eines Fremden und eine Dienstmagd für jemanden. Nein, eine Frau* zu sein bedeutet du selbst zu sein. Du hast eine Stimme, du hast eine Meinung. Du hast deine eigene Persönlichkeit, deine eigenen freien Gedanken. Also sind wir rausgegangen. Das war der erste Protest seit 2003 im Irak, bei dem Frauen* mit Männern zusammen waren, und das war großartig. Alle waren stolz auf uns. Und wir haben die Jungs oft geschützt – auch vor sich selbst –, weil sie viele dumme Dinge gemacht haben, ehrlich gesagt. Manchmal mussten wir sie davon abhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben. Das war schwer für sie, weil sie sich beweisen wollten. Aber wir haben sie damit letztlich geschützt.
Und wie war es mit deiner Familie? Haben sie akzeptiert, dass du hingehst, oder wie haben die Familien anderer Mädchen* reagiert, auch nach den Protesten?
Leider habe ich keinen Kontakt mehr zu den anderen vom Tahrir-Platz, insbesondere zu den Frauen*, weil ihre Familien sie danach eingesperrt oder sonst abgeschottet haben. Einige Frauen* sind auch verschwunden. Wir wissen nicht, wohin. Es ist also sehr gefährlich, als Frau* in dieser politischen und religiösen Gesellschaft deine Stimme zu erheben oder frei zu sein. Und wenn du stark und unabhängig sein willst, wird es noch viel schwieriger. Ich habe angefangen, mich als Mann auszugeben, wenn ich aus dem Haus geschlichen bin. Ich bin über lange Zeit immer heimlich, ohne das Wissen meines Vaters, hinausgegangen. Ich zog mich wie ein Mann an und bewegte mich auch so. Das war der einzige Weg, wie ich mir bisschen mehr Unabhängigkeit erkämpfen konnte. Es hängt also davon ab, wie du als Frau* in dieser Gemeinschaft sein möchtest. Es wird unterschiedlich schwer für dich sein. Und es hängt auch von der Familie ab, ob sie dich verstehen oder nicht. In meinem Fall war es nicht so. Ich bin jeden Tag heimlich zu den Protesten gegangen, ohne dass sie es wussten, und bin, ohne dass sie es wussten, zurückgekommen. Das waren die besten Tage meines Lebens. Es waren die Tage, an denen ich entschieden habe, wer ich bin und wer ich sein möchte. Und ich bin daran gewachsen, ich war 19 Jahre alt – und plötzlich war ich 31. Oder 40, ich weiß es nicht (lacht etwas). Was ich damit meinte: es hat mich sehr verändert. Und auch viele andere Menschen.
Ist die Freiheit für dich ein kollektives oder ein individuelles Konzept?
Es ist beides, eigentlich. Freiheit hat viele Bedeutungen. Es geht nicht nur um Rechte und die Regierung und Politiker und Religion. Oft musst du mit anderen Menschen gemeinsam kämpfen. Für etwas, das für uns alle wichtig ist, wie eine Perspektive in unserem Land oder für unsere Rechte. Du kannst nicht alleine gegen eine ganze Regierung kämpfen. Und du kannst auch nicht alleine gegen die ganze Armee kämpfen. Du brauchst Leute an deiner Seite, eine gemeinsame Stimme, eine gemeinsame Kraft oder Organisation. Das ist eine Form von Freiheitskampf. Gleichzeitig musst du aber für deine eigene Freiheit kämpfen, für dich selbst – wie du sein möchtest, was du tun möchtest, was Freiheit für dich selbst bedeutet. Für deine Träume, für deine Zukunft. Ich habe mich zum Beispiel entschieden, Soziologie zu studieren, für meine Rechte zu kämpfen, zu dieser Revolution zu gehen, mich gegen meine Familie aufzulehnen – all das waren Entscheidungen, die ich getroffen habe. Ich habe mein ganzes Leben lang für kleine und große Dinge gekämpft. Ich denke, das macht Freiheit aus: Dass du dafür kämpfst. Freiheit bedeutet auch all diese kleinen Entscheidungen im Leben, die so einen großen Unterschied machen können. Manchmal ist Freiheit nicht nur das, was du dir vorstellst, sondern das, was du leben musst, um es zu sein. Es ist also nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint.
Das ist sehr interessant. Ja, meinst du, manchmal bedeutet Freiheit auch, mutig zu sein und etwas auszuprobieren?
Genau, das meine ich. Denn du kannst nicht herausfinden, wer du bist oder wer du sein möchtest, bis du es ausprobiert hast. Also musst du mutig genug sein, es zu versuchen. Warum gibt es so viele Menschen, die sich verlieren? Manchmal haben Menschen so viel Freiheit, aber sie sitzen einfach da und wissen nicht, was sie mit damit anfangen sollen. Ich meine, das ist dann nicht die wirkliche Freiheit. Sie tun nichts für sich selbst oder für andere Menschen. Ein wichtiger Teil der Freiheit hat damit zu tun, auch für andere Menschen zu kämpfen. Wenn du die Freiheit wie auf einem Silbertablett serviert bekommst, wirst du vielleicht denken: Naja, was soll ich jetzt damit machen…
Wie wäre es damit: Gib‘ mir mehr davon?
Ja, aber wenn du dafür kämpfst, wirst du das Gefühl haben, dass es etwas Wertvolles ist. Etwas, das du festhalten und schützen musst. Du musst vorsichtig sein, jeden Schritt, den du gehst, zu überdenken, damit du es nicht verlierst. Für Menschen wie mich, die zuvor keine Freiheit hatten und sie jetzt erleben, ist es wichtig, die Zeit nicht zu verschwenden. Vor allem, wenn du jung bist. Naja, also, Menschen sagen, ich bin jung. Innerlich fühle ich mich vielleicht nicht so, aber ich scheine jung zu sein (lacht). Freiheit bedeutet, Menschen zu helfen, der Umwelt zu helfen, stolz auf dich selbst zu sein und auf gewisse Weise stolz auf das, was du tust. Es gibt viele Arten, wie Freiheit definiert werden kann, aber für mich bedeutet es, eine gute Person zu sein. Jeder sollte deine Stimme hören können. Im Irak konnte niemand deine Stimme hören, du fühltest dich wie ein Geist. Aber jetzt bin ich kein Geist mehr. Ich bin ein echter Mensch, und ich werde mein Bestes tun, um in meinem Leben vielen Menschen zu helfen. Das ist für mich Freiheit, manchmal.
Das bringt mich zu der Frage, wie du die Freiheit in Europa erlebst. Du hast gesagt, zum ersten Mal in deinem Leben erlebst du mehr Freiheit. Aber Freiheit wird hier auch als Produkt verkauft. Man könnte sogar sagen, es ist eine neoliberale Interpretation von Freiheit, dass man alles, was als Freiheit bezeichnet wird, verkaufen oder als gut darstellen kann. Wie siehst du das?
Es gibt viel Propaganda, die den Namen der Freiheit verwendet, um viele Dinge zu verkaufen, das stimmt. Viele Politiker verwenden den Begriff Freiheit, um Versprechen abzugeben, aber dahinter steht nichts. Das passiert nicht nur in Europa, sondern in vielen Ländern. Ich bin gerade erst hier angekommen, also kenne ich Deutschland mit all seinen Funktionsweisen noch nicht so gut. Aber soweit ich das bisher verstanden habe, gibt es hier Respekt: Selbst wenn du im Unrecht bist, wird dir zugehört. Ich fühle mich auf den Straßen hier sicher, auch als Teil der LGBTQ-Gemeinschaft hat mir bisher niemand geschadet. Die Freiheit in Europa hat auch eine andere Seite im Vergleich zum Irak. Dort kämpften wir für kleine Freiheiten, die ja letztlich grundlegende Rechte sind. Ich war überrascht, hierher zu kommen und zu sehen, dass so vieles, wofür ich gekämpft habe, an anderen Orten bereits existiert: Jetzt habe ich den Raum, all das zu tun, was ich möchte, ohne dass mir jemand sagt, dass es falsch oder verboten ist. Ohne dass mich meine Familie für Tage oder Wochen einsperrt, um zu verhindern, dass meine Träume wahr werden. Für mich bedeutet Freiheit, eine Träumer*in zu sein oder meine Träume zu leben, seien sie auch noch so klein. Und mutig zu sein, auch die kommenden Kämpfe aufzunehmen. Es macht dich nur stärker, um weiter zu kämpfen und nach mehr zu fragen. Dafür sollte man sich nicht schämen: Wir wollen immer mehr Freiheit und bessere Bedingungen.
**
Das Interview führte Maja Tschumi für kritisch-lesen.de.
Übersetzung und Redaktion von Johanna Bröse und Theresa Hanske.
**
Milo und ihre Partnerin Avin haben vor kurzen ein Asylverfahren in Deutschland begonnen. Um die beiden bei den anwaltlichen Kosten zu unterstützen, haben Freund*innen eine GoFundMe-Kampagne gestartet. Jede Unterstützung ist willkommen: Spendenkampagne für die Anwaltskosten für Milo und Avin