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„Es gibt keinen Grund, die NATO nicht zu verurteilen“

„Es gibt keinen Grund, die NATO nicht zu verurteilen“
Interviewpartner_innen
Interview mit Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Bei aller notwendigen Kritik an Russlands Angriff auf die Ukraine, gerät eines aus dem Blick: die entschiedene Kritik an gesellschaftlicher Militarisierung, der Hochrüstung westlicher Armeen und an ideologischer Kriegsführung.

Danke für deine Gesprächsbereitschaft! Kannst du uns zu Beginn einige zentrale Entwicklungen und Zielsetzungen der jüngeren Geschichte der NATO skizzieren?

Jürgen Wagner Die NATO ist ja schon relativ alt, sie wurde 1949 gegründet. Doch mit Blick auf die jüngere Geschichte gab es Anfang der 90er Jahre eine Art Such- und Findungsphase. Wie sollte es nach dem Ende des „Kalten Krieges“ weitergehen? Als Antwort darauf hat man – ob ein bisschen aus der Not geboren oder die Gelegenheit nutzend, da kann man sich jetzt streiten – Interventionskonzepte gegen kleine und mittlere Staaten im globalen Süden aus dem Hut gezaubert. Es ermöglichte die Existenzberechtigung der NATO weiter, gab zudem den Profitinteressen der Rüstungsindustrie Raum – und verschaffte gleichzeitig auch einem neoliberalen expandierenden Kapitalismus eine militärische Absicherung. Darin fand die NATO erstmal ihre Hauptaufgabe.

Und trotzdem blieb Russland als altes Feindbild der NATO relevant, oder?

Jürgen Wagner Ja, natürlich. Das zeigen zum Beispiel die unter Bruch ursprünglicher Versprechen vorgenommenen NATO-Ost-Erweiterungen: 1999 die erste, 2004 die zweite. Sie wurden von russischer Seite als durchaus bedrohlich wahrgenommen. Schließlich führte dies ab 2014 in den Auseinandersetzungen um die Ukraine zu einer Neuaufstellung der NATO, einer Rückbesinnung auf militärische Auseinandersetzungen gegen technologisch gleichwertige Gegner. Dann ging es also wieder um die Option, einen Krieg gegen Russland führen und gewinnen zu können. Gleichzeitig wurde aber der Interventionsanspruch der NATO im globalen Süden nicht aufgegeben. Seither fährt man doppelgleisig. 2016 kam es dann zur Aufstellung von vier NATO-Bataillonen in Osteuropa. Das war ein wichtiger Einschnitt im Verhältnis der beiden Akteure, weil damit die NATO-Russland-Akte gebrochen wurde: Das einzige Versprechen, das Russland im Gegenzug zur NATO-Osterweiterung vom Westen erhalten hatte – nämlich, dass keine NATO-Truppen dauerhaft in Osteuropa stationiert würden. Das ist seither passé. Im Hintergrund hat das ganz wesentlich zum Ukraine-Krieg und der Eskalation beigetragen. Hinzu kamen die US-amerikanischen Pläne, Kurz- und Mittelstreckenraketen in Osteuropa stationieren zu wollen.

Diese Entwicklungen haben und hatten massive Aufrüstungen zur Folge. Welche Faktoren spielen hier eine Rolle?

Jürgen Wagner Diese Frage ist zunächst auf nationaler Ebene zu beantworten. Denn die genannten Entwicklungen wirkten sich auch auf die gesamte Struktur der Bundeswehr aus. 2015 gab die NATO neue Zielvorgaben an die Mitgliedsstaaten heraus. Bis dahin wurde tatsächlich mehr oder minder alles abgewickelt, was man heute als einen schweren Großverband bezeichnet, also eine schwere Division. Das heißt Einheiten, die nicht mehr primär gegen Gegner im Globalen Süden „geeignet“ sind, sondern gegen hoch technologisierte Feinde – und dafür vor allem wieder auf Panzerverbände und dergleichen zurückgreifen. 2016 hat dann Deutschland gegenüber der NATO signalisiert, alle Wunschlisten, die aus dem NATO-Hauptquartier in Brüssel kamen, erfüllen zu wollen. Das mündete 2018 in einem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr, in dem anvisiert wurde, 2023 das erste Mal eine Brigade (5.000 Soldat*innen) und bis 2032 drei schwere große Verbände (drei Divisionen) in die NATO einspeisen zu wollen. Das sind jeweils zwischen 15.000 und 20.000 vollausgestattete Soldat*innen. Das ist das, was gerade unter dem Begriff „Kaltstartfähigkeit“ diskutiert wird. Die Bundeswehr muss im Augenblick tatsächlich, wenn sie einen Kriegseinsatz beginnen will, die betreffenden Einheiten aus allen möglichen anderen Truppenteilen zusammenklauben, um in der Form, wie sie meint agieren zu wollen, einsatzfähig zu sein. Das von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte „Sondervermögen“ ist daher durchaus dienlich, um diese relativ starke Neuaufstellung Richtung Großmachtkonkurrenz militärisch und machtpolitisch unterfüttern zu können. Mit dieser Neuaufstellung landet Deutschland weltweit auf dem dritten beziehungsweise vierten Platz für Rüstungsausgaben. Damit lassen sich die artikulierten Weltmachtansprüche auch militärisch unterlegen. Diese Entwicklungen sind schon spätestens seit 2014 zu beobachten, obwohl man derzeit offiziell vorgibt, alles ausschließlich wegen des Konflikts in der Ukraine zu tun.

Was beinhaltet die bundesdeutsche Aufrüstungspolitik noch, neben dem genannten Sondervermögen?

Jürgen Wagner Die 100 Milliarden „Sondervermögen“ sind die eine Sache. Diesen Begriff sollte man im Übrigen sowieso vermeiden: Es sind ja Schulden! Ab 2031 müssen sie aus dem normalen Bundeshaushalt getilgt werden und stehen damit nicht für andere Haushaltsausgaben zur Verfügung. Olaf Scholz hat in seiner „Zeitenwende“-Rede vom 27. Februar und auch im Nachgang noch weitere Punkte hineingewoben. Der erste betrifft die Tornado-Nachfolge (bisherige Kampfjets der Bundeswehr, Anm. Red.) und damit die Beibehaltung der nuklearen Teilhabe. In Deutschland lagern US-Atomwaffen, im Fliegerhorst Büchel. Im Ernstfall, nach einer Entscheidung der USA, sollen diese von deutschen Pilot*innen mit neuen F35-Kampfflugzeugen ins Ziel geflogen werden. Dazu parallel wurde auch eine Debatte um eine deutsche oder europäische Atombewaffnung angestoßen, meines Erachtens sogar relativ weitgehend. Der zweite Punkt ist, dass die Bundesregierung festgelegt hat, dass es bei den Plänen für eine massive Erhöhung der Bundeswehr um insgesamt 20.000 Soldat*innen bleiben soll. Und zwar deshalb, weil die ursprünglichen Pläne der Bereitstellung schwerer Divisionen für die NATO von 2027 nun beim NATO-Gipfel Ende Juni auf das Jahr 2024 vorgezogen wurden. Soviel Soldat*innen hat die Bundeswehr gar nicht; nach allem, was man gerade aus den Militärkreisen hört, schaffen sie es gerade, ihre 180.000 aufzufüllen. Das dritte Ziel besteht in der Bewaffnung der Drohnen, die jetzt über das sogenannte „Sondervermögen“ auch tatsächlich bezahlt wird.

Du hast die NATO-Konferenz in Madrid angesprochen. Da gab es ja einigen Wirbel darum, auch wenn die Proteste gegen den Gipfel weitgehend verboten wurden. Was wird denn derzeit auf internationaler Ebene verhandelt?

Jürgen Wagner Generell spielt Deutschland bei den aktuellen Rüstungsanstrengungen der NATO eine absolute Führungsrolle. Nachdem die NATO im Zuge ihres Gipfeltreffens den massiven Ausbau ihrer Schnellen Eingreiftruppe (NATO Response Force, NRF) von 40.000 auf 300.000 Soldat*innen bekanntgab, hieß es kurz danach, Deutschland werde hierfür 15.000 Soldat*innen, 65 Kampfjets und Transportflieger sowie 20 Kriegsschiffe beisteuern. Auch die von Deutschland geführte NATO-Präsenz in Litauen soll zumindest von ihrer Führungsfähigkeit von Bataillons- auf Brigadestärke ausgebaut werden. Insgesamt ist auf internationaler Ebene die Frage wichtig, wie arbeitsteilig sich USA und Deutschland respektive die EU insgesamt geben werden. Vor einer Weile hätte ich beispielsweise noch gesagt, dass die Europäer garantiert bei der militärischen Eindämmung im Indopazifik gegen China mitmischen und dort eine größere Rolle spielen wollen. Da hat auch alles darauf hingedeutet, etwa diese Fregatte Bayern, die dann in den Pazifik geschippert ist. Im letzten Jahr gab es zwei wichtige EU-Strategien, die beide von einer deutlich erhöhten Militärpräsenz ausgegangen sind. Zeitgleich haben die USA mit ihrem AUKUS-Bündnis (trilaterales Militärbündnis von USA, Australien und Vereinigtem Königreich, Anm. Red.), das ja explizit kein einziges EU-Mitglied umfasst, ziemlich klar signalisiert, dass sie keine europäische Beteiligung in diesem Gebiet vorsehen. Ich kann mir vorstellen, dass die EU-Pläne sich mit der neuen Konstellation und dem Angriff Russlands auf die Ukraine durchaus ein bisschen erledigt haben.

Wie analysierst du diese Verschiebungen auf globaler Ebene?

Jürgen Wagner Die Frage ist doch: Konzentriert sich die EU hauptsächlich auf Russland und ermöglicht sie damit auch ein Stück weit den USA, die Eindämmung der geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen Chinas zu übernehmen, die inzwischen im beiderseitigen Interesse ist? Das Absurde dabei ist, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu China, die auch für die deutsche Industrie alles andere als irrelevant sind – genauso wenig wie es zuvor die Beziehungen zu Russland waren –, offensichtlich zu Konflikten (oder Profiten) zweiter Ordnung werden: Man meint, sich übergeordnet in einer Systemkonkurrenz mit diesen Akteuren zu befinden. Das zeigt sich deutlich, wenn man zum Beispiel die Positionspapiere des BDI zu China liest. Da tauchen, im Gegensatz zu grünen Stellungnahmen, Begriffe der politischen Gestaltung, wie beispielsweise Demokratie, gar nicht auf. Es geht ausschließlich um unterschiedliche Auffassungen davon, wie Märkte und wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen konzipiert sein sollen. Derzeit zeigt sich nach meiner Auffassung deutlich, wie geopolitische Konflikte auf eine Systemkonkurrenz runtergebrochen werden. Auf der einen Seite gibt es mit der EU und der NATO einen stark neoliberalen, finanzkapitalistischen Block und auf der anderen einen, mir auch nicht gerade sympathischen, staatskapitalistisch organisierten Block, der ganz anders wirtschaftet. Deshalb sind auch Konflikte zwischen westlichen Akteur*innen, etwa zwischen Deutschland und den USA, eher nachrangig. Wenn man sich in Bezug auf die Ukraine die teils heftigen Auseinandersetzungen um die Nachfolge des pro-russischen Machthabers Wiktor Janukowytsch (bis zur Absetzung im Februar 2014, Anm. Red.) in Erinnerung ruft, war zunächst unklar, ob es einen pro-amerikanischen oder einen pro-deutschen Nachfolger geben sollte. Einigkeit bestand aber immer darin, den russischen Einfluss zu verhindern. Ich habe den Eindruck, das ist auch der Modus, den man gerade hat. Man streitet hart, aber nur bis zu einem gewissen Grad, weil das übergeordnete Ganze dann doch die Reihen schließt.

Wie unerschütterlich ist dieses Paradigma?

Jürgen Wagner An der Wahl Donald Trumps konnte man deutlich sehen, wie das veränderte sicherheitspolitische Konzept der USA bei bestimmten Akteuren für viel Unruhe gesorgt hat. Die republikanische Politik unter Trump führte in weiten Teilen der EU zu der Sorge, dass sich außenpolitisch eine stark protektionistische Linie verfestigt. Eine Linie, nach der womöglich die USA nicht mehr Garant eines ultraimperialistischen Neoliberalismus sein würden. Mit Biden hat man es mit Mühe und Not geschafft, wieder ins alte Fahrwasser zu kommen. Wenn man sich nun EU-Dokumente oder die deutschen Rüstungspapiere anschaut, dann ist klar, dass bis 2032 noch alles im Rahmen der NATO abläuft. Allein schon aus Mangel an Alternativen. Wenn man sich aber die wesentlichen EU-Papiere über diesen Zeitrahmen hinaus anschaut, sieht man, wie gerade die ersten NATO-unabhängigen Strukturen aufgebaut werden. Kurz bis mittelfristig (ca. bis 2035) liegt hier der Fokus auf dem Aufbau von Führungsstrukturen und Fähigkeiten zur Durchführung von NATO-unabhängigen Interventionen kleiner und mittlerer Intensität – Beispiele sind hier etwa der Aufbau einer neuen Schnelleingreifkapazität mit 5.0000 Soldat*innen sowie ein dazu gehöriges EU-Hauptquartier (Militärische Planungs- und Führungsfähigkeit genannt). Längerfristig ist die EU aber derzeit bemüht, auch Kapazitäten für hochintensive Gefechte aufzubauen. Das passiert, um eine Option zu haben, sich im Zweifel von der NATO und damit vom Veto der USA verabschieden zu können. Ich glaube zwar nicht, dass eine Militärstrategie unabhängig von den USA die präferierte Lösung der EU wäre, aber man möchte sich die Option freihalten, falls sich die Beziehungen zu den USA dauerhaft verschlechtern. Konkret ist das an zwei Großprojekten, dem Kampfpanzersystem MGCS und dem Flugkampfsystem FCAS zu beobachten. Deren Entwicklungskosten betragen geschätzt je 100 Milliarden Euro, mit einem Auslieferungszeitraum irgendwann Ende der nächsten 15 bis 20 Jahre. Es wäre viel billiger, Systeme von Rüstungsindustrien in den USA zu kaufen. Aber man macht es nicht; auch, um die Option zu haben, zur Not auch in den ganz großen Preisklassen ohne die USA europäische Interessen militärisch durchzusetzen.

Wir haben in der Redaktion über die Frage nachgedacht, was die NATO ausmacht; da hast du ja nun auch schon einiges dazu gesagt. Aber welche Strategie verfolgt die NATO in ihrer Selbstdarstellung nach außen?

Jürgen Wagner Was die Selbsterzählung angeht, ist das Erste, was die NATO gerne hätte: sich als „erfolgreichste Friedensbewegung der Geschichte“ zu etablieren. Das hat im Übrigen der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen selbst so formuliert. Als hätte die NATO den Kalten Krieg beendet, sozusagen allein durch ihre Existenz. Nach diesem Selbstbild ist die NATO seither ein Bündnis mit dem Ziel, Völkermorde und andere Verbrechen auf der ganzen Welt zu verhindern. Diese Erzählung verschleiert aber, dass die NATO natürlich ein Instrument zur Umsetzung der Interessen der Mitgliedstaaten ist. Auch wenn diese Interessen durchaus unterschiedlich sein können. Insgesamt ist mein Eindruck, dass die NATO sich, zumindest bis zum Ukraine-Krieg, bemüht hat, gar nicht so profiliert in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das gilt insbesondere im bundesdeutschen Kontext. Das hängt vermutlich mit dem gesellschaftlichen Stellenwert zusammen: Das Militär könne schon irgendwie da sein, aber sehen müsse man es nicht unbedingt. In diesem Bewusstsein wurde lange Zeit wenig PR für die NATO gemacht; ähnliches gilt auch für die Bundeswehr. Erst seit etwa 2014 gibt es einen deutlicheren Schwenk. Seitdem betreibt Deutschland immer offensiver militärische Machtpolitik. Damit wird natürlich auch die Frage des Militärs in der deutschen Öffentlichkeit relevanter. Das scheint mir aber derzeit eher auf die Legitimation der Bundeswehr abzuzielen als auf die NATO als Gesamtorganisation, letztere läuft im öffentlichen Diskurs einfach mit. Das mag sich aber nun im Zuge des Ukraine-Krieges und der noch einmal massiv verschärften NATO-Aufrüstung durchaus ändern.

Gibt es Beispiele von Ländern, in denen die Diskussion andersherum läuft, wo es also einen stärkeren Fokus auf die NATO und weniger auf das nationale Militär gibt?

Jürgen Wagner Wäre man zynisch, könnte man Finnland und Schweden als Beispiel nennen. Dort wandelt sich die Debatte zurzeit stark und rückt die NATO in den Fokus. Auch Großbritannien, obgleich es als ehemalige Kolonialmacht in Ostasien ein stückweit immer auf eigene Rechnung unterwegs war. In Großbritannien gab es immer einen starken NATO-Fokus sowie eine transatlantische Bindung an die USA – im Gegensatz zu Frankreich etwa. Dort gibt es traditionell die Tendenz, sich möglichst weit von USA und NATO abzukapseln, um souveräne Militär- und Machtpolitik betreiben zu können. Allerdings hat sich diese Situation aus meiner Sicht mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU verändert. Ein EU-Block, gegebenenfalls unter deutsch-französischer Führung, kann nun etwas zielstrebiger auf eine Autonomie von der NATO hinarbeiten, was über viele Jahre durch Großbritannien blockiert worden ist. Deshalb gab es in gewissen sicherheitspolitischen Kreisen auch positive Reaktion auf den EU-Austritt Großbritanniens. Nun schwingt das Pendel stärker hin zu einer Stärkung der EU, die durchaus gewillt ist, in und mit der NATO zusammenzuarbeiten, aber als eigenständiger Machtfaktor auch den USA zeigen können möchte, das sie bei künftigen Interessenskonflikten mehr auf Augenhöhe operieren will.

Die Türkei ist nicht EU-Mitglied, ist aber von zentraler strategischer Bedeutung für die NATO und die EU. Zudem verfügt die türkische Armee allein zahlenmäßig über eine ernstzunehmende militärische Größe. Wie schätzt du die aktuelle Rolle der Türkei innerhalb der NATO ein?

Jürgen Wagner Die Türkei ist aus mehreren Gründen ein wichtiger Machtfaktor in der NATO. Das eine ist schlicht und ergreifend die geographische Lage. Das zweite ist die nicht nur umfangreiche, sondern, zynisch gesagt, auch kampferprobte Armee, die sich in den Konflikten mit den Kurden herausgebildet hat. Und das dritte ist die eigenständige und ziemlich rabiate Machtpolitik der Türkei, die nicht in allen Fällen im Interesse der anderen NATO-Staaten ist. Das sieht man ja gerade immer wieder. Dann kauft die Türkei von den Russen plötzlich Abwehrsysteme und plötzlich merkt Washington, dass es gar nicht funktioniert, ihnen zu sagen: Macht das nicht. Dasselbe galt für die Auseinandersetzungen um die türkische Blockade der Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO. Das „Interessante“ an der Türkei ist, dass aus geostrategischen Gründen niemand in der NATO ernsthaft darüber nachdenkt, die Türkei auszuschließen – selbst, wenn es hierzu die Möglichkeit gäbe. Das ist in etwa vergleichbar mit der Situation in der EU, wenn wir uns an die politischen Strategien Polens oder Ungarns erinnern. Auch sie können trotz allem nicht aus der EU ausgeschlossen werden. Ähnlich verhält es sich mit der NATO-Mitgliedschaft der Türkei. Das weiß auch die politische Führung dort. Deshalb hat die Türkei eine relativ starke Position. Das hat sich ja nun auch gezeigt, als für die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens und Finnland recht weitreichende Zugeständnisse herausgeschlagen wurden.

Mit Blick auf die Levante und den Mittleren Osten, wie schätzt du die Situation in diesem Kontext ein? Wie werden hier diese neuen Konstellationen und Kräfteverschiebungen wahrgenommen?

Jürgen Wagner Insgesamt hat sich die Relevanz einer starken NATO-Präsenz im Nahen und Mittleren Osten ein bisschen relativiert, weil schlicht und ergreifend die Ölfrage inzwischen eine andere ist. Die USA sind durch ihr Fracking zu Selbstversorgern geworden. Mehr noch: Sie exportieren inzwischen Gas und haben mittlerweile in Deutschland einen dankbaren Abnehmer gefunden. Durch den Anstieg der Energiepreise gewinnen die USA auch in ökonomischer Hinsicht Gewicht und können so mehr Kontrolle ausüben. Trotzdem ist der Mittlere Osten hier weiterhin relevant, aber längst nicht mehr in der Größenordnung der letzten 20 bis 40 Jahre. Aber die Region bleibt auch mit Blick Richtung Zentralasien aus meiner Sicht wichtig. Auch dort werden sich Auseinandersetzungen und gegebenenfalls Stellvertreterkriege mit Russland abzeichnen. Die Türkei wird in dem Bereich sicher auch im NATO-Rahmen in irgendeiner Weise gebraucht und gewünscht werden, wenn ihre eigenen großosmanischen Ambitionen aus NATO-Sicht noch in einem akzeptablen Rahmen bleiben. Das ist aber letztlich viel Kaffeesatzleserei, das muss man abwarten.

Du hattest die Rede von der „Zeitenwende“ angesprochen. Wie ist diese Rhetorik aus deiner Sicht zu bewerten?

Jürgen Wagner Der Begriff „Zeitenwende“ führt in die Irre, genauso wie die Bezeichnung „Sondervermögen“. Eigentlich wurde mit den ausgelobten 100 Milliarden nur konsequent das zu Ende gedacht, was mit dem Projekt „Neue Macht, Neue Verantwortung“ spätestens seit 2012/2013 vorbereitet wurde: Die Intensivierung der Macht- und Militärpolitik – auf einem deutlich höheren Niveau als bisher. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 wurde dieses Projekt vor allem vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, aber auch von Verteidigungsminister Steinmeier und der Außenministerin von der Leyen angekündigt. Zusammengefasst: Deutschland muss seine Bescheidenheit in Militärfragen ablegen. Man hat es nicht Weltmacht genannt, sondern Gestaltungskraft oder Gestaltungsmacht, aber es ist im Prinzip das Gleiche. Deutsche Machtansprüche benötigten zwingend einen ausgebauten und starken Militärapparat, der gegebenenfalls auch eingesetzt werden soll. Dafür gab es damals nicht genügend finanzielle Mittel, auch wenn ich es für übertrieben halte, zu sagen, die Bundeswehr sei „kaputtgespart“ worden. Das ist albern.

Aber die Frage, ob die Bundeswehr militärisch adäquat ausgestattet ist, hängt natürlich davon ab, was man mit ihr beabsichtigt. Für die Möglichkeit, auch nur in der Nähe der USA oder China mitzuspielen, in so einer Großmacht-Konkurrenz mitzuhalten, ist klar: Das geht nur im EU-Verbund. Und auch damit braucht es mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, um überhaupt auf Augenhöhe in militärstrategischen Fragen mitreden zu können. Über Jahre war das das Gejammer im sicherheitspolitischen Establishment: Man hätte vollmundig irgendwelche Ansprüche formuliert, wäre aber nicht bereit, genügend Geld in die Hand zu nehmen. Wenn man sich die „Grundsatzrede“ von Lars Klingbeil (SPD-Generalsekretär, Anm. Red.) anhört, fällt auf, dass er nun genau diese Ansprüche wieder formuliert. Für einen SPDler spricht er sehr offen über deutsche Führungsansprüche in der Welt und über die notwendige Gewöhnung an das Militär. Er hat nun auch von Seiten der Sozialdemokratie zu Ende geführt, was 2012 begonnen und dann 2014 der Öffentlichkeit verkündet wurde. Man sieht also, wie die Rhetorik der „Zeitenwende“ längerfristige militärische Strategien verschleiert. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise auch erfolgreich, angesichts einer totalen Verunsicherung bis in weite Teile der Linken hinein. Die Bundesregierung agierte hier in einem ziemlichen Tempo und brachte ihr neues Gesetz in wenigen Monaten durch alle Lesungen im Bundestag und durch den Bundesrat. Das ist bemerkenswert – ohne sie loben zu wollen. Die Friedens- und Antikriegsbewegung kam da gar nicht nach.

Wie hat sich das Diskussionsklima durch diese bellizistische Rhetorik in den letzten Monaten geändert? Führt die Situation dazu, dass ihr als IMI e.V. mehr Gegenwind bekommt?

Jürgen Wagner Am besten lassen wir Knaller wie Sascha Lobo oder den Sänger der Toten Hosen oder die Fünfte-Kolonne-Debatte (ein FDP-Politiker nannte die Teilnehmer:innen des Ostermarsches „Fünfte Kolonne Putins“, Anm. Red.) mal beiseite; auch, wenn diese Debatten sicher nicht schön sind und zeigen, dass wir wieder ein raueres Klima haben. Für mich war es aber wirklich schwer zu sehen, wie langjährige Genoss*innen sich plötzlich auf der staatstragenden Demo hinter Waffenlieferungen stellten, anstatt eine Demo zu verlassen, auf der NATO-Flaggen geschwenkt werden. Das war im Falle des Angriffskrieges gegen Jugoslawien 1999 noch anders – oder bei den Terroranschlägen in Washington und New York von 2001. Selbstverständlichkeiten, von denen wir dachten, dass sie bewegungsweit stabil geteilt werden, werden in diesen Krisensituationen plötzlich infrage gestellt. Es erschwert unsere Arbeit natürlich sehr, wenn wir uns auch in den eigenen Reihen jedes Mal neu orientieren müssen. Dann ist es kein Wunder, dass wir gegen die Reaktion auch nichts auf die Pfanne kriegen. Persönlich war es hart für mich, plötzlich von Bekannten für eine Anti-Kriegs-Position beschimpft zu werden, die ursprünglich eine geteilte Überzeugung war.

Welche Selbstverständlichkeiten sind das, die brüchig werden?

Jürgen Wagner Ich glaube, es gibt nach wie vor keinen Grund, die NATO nicht zu verurteilen. Das bedeutet nicht, den russischen Angriffskrieg rechtfertigen zu wollen. In der momentanen Diskussion wird zurecht gefordert, Russland zu kritisieren. Aber über die NATO musst du schweigen. Diese Haltung ist mir in den letzten Monaten oft begegnet. Das ist für mich aber nicht akzeptabel. Da wird der Ton dann tatsächlich etwas rauer. Oder dass man auch in linken Kreisen mit diesen ganz schrägen Putin-Hitler-Analogien kommt. Ich komme aus der Antifa und wehre mich ganz besonders gegen diese Gleichstellung, weil da mitschwingt: Wenn Putin gleich Hitler ist, dann ist auch alles in Ordnung dagegen. Aus meiner Sicht muss es auch in der jetzigen Situation möglich sein, beispielsweise Details von Waffenlieferungen oder den westlichen Imperialismus und seinen Anteil an diesem Krieg zu kritisieren, ohne deshalb den russischen Angriffskrieg zu befürworten. Eine konsequente antimilitaristische Position braucht es, darauf muss man sich jetzt verlassen. Wo das in einigen Kontexten nicht möglich ist, muss man darüber nachdenken, die Zusammenarbeit auszusetzen; zumindest für eine Weile.

Welche Möglichkeiten siehst du derzeit für eine erweiterte antimilitaristische Organisierung?

Jürgen Wagner Eine erweiterte antimilitaristische Organisierung ist im Augenblick kein massentaugliches Konzept (lacht). Meiner Ansicht nach wird es in den nächsten fünf Jahre etwa darum gehen, das Thema Sondervermögen gesamtgesellschaftlich zu beackern und in die Köpfe der Menschen zu kriegen. Es ist auf fünf Jahre beschränkt und diese zwei Prozent (des Bruttoinlandsprodukts, NATO-Ziel für Verteidigungsausgaben, Anm. Red.) stehen im Raum. Nach jetzigen Planungen soll der offizielle Verteidigungshaushalt auf 50 Milliarden eingefroren werden. Und aber je nachdem, wie die Geschäfte laufen, benötigt die Erfüllung der zwei Prozent 75 Milliarden. Nach vier bis fünf Jahren ist das Sondervermögen weg, das diese Differenz abfedern soll. Der Rüstungshaushalt beträgt dann immer noch 50 Milliarden. Was passiert dann? Es ist klar, dass in den nächsten Jahren von reaktionärer Seite der ganze Stimmungsteppich ausgerollt werden wird. Nicht nur für die permanente Aufstockung der Rüstungsausgaben auch nach den fünf Jahren, sondern auch für das Militär insgesamt. Die Werbung dafür wird massiv ausgebaut werden, mit diesen ganzen YouTube Serien und Flecktarnbussen und weiß der Teufel was. Darauf müssen wir uns einstellen und aktiv werden.

Als aktuelle antimilitaristische Organisierung finde ich das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen!“ sehr vielversprechend. Unter anderem, weil man mit Rheinmetall einen Konzern herausgreift, der sozusagen Dreck an allen Enden des Steckens hat. Ich denke da, dass die Friedensbewegung von früher, die es noch gibt – aber leider in bedingt mobilisierungsfähigem Maße – sich dort mit anschließen und unterstützend wirken sollte. Aber das ist jetzt vielleicht auch ein frommer Wunsch.

An welche weiteren Bündnispartner:innen denkst du?

Jürgen Wagner Mit den Umstrukturierungen des Militärs in Deutschland wird sich auch die Militärpräsenz innerhalb der Gesellschaft verändern – und wirft Fragen von Bürgerrechten und Sicherheitsdebatten auf. Es geht also um erweiterte Bündnisse, auch über die antimilitaristische Szene hinaus. Meiner Auffassung nach haben wir es in Deutschland bislang noch mit einem relativ schwachen rüstungsindustriellen Komplex zu tun. Klar, wir haben zum Teil relativ himmelschreiende Drehtür-Effekte, wie ein Florian Hahn, der als Pressesprecher des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann einmal einen Schritt nach rechts macht und dann CSU-Bundestagsabgeordneter wird. Aber diese Lobbyarbeit ist nicht vergleichbar zu den USA, wo die Rüstungslobby und -industrie ganz maßgeblich auch politische Entscheidungen beeinflussen. Ich glaube, dass in Deutschland immer noch ganz stark im Interesse des Gesamtkapitals agiert wird. Das mag sich aber verschieben, wenn wir plötzlich solche irren Summen für Rüstungsausgaben veranschlagen. Hier gäbe es doch Ansatzpunkte, etwa für den Verbraucherschutz oder ähnliche Gruppen: Mal stärker drauf zu schauen, wie die Gelder verwendet werden; Stichwort Verschwendung, das kennt man schon vom Beschaffungsamt der Bundeswehr. Man muss nur etwas aufpassen, dass man hier nicht in eine Falle tappt, sondern sagt: Wir wollen es eigentlich gar nicht, aber das ist doppelt deppert!

Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt, der in den Debatten um die Bilanzen der Remilitarisierung kaum benannt wird. Die klimatischen Auswirkungen einer Verdreifachung der deutschen Rüstungsproduktion sind enorm. Ja, Panzer verbrauchen absurd viel Benzin, aber das ist nicht der Hauptpunkt. Allein die Produktion in der Rüstungsindustrie ist hinsichtlich der dabei entstehenden Emissionen drei- bis viermal klimaschädlicher als der Betrieb. In Bilanzen, wenn sie denn angefertigt werden, wird darüber nicht gesprochen. Das Sondervermögen wird ganz überwiegend in die Rüstungsproduktion fließen. Anlass genug für antimilitaristische Gruppen, verstärkt Bündnisse mit Klima-Aktivist*innen, etwa der „Fridays for Future“-Bewegung aufzubauen. Es stellt sich zudem die Frage, wo welche Einsparungen vorgenommen werden, um die Rüstungsausgaben zu bezahlen. Wo soll das Geld zur Finanzierung herkommen: aus dem sozialen Wohnungsbau, aus Hartz IV? Ich wüsste nicht, wo man hier noch knapsen könnte. Das sind dann wiederum Anknüpfungspunkte für Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände. Ich bin da bei allem etwa skeptisch, aber nicht hoffnungslos. Es gibt jetzt schon einprägsame Bilder und Aktionen, was mit diesen 100 Milliarden alles gemacht werden könnte, im sozialen Bereich, bei der zivilen Konfliktbearbeitung oder für Fragen der Klimakrise. Die Auseinandersetzung mit der Militarisierung wird, soviel ist sicher, eine eminent soziale Frage sein.

Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. mit Sitz in Tübingen.

* Das Gespräch führte Johanna Bröse.
Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Es gibt keinen Grund, die NATO nicht zu verurteilen“. Erschienen in: Mit der NATO zum Frieden?. 64/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1769. Abgerufen am: 19. 04. 2024 10:21.