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Jugoslawien – 30 Jahre später Ausgabe Nr. 59, 13. April 2021

Jugoslawien – 30 Jahre später © СмdяСояd

Der allgemeine Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit Jugoslawiens ist geprägt von Verleugnung, Dämonisierung und Nostalgie. Das Land, das sich im Zweiten Weltkrieg selbst befreite, schlug in der Nachkriegszeit einen eigenen Weg ein: Es gründete die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, ein blockfreies Sozialismusmodell in Abgrenzung zur benachbarten Sowjetunion. Das hoffnungsvolle Projekt sollte jedoch im Zuge des Ostblockzerfalls scheitern. Wie steht es um die politische, ökonomische und gesellschaftliche Situation der Nachfolgestaaten und warum sollten wir uns Jugoslawien für einen Blick in die Zukunft in Erinnerung rufen?

In den 1980er Jahren geriet das Land in eine schwere Wirtschaftskrise, verschuldete sich bei ausländischen Kreditgebern und auch die Solidarität zwischen den Mitgliedern der Arbeiterselbstverwaltung schwand zunehmend. Eine durch den Internationalen Währungsfonds vorangetriebene Austeritätspolitik samt Zwang zur Marktwirtschaft, ungleiche Verteilung von Ressourcen und zunehmende Interessenspolitik der Eliten befördern betriebliche wie nationale Spaltungen, an denen das Sozialismusmodell Jugoslawien schließlich zugrunde ging.

Die staatlichen Abspaltungen von Slowenien, Kroatien und Mazedonien ab 1991 waren der Auftakt für jahrelange Kriegshandlungen mit zahllosen Opfern, vor allem im multi-ethnischen Bosnien und Herzegowina. 1999 endete die Periode der Staatszerfallskriege mit dem NATO-Bombardement von Serbien und dem Kosovo. Zeitgleich erfolgte die aufgezwungene Umgestaltung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fundamente der einzelnen Republiken. Slowenien (2004) und Kroatien (2013) sind heute Teil der EU. Die Lebenssituation in den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens verschlechterte sich unterdessen zunehmend durch die rasende Privatisierung. Hohe Arbeitslosigkeit, Armut und allgemeine Resignation sind nur einige der Folgen. Auch nationalistische Mobilmachung und Antiziganismus steigen an: Während sich die rechtliche und soziale Lage der Romnij:a verschlechtert, nimmt die rassistische Gewalt gegen sie immer weiter zu, auch vonseiten des Staates.

In der Migrationspolitik der EU werden Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Montenegro, das Kosovo (sowie der Nachbar Albanien) ab 2014 sukzessive als „Sichere Herkunftsländer“ geführt: Deportationen und Zwangsausreisen aus EU-Ländern sind seitdem an der Tagesordnung. Der „Westbalkan“ – also die Staaten, die noch nicht von der EU einverleibt wurden – gilt der EU-Elite trotz Sicherheitssiegel als globale Peripherie mit zivilisatorischem Nachholbedarf. Das Macht- und „Arroganzgefälle“ (Tanja Petrović) bewegt sich dabei von Nordwest nach Südost, auch auf dem Gebiet des ehemaligen Staatenbunds selbst. Die Situation der Flüchtenden in den einzelnen Staaten ist äußerst prekär und stark von Willkür, Gewalt und sich immer wieder verändernden rechtlichen Bedingungen geprägt. In den letzten Jahren wurden dort zigtausende Menschen auf dem Weg nach Zentraleuropa festgesetzt, ohne Perspektive auf ein Weiter- oder Ankommen.

Um einem (Post-)Jugoslawien der Gegenwart näher zu kommen, sollten wir uns sowohl mit dem historisch gewachsenen und gewaltvoll vorangetriebenen nationalistischen Revisionismus und den wirkmächtigen antikommunistischen Narrativen auseinandersetzen, als auch mit den Stolperfallen verklärender Jugo-Nostalgie. Wir fragen: Was lernen wir vom sozialistischen Staatenbund, der „als Traum begann und mit Morden endete“ (AK 643)? Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Folgen hat das Ende Jugoslawiens mit den nachfolgenden Kriegen bis heute? Wie sehen die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen aus, die geblieben sind, die (auch gezwungenermaßen) zurückkehrten oder die auf dem Balkan gestrandet sind? Wie steht es um die internationale Einflussnahme durch EU-Maßnahmen, Währungsfonds und Investoren? Und nicht zuletzt: Welche linken Kämpfe und Protestbewegungen zeigen sich im Blick zurück und nach vorne, zwischen dem antifaschistischen Kampf der Partisan:innen während des Zweiten Weltkriegs und den aktuellen Arbeitsstreiks?

Als Redaktionskollektiv haben wir aktuell übrigens allen Anlass zur Freude: kritisch-lesen.de gibt es nun schon zehn Jahre! In unserer Jubiläumsausgabe #60 im Juli 2021 wagen wir uns an eine Bestandsaufnahme linker Bewegungen dieser Zeit.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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