Post-Jugoslawische Erinnerungskultur und die partisanische Geste
- Thema
- Essay von Gal Kirn
Wer den jugoslawischen Transitionsprozess verstehen will, darf sich nicht nur die Aneignungen durch das Kapital ansehen, sondern auch die staatliche Aneignung der antifaschistischen Erinnerung.
Marx war im ersten Band seines Hauptwerkes „Das Kapital“ hauptsächlich daran interessiert, wie Kapital und Ware logisch erfasst werden können, um so zu seiner eigentlichen Problemstellung zu gelangen, nämlich der Produktion des Mehrwerts. Die historische Formierung von Kapital stand nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit und er widmete sich dieser Frage nur in wenigen Kapiteln am Ende des ersten Bandes. Marx' historische Analyse spricht von einer Begegnung von Kapital und Arbeit, die nach einer ganz anderen Logik verlief, als es der Mythos von Robinson Crusoe nahelegte. Nicht etwa die individuelle Kreativität eines Robinsons oder Adam Smiths unsichtbare Hand waren am Werk, sondern eine Reihe historischer Voraussetzungen mussten gegeben sein. Marx liest das bürgerliche Narrativ vom mythischen Ursprung als eine biblische Geschichte des „Sündenfalls“. Es ist die alte Geschichte von der Einteilung der Gesellschaft in die fleißigen und verdienstvollen Kapitalisten (Robinson) und jene, die faul, arm, rassifiziert, überschüssig sind und als solche nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Historisch gesprochen sind das Fake News. Im Gegensatz dazu bringt Marx nun eine Analyse in die Debatte ein, die die Ursprünge des Kapitalismus an seine nicht-ökonomischen Bedingungen koppelt, nämlich an den sozialen Prozess, bestehend aus Rechtsprechung, staatlicher Gewalt und Kolonialismus. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bestand darin, die notwendigen Arbeitskräfte für die Fabrikanten bereitzustellen, indem die Gemeinflur der Bauern (Allmende) enteignet wurde und die nun freigesetzten Bauern als Strafe fürs Vagabundieren und Betteln in die Fabriken gedrängt wurden. Der Kolonialismus sicherte mit seiner Brutalität gegen die versklavten und niedergemetzelten Bevölkerungen zeitgleich die Expansion von kapitalistischen Märkten. Dieses Konzept ist nicht nur hilfreich für die historische Bewertung der Ursprünge der kapitalistischen Produktionsweise im Verhältnis zu vormodernen, „primitiven“ Formen des Kapitalismus. Vielmehr ermöglicht uns Marx, die „ursprünglichen“ Muster der Kapitalakkumulation aufzuspüren, die in jedem Zyklus systematischer Krisen mit äußerst gewaltvollen Mitteln gegen alle Hindernisse, die sich dem Kapital entgegenstellen, angewandt werden.
Ursprüngliche Akkumulation der Erinnerung
Mit einigen Spezifikationen kann das Konzept genutzt werden, um die post-sozialistische Übergangsphase zu verstehen. Es ist einleuchtend, dass der Druck der gesamten außer-ökonomischen Politiken, von der Marktreform über die Denationalisierungsgesetze bis hin zur Austeritätspolitik, sowie ausländischen Krediten, nötig waren, um diesen Übergang (Transition) umzusetzen. Aber ich möchte dieser Betrachtung noch einen anderen Dreh geben. Man findet in vielen kritischen Überlegungen zur post-sozialistischen Transition eine Trennung zwischen den Ideologiekritiker*innen, bei denen der Geschichtsrevisionismus und Liberalismus als dominante Ideologien verstanden werden und den Kritiker*innen der politischen Ökonomie, die den neoliberalen Kapitalismus angreifen. Die Ideologiekritik tendiert dazu, die Analyse mit ihrer Kritik des Nationalismus und des Krieges zu überschreiben und sich auf die Analyse der Handlungsmacht des Staates zu konzentrieren. Die Kritik der politischen Ökonomie behandelt hingegen den Nationalismus als sekundäres Phänomen, welches außerdem in den Zeiten des Sozialismus nicht vorhanden gewesen sei; ihren Fokus legt sie auf die Handlungsmacht des Kapitals. Anstatt sich für eine der beiden Alternativen entscheiden zu müssen, kann das Konzept der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals beide Seiten des Transitionsprozesses gleichzeitig in den Blick nehmen.
Selbst diejenigen, die den Post-Sozialismus als soziale und von kapitalistischen Elementen bestimmte Übergangsformation betrachten, müssen zur Kenntnis nehmen, dass Staat und Ideologie den historischen Prozess während der Kriege gelenkt und damit die Wirklichkeit mitgestaltet haben, einschließlich der ökonomischen Transition. Erst durch den Ausnahmezustand konnte die ökonomische Transition zum Kapitalismus so reibungslos vollzogen werden. So betrachtet war der Krieg die ultimative Verausgabung (Verschwendung und Zerstörung) von Ressourcen, Infrastruktur, Reichtum und Menschen, die im Sozialismus akkumuliert und geboren worden waren. Der Krieg und der Übergang zum Kapitalismus entfesselten das ungeheure Ausmaß an Gewalt, das zur Demontage der sozialistischen Wirtschaftsformen und für die Durchsetzung eines privaten Arbeitsmarktes notwendig war. Es kam zum Ausverkauf – also zur Privatisierung – der akkumulierten und sozialisierten Produktions- und Reproduktionsmittel und ihrer Infrastruktur. Am Ende dieses Prozesses stand die Ermordung von rund 140.000 Menschen, die Marginalisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen und Minderheiten, Klassenschichtung, zunehmende Verelendung und große Migrationswellen. Die post-sozialistische Transition kam als Modernisierungskampagne daher und wurde in enger Abstimmung mit ausländischen Investitionsagenturen und mit den Befugnissen der EU durchgeführt. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass der post-sozialistische Übergang effektiv von innen heraus und als Folge von internen Brüchen der selbstbestimmten Entwicklung organisiert wurde.
Die ökonomischen Auseinandersetzungen wurden begleitet von einer gegenrevolutionären Umdeutung des Geschichtsnarrativs und des ideologischen Apparates, die nicht nur auf die Erinnerung an die sozialistische Ära abzielte, sondern insbesondere auf Ereignisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Im post-jugoslawischen Kontext präsentierte sich das nationale Drama als „doppelte Okkupation“, zuerst durch die Faschisten/Nazis (Italien/Deutschland) und danach durch die Stalinisten/Tito (Sowjetunion/Jugoslawien), welche erst überwunden wurde durch den siegreichen Helden: die Nation. Diese sei stets eine tragische Figur gewesen, die die meiste Zeit dem grausamen Spiel äußerer Mächte unterworfen war, nun aber endlich frei in Unabhängigkeit leben konnte. Logischerweise musste die historische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einer umfassenden Revision unterzogen werden, galt es doch, viele Ereignisse und nationale Gruppen reinzuwaschen, die offen mit den Faschisten kollaboriert hatten. Die gesellschaftlichen Kräfte, die diesen ideologischen Angriff durchführten, wurzelten im Anti-Kommunismus, mehr aber noch in einer allgemeinen Welle der Re-Traditionalisierung mittels Nationalismus, Patriarchat und Kirche. In seiner Analyse zu den Tendenzen in der Zivilgesellschaft und der Opposition gegen das sozialistische Einparteien-System sprach Tomaž Mastnak bereits 1987 von einem „Totalitarismus von unten“, der auf eine Nationalisierung und Traditionalisierung der (Zivil-)Gesellschaft drängte. Auch die 1990er Jahre brachten keinen Ausgleich zwischen dem neuen Staat und der Zivilgesellschaft, stattdessen verschmolzen die zivilgesellschaftlichen Akteure mit neuen und alten politischen Parteien im neuen Staat. Die neoliberale Globalisierung sollte neben dem strikt freien Markt auch fluide nationale Identitäten fördern. Aber dies war nicht der Fall, vielmehr fand ein großer konservativer Backlash entlang der Linien einer „erfundenen Tradition“ statt. Im post-sozialistischen Kontext wurde auf diese Weise die Nation an ihre angeblich vormoderne Authentizität gebunden und ein unzertrennliches Bündnis zwischen Nation und Religion geschmiedet:
„‚Erfundene Tradition‘ meint ein Ensemble von Praktiken, die normalerweise durch offen oder stillschweigend akzeptierte Regeln gesteuert werden und von ritueller oder symbolischer Natur sind. Durch stete Wiederholung werden bestimmte Werte und Verhaltensnormen eingeimpft, was automatisch eine Kontinuität mit der Vergangenheit suggeriert. Präziser ausgedrückt, es wird versucht, Kontinuität mit einer besonders geeigneten historischen Vergangenheit herzustellen.“ (Hobsbawm 1983, S. 1 Übers. d. Red.)
In dieser Konstellation mussten die historischen Erinnerungen an den Sozialismus und den Zweiten Weltkrieg maßgeblichen Veränderungen unterzogen werden. Alles, wofür Jugoslawien einst stand, sollte ideologisch entkernt werden. Der historische und politische Revisionismus führte einen ideologischen Feldzug an, mit dem Ziel, Traditionen neu zu erfinden, welche die Nation als ewig definierten und ihre angebliche Substanz und Religion gleich mit. Die neue-alte Doppelbindung zeigte sich wie folgt: Kroatisch-katholisch, serbisch-orthodox, bosnisch-muslimisch, slowenisch-katholisch. Und die entsprechenden Traditionen erfand man hinzu.
Der Prozess der „erfundenen Tradition“ sollte insofern nicht nur im Sinne seiner Fähigkeiten verstanden werden, die „echte“ Tradition anzupassen und sie zu ersetzen, wie es von Hobsbawm nahegelegt wird, vielmehr muss der Begriff in enger Wechselbeziehung mit dem Marx’schen Konzept der ursprünglichen Akkumulation gedacht werden. Ich schlage daher vor, diese Wechselbeziehung als „ursprüngliche Akkumulation von Erinnerung durch den Staat“ zu bezeichnen. Der Zusammenhang ist durch eine umfassende Neuerfindung von Erinnerung und Tradition gekennzeichnet und erklärt zusätzlich die Entstehung einer starken Verflechtung zwischen Nationalstaat und Kapital in den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals wurde im Namen der Nation betrieben und enteignete die Menschen von vergesellschaftetem Eigentum, als solche kann sie als innerlich verbunden mit der Akkumulation von Erinnerung durch den Staat angesehen werden. Es gehört zu den Paradoxen des Transitionsprozesses, dass die Erinnerungsakkumulation Nationalstolz und ethnifizierten Hass verstärkte, während die Kapitalakkumulation in den neuen Staaten den Menschen ihr vergesellschaftetes Eigentum nahm. Kurz gesagt: Die Denationalisierung raubte ihnen die materielle Basis (für ihren Nationalstolz). Im herkömmlichen Marx’schen Sinne ist es die ökonomische Instanz, die andere Instanzen (zum Beispiel Politik, Ideologie, Kultur) bestimmt, wohingegen sich im Bürgerkrieg der 1990er Jahre das Zusammenspiel zwischen den Instanzen in der „ursprünglichen Akkumulation durch den Staat“ manifestierte. In anderen Worten: Instanzen der Politik übten einen hohen Grad an Autonomie aus und wurden zur Voraussetzung für die neoliberale ökonomische Transition. Die Gewalt des neuen Staates musste nicht verheimlicht werden, sondern wurde die dominante Sprache und Praxis in Post-Jugoslawien.
Die Akkumulation der Erinnerung durch den Staat setzte symbolische Gewalt gegen die Vergangenheit ein. Sie war eng verbunden mit der physischen Zerstörung von Partisan*innen-Denkmälern und Büchern, der Umbenennung von Straßen und Schulen sowie der Auslöschung von Ideen, die an unangepasste, modernistische, partisanische oder sozialistische Figuren und Zeiten erinnerten. Dies verstärkte sich durch die ethnischen Säuberungen und legale Formen der Vertreibungen von Menschen, die diese Ideen oder die neuen Grenzen der Nationalstaaten nicht anerkannten. Der einfachste Weg, sich des partisanisch-sozialistischen Jugoslawiens zu entledigen, bestand darin, es als „totalitär“ zu bezeichnen und so eine Parallele zwischen Faschismus und Kommunismus zu ziehen. Diese Mär beflügelte die Fantasie sowohl der liberalen als auch der nationalistischen Kritiker*innen Jugoslawiens. Doch ein kurzer Blick genügt, um zu erkennen, dass die Totalitarismus-Brille die Realität verzerrt: Zum einen führten die Partisan*innen in Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg einen erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus (sie besiegten Hitler); zum anderen, war Jugoslawien als sozialistischer Staat in der Lage, ein hohes Maß an politischer Autonomie zu erlangen und 1948 Stalin zu „besiegen“. Wenn wir den Begriff Totalitarismus im jugoslawischen Kontext anwenden, dann müssen wir feststellen, dass es der Partisan Tito und der Staatsmann Tito war, der beide Formen des Totalitarismus zurückschlug. Das mag nach einer banalen historischen Tatsache klingen, aber das jugoslawische Erbe wurde in den letzten 20 Jahren derart schwarz-weiß dargestellt, dass sowohl die banalen historischen Fakten, als auch die Besonderheiten Jugoslawiens weitergetragen werden müssen. Die Besonderheit des jugoslawischen Wegs bestand in verschiedenen Alltagspraktiken ebenso wie in der politischen und kulturellen Kritik seitens der Arbeiter*innenselbstverwaltung mit ihrer äußerst komplexen politischen und ökonomischen Logik. Statt ein Abbild des Totalitarismus zu sein, war das partisanisch-sozialistische Jugoslawien der Name und die Gestalt für eine transnationale und föderale Idee; eine Idee, die aus der Revolution entstand und die in der multinationalen und antifaschistischen Solidarität ihren Ausgang genommen hatte. Gerade wegen der Einzigartigkeit des Partisanenkampfes, der relativen Autonomie und des ökonomischen Wohlstands des sozialistischen Jugoslawiens ist es ein dramatischer Rückschritt, dass die jüngere Vergangenheit in einen post-jugoslawischen Revisionismus, die Kriege und einen Bildersturm zurückfiel.
Im Vergleich ist der post-jugoslawische Revisionismus in seinen diskursiven und erinnerungsbezogenen Formen gar nicht so verschieden vom Revisionismus im Rest Europas zu dieser Zeit, doch hat er nur in der post-jugoslawischen Region zu Kriegen geführt. Die ersten wichtigen Schritte in Richtung erinnerungspolitischer Regression gehen auf den revisionistischen (west-)deutschen Historiker Ernst Nolte und die Nouveaux Philosophes zurück, welche die Debatte in Frankreich beherrschten. Der Aufstieg des Neoliberalismus war eine Attacke gegen den Wohlfahrtsstaat und ein neokonservativer Angriff auf die emanzipatorischen Narrative der Vergangenheit. Diese Verschiebung im kollektiven Gedächtnis wird deutlich durch ein politisches Ereignis im Jahr 1987 markiert, da es darauf angelegt war, den Faschismus öffentlich zu rehabilitieren: Der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl organisierte damals kurzfristig eine Gedenkveranstaltung auf dem Soldatenfriedhof Bitburg zusammen mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan. Während sie der alliierten Invasion in der Normandie gedachten, beschlossen sie auch, den 2.000 gefallenen deutschen Soldaten in Bitburg die Ehre zu erweisen, unter ihnen 50 Angehörige der SS. Es spielte keine Rolle, dass Nolte und Co. im Historikerstreit der späten 1980er Jahre eine akademische Niederlage einstecken mussten, denn mit der Deutschen Wiedervereinigung und dem Untergang des Sozialismus wurde die revisionistische Geschichtsschreibung schnell zum wirkmächtigsten Narrativ der neuen Nationalstaaten in Osteuropa und diente der Musealisierung der sozialistischen Vergangenheit in Europa. Der Geschichtsrevisionismus schlug sich in einer ganzen Reihe von kulturellen und akademischen Institutionen nieder: Museen, Forschungszentren und Zeitschriften, ebenso wie Gedenkstätten, Dokumentarfilme und Kommissionen, die alle eine Geschichte totalitärer Gewalt – wohlgemerkt: kommunistischer und partisanischer – belegen sollten. In der post-jugoslawischen Transition führte der rechte Geschichtsrevisionismus zu ethnischen Kriegen und zur Säuberung der revolutionären und antifaschistischen Vergangenheit. Obwohl die neuen Akteur*innen der post-jugoslawischen Transition durch die unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften getrennt waren, schlugen sie kollektiv den Kurs der historischen Regression ein – der Verschiebung vom Föderalismus, der Multiethnizität und der Transnationalität Jugoslawiens hin zu einem ethnisch exklusiven Konzept der neuen Staaten; sie überführten die gerechte Verteilung des Mehrwerts und die Ermächtigung der Arbeiter*innen in brutale Formen der Ausbeutung und eine hierarchische Sozialstruktur, die letztendlich starre Klasseneinteilungen, Verarmung und eine unbedeutende Stellung in der europäischen Ökonomie bedeuteten.
Im post-sozialistischen Kontext wurde die nun sichtbare Hand der Nation als direkte Verbindung in eine weit zurückreichende – für jede Nation spezifische – Vergangenheit präsentiert. Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre wurde an der „Struktur der Gefühle“ (Williams 1961) gearbeitet, und es gelang, die jüngste wie auch die zurückliegende Geschichte als eine bruchlose Erinnerung im Lichte einer Einheit der Nation neu zu interpretieren. Die nationalistische Modernisierung wurde vorangetrieben, obwohl es sich zu diesem Zeitpunkt bereits um ein erkenntnistheoretisch überholtes Projekt handelte, das schon seit den 1970er Jahren von verschiedenen kritischen Feministinnen, post-kolonialen und marxistischen Theoretiker*innen dekonstruiert und kritisiert wurde. Die Akkumulation von Erinnerung durch den neuen Staat und seine neuen Historiker*innen leugnete die etablierte Lehre der Geschichtswissenschaft, nach der moderne Nationen vor dem sogenannten „Frühling der Nationen“ (1848) nicht existiert hatten. Darüber hinaus grub diese ursprüngliche Akkumulation tief in der Vergangenheit, um ihr „symbolisches Kapital“ zutage zu fördern. So trugen die neuen Historiker*innen und politischen Eliten dazu bei, nationale Mythen und persönlichen Reichtum zu begünstigen, indem sie mit der Geschichte anstatt mit der Zukunft spekulierten. Konkret richteten sich diese Spekulationen auf eine Reihe trügerischer Ereignisse: Die nationalistische Ideologie Serbiens wurde zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) eingeführt mit all ihren Traumata; „Großkroatien“ machte sich das mittelalterliche Königreich Kroatien zu eigen, während Bosnien mit dem Erbe des mittelalterlichen Königreichs und des Osmanischen Reiches operierte. Die nationalistische Ideologie Sloweniens tauchte sogar noch tiefer in die Vergangenheit ab, bis zum frühmittelalterlichen Fürstentum Karantanien und verwirklichte den vermeintlich Jahrtausende alten Traum vom ersten unabhängigen Staat. Nur durch einen spekulativen Kraftakt war es überhaupt möglich, eine geschichtliche Kontinuitätslinie bis in die Gegenwart zu ziehen. Ihren Höhepunkt erreichte diese Erinnerungsspekulation in Nord-Mazedonien, wo man sich daran machte, den Ruhm und das Erbe von Alexander dem Großen wiederzubeleben. Es spielte dabei keine Rolle, dass Alexander der Große im griechischen Teil von Mazedonien geboren worden war, und auch nicht, dass er kein Mazedonisch gesprochen hat. Worauf es inmitten einer prekären und unsicheren Gegenwart und Zukunft allein ankam, war, die Ursprünge der Nation weit in die Vergangenheit zu verlegen. Grübelt man über die Absurditäten dieser Akkumulation von Erinnerung in den neuen Nationalstaaten nach, kann das leicht eine ironische und arrogante Fingerübung darüber werden, wie sich der Geist der herrschenden Klasse in den neuen Nationalstaaten offenbarte. Doch anstatt sich von den entfernten historischen Ursprüngen ablenken zu lassen, sollte man sich lieber der tragischen Verkehrung durch die wiedererstandenen Geister des 20. Jahrhunderts zuwenden. Alle neuen nationalistischen Ideologien haben ein besonderes Interesse an der Zeit des Zweiten Weltkriegs, schon Walter Benjamin warnte zurecht: „[A]uch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (Benjamin 1980, S. 695) Benjamin dachte dabei an die herrschende Klasse und die Gefahr des Faschismus in den 1930er Jahren, die im Zweiten Weltkrieg schreckliche Wahrheit wurde und nach Auschwitz mit dem mahnenden Appell „Nie wieder“ enden sollte. Diese moralische Norm, die auch zur offiziellen Ideologie des sozialistischen Jugoslawiens gehörte, wurde in den 1990er Jahren einfach entsorgt. Im post-jugoslawischen Kontext wurden darüber hinaus die im Zweiten Weltkrieg geschlagenen Faschisten rehabilitiert und mancherorts sogar als die wahren Patrioten der jeweiligen Nationen gefeiert. Diese wiederaufgestandenen Toten waren die lokalen faschistischen Kollaborateure: die Tschetniks, Ustascha, Slowenische Landwehr und andere. Die Parolen dieser „wahren Patrioten“ und die Idee einer großen Nation wurden im Zuge der neuen Kriege heroisiert. Die Politik von ethnisch gesäuberten und international anerkannten Gebieten trug auch noch im Friedensabkommen von Dayton 1995 den Sieg davon. Die „wahren Patrioten“ wurden als die wirklichen Opfer der totalitären-partisanischen Vergangenheit anerkannt und einigen von ihnen sogar öffentlich oder privat gedacht in Gedächtnisinschriften, Denkmälern, überarbeiteten Schulbüchern, TV-Serien, Wikipedia-Einträgen und Ausstellungen in Museen. Kurz gesagt, der rechte Geschichtsrevisionismus ersann erfolgreich neue „Erinnerungsorte“ (Opfer totalitärer Verbrechen; Rehabilitation faschistischer Kollaborateure), die eine Reihe neuer Praktiken hervorbrachten und so den ideologischen Zusammenhalt der neuen Nationalstaaten stärkten.
Einige kritische Bemerkungen zur Jugonostalgie
Die post-sozialistische Ideologie wurde nicht allein vom rechten Geschichtsrevisionismus geprägt. Eine positive Erzählung über die sozialistische Vergangenheit erschien als Widerstand gegen Nationalismus und ethnische Kriege. Viele Forscher*innen bezeichneten die ideologische Ablehnung der neuen Grenzen der kleinen Nationalstaaten und die gleichzeitige Befürwortung eines Nachlebens Jugoslawiens als Jugonostalgie. Nostalgie wird typischerweise als Sehnsucht nach einer Vergangenheit definiert, die nie existierte, und ist als solche gekennzeichnet durch die obsessive Fixierung auf die Vergangenheit als eine Art des Widerstands gegen die Gegenwart. Jugonostalgie ist ein Narrativ, das alles idealisiert, was mit der Partisanenzeit und dem sozialistischen Jugoslawien verbunden ist und oftmals unter der Persönlichkeit Tito vereint wird. Die konstante Referenz auf die große Führerschaft Titos ist eine positive Aneignung der „totalitären“ Vorstellung eines „Personenkults“ und trägt auf vielerlei Weise zur Kommodifizierung der Vergangenheit durch Memorabilien, Kneipennetzwerke, Pilgerorte und Feiertage bei. Grob gesagt kann Jugonostalgie an seinen passivierenden Effekten auf den Einzelnen gemessen werden. Tanja Petrović legte jedoch eine solide historisch-anthropologische Studie vor, in der sie die emanzipatorischen Dimensionen im Rahmen von nostalgischen Praktiken herausarbeitet. Nostalgische Individuen tauchten zusammen mit einer Kritik am Nationalismus auf, die in den ehemaligen Konfliktzonen einen verbindenden Bezugspunkt für die Jugend, die Geschichte der älteren Generation und die unterschiedlichen Herausforderungen der Gegenwart anbot. Obwohl die Argumentation – Nostalgie kann progressiv sein – eine gewisse Gültigkeit hat, darf man nicht vergessen, dass sich der allgemeine Flügel der Jugonostalgie längst mit der neuen nationalen Gegenwart versöhnt hat. Die prominentesten jugonostalgischen Rituale stehen im Zusammenhang mit dem offiziellen Gedenken an die heroischen Schlachten der Partisan*innen im Zweiten Weltkrieg. Der Diskurs über dieses Gedenken erkennt in den Partisanenkämpfen einzig das Moment der Souveränität einer spezifischen Nation. Die revolutionäre Dimension des Volksbefreiungskampfes ist vergessen und was bleibt, ist ein lediglich sentimentales Goodbye Tito. Je mehr der kulturelle Diskurs die guten alten Zeiten idealisiert, desto mehr wird das Goodbye Tito bestätigt, was den letzten Nagel in den Sarg des Kommunismus treibt.
Trotz ihrer Kritik an den nationalistischen Exzessen funktioniert Jugonostalgie – in einem strukturellen Sinn – als die andere Seite der anti-totalitären Ideologie. Sie ist eine Reaktion auf die anti-totalitäre Ideologie, aber sie erliegt der Versuchung, ein ahistorisches Bild von Jugoslawien zu nähren, das die Komplexität der jugoslawischen Vergangenheit stark vereinfacht und vielleicht sogar zur Passivierung beiträgt. Jugonostalgie und anti-totalitäre Ideologie teilen sich dieselben diskursiven Regeln darüber, was in der jugoslawischen Vergangenheit gesehen werden kann und was über sie gesagt werden darf. Beide Narrative schreiben dem historischen Prozess einen bestimmten Anfang, ein Ziel und ein Subjekt zu: Es gibt einen genau definierten Anfang (die Nation oder ein nostalgisch verbrämtes Jugoslawien), ein Ziel (die Nation oder Jugoslawien) und ein Subjekt (die Nation oder Tito). Während es im einen Narrativ um die Legitimierung der Gegenwart durch die Dämonisierung oder das Vergessen der partisanischen-jugoslawischen Vergangenheit geht, bleibt der jugonostalgische Zugriff in einer partisanischen und glorreichen jugoslawischen Vergangenheit stecken. Auch wenn diese beiden Ansätze sich in ihren politischen Schlussfolgerungen unterscheiden, so teilen sie doch dieselbe teleologische Denkweise, indem sie an einer geschichtlichen Notwendigkeit festhalten. Sie sind insofern affirmativ, als ihnen der vorherbestimmte Anfang, das Ziel und das Subjekt als fixierter und sakraler Kern ihres ideologischen, politischen und erinnerungsbezogenen Projektes dienen.
Ein unabgeschlossener Prozess
Mit der jüngsten Verschärfung der kapitalistischen Krise, die im Zuge der Flüchtlingskrise eine allgemeine Bewegung hin zum extremen Rechtspopulismus in ganz Europa auslöste, erhält auch das Narrativ einer offenen Rehabilitation des Faschismus und der Kollaboration wieder Aufwind auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Die direkte Rehabilitation der lokalen Faschismen nimmt verschiedene Formen an: Faschistische Lieder werden populär gemacht, Haager Kriegsverbrecher als Helden gefeiert – unabhängig davon, ob sie freigelassen, verurteilt oder gestorben sind –, es werden Denkmäler für Kriegsverbrecher aus den jüngsten Kriegen und für faschistische Kollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt und paramilitärische Gruppen wollen ihre Heimat gegen Migrant*innen und Linke verteidigen. Ohne Zweifel ist dies ein düsteres Panorama post-jugoslawischer Kultur und Erinnerungspolitik, das wenig Anlass zu politischem Enthusiasmus, Hoffnung oder Inspiration für die unmittelbare Zukunft gibt. Darum ist es so wichtig, die militanten Denkfiguren der Vergangenheit wiederzubeleben und die revolutionären Ressourcen zu mobilisieren und sich gleichzeitig bewusst eine Position außerhalb der simplen nostalgischen Verwertung zu bewahren. Kritische Theorie, emanzipatorische Politik und Kunst müssen kämpferischer werden in ihrem Anspruch, den von den Partisan*innen vollzogenen Bruch zu wiederholen. Das bedeutet nicht, dass wir etwas blindlings wiederholen, was augenscheinlich nicht mehr da ist. Wir können nicht einfach durch die Wälder laufen und uns vorstellen, wir wären Partisan*innen und dies hier sei Jugoslawien mit seiner heroischen Vergangenheit. Die Jugoslawische Revolution zu bejahen, bedeutet ganz im Gegenteil, eine partisanische und kommunistische Geste zu wiederholen, also eine kommunistische Politik weiterzuführen in dem Bestreben, dass sich die emanzipatorischen Gedanken und die politische Praxis in der Zukunft neu begegnen. Wir müssen den jugoslawischen Sozialismus neu denken. Und wir müssen begreifen, dass seine widersprüchlichen Entwicklungen ein Nachdenken über Jugoslawien von innen heraus einschließen. Das heißt auch, den von den Partisan*innen vollzogenen Bruch bekräftigen und trotzdem den revolutionären und post-revolutionären sozialistischen Übergang einer kompromisslosen Kritik unterziehen.
Zusätzlich verwendete Literatur
Benjamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: Tiedemann, Rolf und Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Gesammelte Schriften Bd. 1,2. S. 691–704. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Hobsbawm, Eric (1983): Introduction: Inventing Traditions. In: Hobsbawm, Eric und Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. S. 1–14. CUP, Cambridge. Mastnak, Tomaž (1987): Totalitarizem od spodaj. In: Druzboslovne Razprave, 4 (5), S. 91–98.
*** Gal Kirn hat Politische Theorie an der Universität Ljubljana studiert und 2012 seine Dissertation in Politischer Philosophie über das sozialistische Jugoslawien und die Philosophie Althussers an der Universität von Nova Gorcia abgeschlossen. Derzeit forscht er an der TU Dresden zum Verhältnis von Eisenbahn, Kino und sozialer Revolution während der sowjetischen Avantgarde. Vor Kurzem erschien sein Buch „The Partisan Counter-Archive – Selection of Poems, Films and Monuments“.
*** Übersetzung aus dem Englischen von der Redaktion