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Intersektionaler Revisionismus

Buchautor_innen
Nancy Fraser
Buchtitel
Der Allesfresser
Buchuntertitel
Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt

In der Frage nach dem Verhältnis von kapitalistischer Ökonomie und kapitalisitischer Gesellschaft geraten einige Marxsche Grundannahmen und Erkenntnisse durcheinander.

Das jüngste Buch der US-Feministin Nancy Fraser ist ein großer Wurf. Sechs der insgesamt acht Kapitel sind im Laufe der letzten Jahre bereits in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen. Die Argumentationen in diesen Veröffentlichungen deuteten schon an, dass die Professorin für Philosophie und Politikwissenschaft an einer Erneuerung kritischer Theorie gearbeitet hat. Das Resultat liegt jetzt mit „Der Allesfresser“ vor.

Ein erweitertes Kapitalismusverständnis

Dreh- und Angelpunkt ihres Ansatzes ist Frasers Kapitalismustheorie. Der Kapitalismus könne nicht mehr in erster Linie oder ausschließlich als ökonomisches System verstanden werden. Er sei vielmehr „eine institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ (S. 44), die durch das Zusammenspiel der bürgerlichen Ökonomie mit ihren nicht-ökonomischen „Hintergrundbedingungen“ (S. 40) bestimmt werde.

Als solche bezeichnet die Autorin vor allem vier Bereiche: die soziale Reproduktion, die Ökologie, das politische Gemeinwesen sowie die durch Rassismus und Imperialismus geschaffenen, billigen Arbeitskräfte in Staaten und in den externen Peripherien. Diese vier Felder, die nie vollständig in Wert gesetzt werden, hätten ihre eigenen, „‚nicht-ökonomischen‘ Normativitäten“ (S. 43) und jeweils spezifische, wenn auch miteinander verbundene „soziale Ontologien“ (S. 43). Als solche seien sie – anders als bei Marx, der diese verborgenen Stätten hinter der verborgenen Stätte der Produktion übersehen habe – fester Bestandteil des Kapitalismus.

Für diesen, so Fraser, seien die „strukturellen Trennungen“ (S. 44) der ökonomischen Produktion von ihren Voraussetzungen und ihre „Symbiose“ (S. 49) „konstitutiv“ (S. 44). Die kapitalistische Ökonomie funktioniere nur, weil sie sowohl bei ihrer Entstehung als auch zu ihrer stetigen, systematischen Reproduktion auf die Aneignung der „Zonen der Nicht-Warenförmigkeit“ (S. 42) zugreifen, ja, diese zunehmend kannibalisieren könne. Das „wahre Geheimnis der Akkumulation“ (S. 143) liege dementsprechend in der Verbindung der Ausbeutung und Überausbeutung von Lohnarbeiter*innen sowie der Aneignung nicht-entlohnter Arbeit und von Formen sozial-natürlichem Reichtums. Der marxsche Begriff von Kapitalismus sei deshalb weiterzuentwickeln von der „kapitalistischen Ökonomie“ zur „kapitalistischen Gesellschaft“ (S. 41, Herv.i.O.).

Aufgrund der unterschiedlichen „normativen und ontologischen Grammatiken“ (S. 42) der Ökonomie und ihrer Voraussetzungen sowie des kannibalisierenden Zugriffs ersterer auf letztere entstünden besondere, den jeweiligen Feldern eigene Widersprüche. Diese mündeten periodisch in Krisen, wenn sich die Beziehung zwischen Ökonomie und nicht-ökonomischem Außen als nicht mehr reproduktionsfähig erweisen. In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es, folgt man Fraser, also mehr als nur einen Widerspruch und auch nicht nur eine Krise. Entsprechend sei sie auch der Grund für eine Vielfalt sozialer Konflikte. Fallen alle Krisen zusammen, so wie es gegenwärtig der Fall sei, spricht die Autorin von einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ (S. 15).

Strukturell und historisch

Ihre „erweiterte Konzeption des Kapitalismus“ (S. 14) stützt die Autorin auf zwei miteinander verbundene Argumente: ein strukturelles und ein historisches. In den auf das Theoriekapitel folgenden vier Abschnitten des Buchs zur sozialen Reproduktion, Ökologie, zum politische Gemeinwesen sowie zur rassistischen und imperialistischen Enteignung versucht Fraser jeweils zu zeigen, warum der Kapitalismus „strukturell“ auf diese vier Bereiche angewiesen ist und wie dies geschichtlich entsprechend seiner Entwicklungsetappen der Fall gewesen ist.

Die strukturelle Ursache dafür, dass der Kapitalismus immer Menschen anderer Hautfarbe überausbeute und enteigne, sei das Streben der Kapitalisten danach, die Produktionskosten zu senken, indem sie die Ausgaben insbesondere für Rohstoffe, Energie und Arbeitskräfte verringern. Die soziale Reproduktion wiederum stelle die Arbeitskräfte erst zur Verfügung, ohne die das Kapital gar keinen Mehrwert einstreichen könne. Die Natur liefere das unverzichtbare Material für die kapitalistische Produktion und stelle auch deren Müllhalde. Schließlich müsste die politische Gemeinschaft, allen voran der bürgerliche Staat, Eigentumsrechte und Verträge garantieren, Dispute beilegen, Widerstand bekämpfen, Protest einhegen, das Geldregime und Krisen managen.

Fraser argumentiert, dass die Etappen kapitalistischer Entwicklung zwischen den allgemeinen Krisen zunächst dadurch bestimmt seien, dass die Beziehungen zwischen den Konstituenzien der kapitalistischen Gesellschaft auf historisch besondere Weise ineinandergreifen und deren Reproduktion ermöglichen. Die so bestimmten Akkumulationsregime hängen zudem von den sozialen Auseinandersetzungen ab, das heißt von den ökonomischen Klassenkämpfen und von den sogenannten „Grenzkämpfen“ (S. 45) an den Berührungslinien zwischen Wirtschaft und den ihr vorgelagerten „Anderen“ (S. 49). Grenzkämpfe seien dabei „so grundlegend“ (S. 47) wie Klassenkämpfe. Entsprechend der strukturellen und politischen Determinanten kommt Fraser zu folgender vierstufigen Periodisierung der Geschichte des Kapitalismus: merkantilen oder Handelskapitalismus (16. bis 18. Jahrhundert), liberal-kolonialer Kapitalismus (19. Jahrhundert), staatlich gelenkter Monopolkapitalismus (Mitte des 20. Jahrhundert) und den heutigen globalisierten neoliberalen oder auch finanzialisierten Kapitalismus.

Basis und Überbau statt Kokonstitution

Frasers Buch widmet sich einer der zentralen Aufgaben kritischer Theoriebildung der Gegenwart: der Integration verschiedener Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse in einer kohärenten Gesellschaftstheorie. Das Problem ist allerdings, dass ihre „revidierte Vorstellung“ (S. 140; im englischen Original spricht Fraser ausdrücklich von „Revision“; C.S.) der marxschen Kapitalismustheorie zahlreiche Mängel aufweist, die typisch für intersektionale Positionen sind.

Die Autorin hat recht damit, dass der Kapitalismus nicht allein oder ausschließlich durch seine sozioökonomische Produktionsweise bestimmt wird. Der Kapitalismus ist „mehr als eine Ökonomie“ (S. 40). Anderes haben Marx und Engels auch gar nicht behauptet: Im Gegenteil beschreiben sie mit den Begriffen der Gesellschaftsformation und Gesellschaftsform, was Fraser als Kapitalismus neu fasst. Fraser missversteht Marxʼ Kapital, in dem er nicht, wie sie suggeriert, den Kapitalismus als ökonomisches System darstellt, sondern „die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse“ (MEW 23, S. 12), also die der kapitalistischen Gesellschaftsformation zugrunde liegenden sozioökonomischen Relationen zwischen den Klassen.

Ein wesentlicher Unterschied zu Marxʼ und Engelsʼ Auffassung besteht darin, dass Fraser die Verhältnisse zwischen den Bereichen der Gesellschaftsform verflacht. Ihr Ansatz ist in diesem Punkt insofern intersektionalistisch, als dass sie alle Felder für in gleicher Weise kokonstitutiv für den Gesamtzusammenhang hält. Marx schreibt hingegen, dass es in allen Gesellschaftsformen „eine bestimmte Produktion“ sei, „die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert.“ (MEW 13, S. 637) Es wäre falsch, diese und ähnliche Passagen deterministisch zu interpretieren. Engels hat in mehreren Briefen darauf hingewiesen, dass alle nicht-ökonomischen Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft, auch die Ideologien, relativ autonom sind, auf die Produktionsweise zurückwirken und in der Geschichte wirksam seien (vgl. z.B. MEW 37, S. 462–5). Dennoch, und das ist die entscheidende Differenz zu Fraser, entspringen die Staats-, Gedanken- und andere Formen aus der historisch besonderen Organisation der sozioökonomischen Relationen. Mit anderen Worten: Es gibt eine Hierarchie im kapitalistischen Gesellschaftsbau ausgehend von den ökonomischen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsverhältnissen, weil über diese die gesellschaftliche Arbeit und die Distribution ihrer Produkte maßgeblich organisiert werden.

Mit der Strukturierung der Gesellschaft ausgehend von ihrer sozioökonomischen Basis ist auch eine Anatomie der sozialen Relationen und Kämpfe verbunden. Fraser leugnet diese Staffelung – in Übereinstimmung mit intersektionalen Positionen – zugunsten einer Pluralisierung der Widersprüche und Kämpfe. Was ihr dadurch entgeht, ist, dass es sich bei der Vielfalt der Widersprüche und Kämpfe um verschiedene Formen des Klassenwiderspruchs und -kampfs handelt. Der Widerspruch zwischen den Klassen der Kapitalist*innen und der Lohnarbeiter*innen erstreckt sich heute von der Produktion aus auf alle Felder der bürgerlichen Gesellschaft. Ihrer eigenen Bewegungsformen unbenommen sind auch die nicht-ökonomischen Bereiche der Gesellschaft von ihm durchwirkt und auf das Kapital als dominanter sozialer Kraft ausgerichtet. Der Klassenwiderspruch ist deswegen der alle Terrains der Gesellschaftsformation übergreifende Widerspruch.

Die Besonderung der bürgerlichen Gesellschaftsformation

Frasers Argumente gegen solche Anschauungen sind wenig überzeugend. Es ist zutreffend, dass die kapitalistische Ökonomie ohne die vier Hintergrundbedingungen nicht funktionierte. Aber das macht sie nicht automatisch zu bestimmenden Merkmalen des Kapitalismus. Denn die Enteignung anderer Völker, die Aneignung der Natur, die Inanspruchnahme der sozialen Reproduktion und des politischen Gemeinwesens sind nicht nur Voraussetzungen der bürgerlichen, sondern aller bisherigen Klassengesellschaften. Ferner sind alle Produktionsweisen, auch sozialistische oder kommunistische, darauf angewiesen, dass zum Beispiel Arbeitskräfte herangezogen werden oder die Natur in gewissem Maß als Quelle und Senke für die Produktion dient. Daher können diese allgemeinen Beziehungen weder die Besonderheit der kapitalistischen Gesellschaft begründen noch als strukturelle Bedingung einer solchen betrachtet werden. Die Partikularität der bürgerlichen Gesellschaft liegt vielmehr darin, wie die gesellschaftliche Arbeit über die sozioökonomischen Produktions- und Verteilungsverhältnis organisiert wird.

Damit sind keineswegs besondere Verhältnisse zwischen der kapitalistischen Ökonomie und den anderen Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen. Nur sind sie erstens nicht Struktur gebend, zweitens nicht von so allgemeiner Natur, wie Fraser es darstellt, und drittens wird es den jeweiligen Beziehungen nicht gerecht, sie alle auf dieselbe Art und Weise als ein Verhältnis zwischen Wirtschaft und ihrem Außen zu konzipieren. Vielmehr sind die vier relativ autonomen Bereiche und die sie auszeichnenden, überlieferten Sozialbeziehungen und Entitäten unterschiedlich in das Kapitalverhältnis und die bürgerliche Gesellschaft integriert. Sie nehmen daher jeweils spezifische, durch das sozioökonomische Kapitalverhältnis gerahmte Formen an. Diese müssten ausgearbeitet werden.

Auch Frasers historisches Argument für die Geschichte des Kapitalismus ist nicht triftig. Dies liegt maßgeblich daran, dass sie für die Periodisierung erstens auf Konzepte zurückgreift, denen zufolge die Ökonomie kapitalistisch sein kann, ohne dass es ihre Produktion ist. Sie reduziert also die bürgerliche Ökonomie zirkulationistisch auf eine Marktökonomie, die Profite abwirft. Damit geht zweitens einher, dass nicht die Organisation und Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit zur Produktion und Reproduktion der Gesellschaft den Maßstab für die Klassifizierung von Gesellschaftsformationen bildet. Drittens ist laut Fraser die Akkumulation von Kapital im Handelskapitalismus und im gegenwärtigen finanzialisierten Kapitalismus gar nicht ökonomisch, sondern politisch bestimmt. Akkumulation basiere entsprechend in erster Linie auf An- bzw. Enteignung anstatt auf Ausbeutung. Dabei ist es heute genau umgekehrt: Die Produktion, die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung und Form des sozialen Reichtums zeichnen sich weiterhin durch das Kapitalverhältnis, also durch sozioökonomische Ausbeutung aus. Die Aneignung von Extraprofiten und nicht-ökonomischen Reichtums ist ein Zuschlag. Mit diesen drei Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaftsformation Frasers verschwimmen schließlich viertens die Differenzen zu den präkapitalistischen Formationen. Ihre Besonderheit ist nicht mehr begründbar.

Zusätzlich verwendete Literatur

Engels, Friedrich (1967[1890]): Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890. In: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 37. Dietz, Berlin, S. 462–5. Marx, Karl (1978[1857]): Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie]. In: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 13. Dietz, Berlin, S. 615–42. Marx, Karl (1962[1867]): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. In: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 23. Dietz, Berlin.

Nancy Fraser 2023:
Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Übersetzt von: Andreas Wirthensohn. 2. Auflage.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-02983-1.
282 Seiten. 20,00 Euro.
Zitathinweis: Christian Stache: Intersektionaler Revisionismus. Erschienen in: Ausbeutung. 67/ 2023. URL: https://kritisch-lesen.de/s/5rKi3. Abgerufen am: 21. 11. 2024 12:17.

Zum Buch
Nancy Fraser 2023:
Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Übersetzt von: Andreas Wirthensohn. 2. Auflage.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-02983-1.
282 Seiten. 20,00 Euro.