Schattenarmeen des digitalen Kapitalismus
- Buchautor_innen
- Moritz Altenried
- Buchtitel
- The Digital Factory
- Buchuntertitel
- The Human Labor of Automation
Leben wir in einem blühenden Zeitalter der Automatisierung, in der uns alle Arbeit abgenommen wird oder wurde lediglich die Ausbeutung automatisiert?
Künstliche Intelligenzen – kurz KIs – automatisieren alles. So in etwa lautete das große Metanarrativ, das Tech-Kapitalist*innen kurz nach der Wirtschaftskrise 2008 heiter in alle Welt posaunten. Technologieriesen wie Amazon, Google oder Uber wurden im Nachgang der Krise zum unternehmerischen Sinnbild für eine kapitalistische Zukunft jenseits menschlicher Arbeit. Wer brauchte noch Postbot*innen, wenn Amazon bald automatisierte Lieferdrohnen einsetzen würde? Wer wollte noch einen Taxifahrer bezahlen, wenn Uber schon bald ganze Flotten selbstfahrender Fahrzeuge einsetzen würde?
Heute, eineinhalb Jahrzehnte nach der Krise, scheint die graue kapitalistische Realität die schillernden Versprechen der Technologieunternehmen wieder eingeholt zu haben. Selbstfahrende Autos bleiben ein vages und regelmäßig nach hinten verschobenes Versprechen und anstatt von Robotern sind es Armeen prekarisierter Zusteller*innen aus Fleisch und Blut, die über die Straßen von Metropolen auf der ganzen Welt hetzen. Was die uneingelöste Vision allumfänglicher Automatisierung heraufbeschworen hat, ist eine Frage, die ebenso simpel wie schwerwiegend ist: Wenn es nicht das Zeitalter der Automatisierung ist, das gerade über uns hereinbricht, durchleben wir dann vielmehr die Anfänge einer neuen Ära der Ausbeutung? Es ist exakt diese Frage, die im Mittelpunkt von Moritz Altenrieds Buch „The Digital Factory. The Human Labor of Automation“ steht.
Die digitale Fabrik als räumliche Verlagerung von Arbeit
Altenried ist nicht der erste, der das Problem aufwirft. Bereits erschienene Werke, etwa von Aaron Benanav (2022, die Rezension des Buchs in Ausgabe #62), Ursula Huws (2019, Interview mit Huws in Ausgabe #48),) oder Jason E. Smith (2020, Essay von Smith in Ausgabe #48), hatten eine ähnliche Stoßrichtung. Auch sie pochten mit aller Macht auf den zentralen Punkt, dass menschliche Arbeit eine unverzichtbare Triebkraft des globalen Kapitalismus bleibt, sei dieser nun digital oder nicht. Obwohl Altenrieds sieben Kapitel dagegen kaum etwas einzuwenden haben, ist da etwas in seinen Ausführungen, das vorhergehende – meist rein theoretisch agierende – Publikationen kaum zu liefern wussten: nämlich eine überzeugende Verflechtung theoretischer Breite und empirischer Tiefe.
Ausgehend von weitreichenden ethnographischen Erkundungen liefert Altenried faszinierende empirische Beweise dafür, dass sich die Welt der Arbeit in den vergangenen Jahren drastisch verändert hat. Diese Welt, so Altenried, finden wir heute auf ganz unterschiedlichen geographischen Maßstabsebenen. Diese sind so digital wie analog, so sozial wie physisch. In Erscheinung treten sie unter anderem in der globalen Logistik und bei urbanen Lieferdiensten, innerhalb crowdgesourcter Datenkennzeichnung oder dem menschengestützen Training künstlicher Intelligenz. Über all diese verschiedenen Orte und Situationen hinweg hat sich ein neues globales Arbeitsregime herausgebildet: die digitale Fabrik.
Die Idee der digitalen Fabrik steht in erheblichem Kontrast zu jenen Theorien des Digitalzeitalters, die ihren Schwerpunkt auf den Aufstieg kreativer, künstlerischer oder gar immaterieller menschlicher Arbeit gelegt hatten. Da er die Fabrik als einen sowohl historischen als auch gegenwärtigen Ort auszehrender menschlicher Arbeit aufruft, kümmert sich Altenried weniger um die kreativen Dimensionen heutiger Arbeitsregime. Vielmehr will er jene neuen digitalen Regime der Arbeit beleuchten, die viele der Kennzeichen eines früheren, Tayloristischen Zeitalters tragen. In diesem Sinne ist der digitale Kapitalismus „nicht vom Absterben der Fabrik geprägt, sondern von ihrer Explosion, Multiplikation, räumlichen Rekonfiguration und technologischen Mutation hin zur digitalen Fabrik“ (S. 6; Übers. FN).
Migrantisiertes Goldfarming
Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist das enorm erfolgreiche Videospiel World of Warcraft. Die virtuelle Spielwiese von World of Warcraft, besucht von Millionen von Gamer*innen weltweit, erstreckt sich über eine gewaltige mittelalterliche Landschaft: Meere und Wälder, Dörfer und Städte gehen ineinander über. Um die verschiedenen Herausforderungen des Spiels zu meistern, müssen Gamer*innen Gold und andere wertvolle Gegenstände sammeln, die es ihnen erlauben, die vielen Levels des Spiels nach und nach zu durchschreiten. Es war nicht zuletzt der erhebliche Zeitaufwand für Spieler*innen von World of Warcraft, den die in Hong Kong ansässige Firma Internet Media Entertainment (IGE) für ihr Geschäftsmodell auszunutzen wusste. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges im Jahr 2006 bot der Webshop von IGE – im Tausch gegen reales Geld – eine ganze Palette an spielinternen Dienstleistungen für World of Warcraft an. Das Unternehmen „verkaufte virtuelle Güter wie etwa Waffen und seltene ‚Reittiere’, sogar ein Service für die Weiterentwicklung von Spielcharakteren wurde angeboten – Gamer*innen konnten ihre Accounts übergeben und bekamen sie einige Stunden später und im Austausch für Geld auf ihrem Wunschlevel zurück“ (S. 63; Übers. FN).
Bis heute werden maßgeschneiderte Services wie diese durch eine Schattenarmee professioneller Spiel-Arbeiter*innen ermöglicht. Häufig arbeiten diese sogenannten Goldfarmer in spezialisierten Spiele-Workshops in China. In diesen streng organisierten Spielfabriken wird nur wenig dem Zufall überlassen:
„Ein typischer chinesischer Spielworkshop besitzt zwischen zwanzig und einhundert Computer and etwa fünfzig bis zweihundert Arbeiter*innen, die in Schichten spielen, sodass jeder Computer durchgehend läuft. Viele dieser digitalen Fabriken bieten Wohnheime und Verpflegung für ihre Arbeiter*innen an, die fast alle männlich und zwischen sechzehn und vierzig Jahre alt sind“ (S. 67; Übers. FN).
Während Kund*innen aus den USA, Europa, Japan und Korea etwas Geld auf den Tisch legen, um schneller durch das Spiel zu kommen, verbringen chinesische Spiel-Arbeiter*innen Stunden mit denselben monotonen Klickaufgaben.
Während chinesische Goldfarmer*innen auf analoger Seite mit rigiden Sollvorgaben und strenger Überwachung von ihren Vorgesetzten konfrontiert sind, haben sie es in der digitalen Welt von World of Warcraft wiederum oft mit rassistischen Angriffen anderer Spieler*innen zu tun. Nicht selten nehmen reine Freizeit-Spieler*innen chinesische Goldfarmer*innen als „migrantische Eindringlinge" wahr, die das Spielethos von World of Warcraft hintergehen:
„Im digitalen Raum von World of Warcraft werden Goldfarmer als illegale Migranten angesprochen, die in einem Raum arbeiten, in dem andere spielen. In der gesamten Spiellandschaft findet eine Art racial profiling statt, um zwischen legitimen ‚Freizeitspieler*innen’ und ungewollten ‚Spiel-Arbeiter*innen’ zu unterscheiden. Avatare, deren Namen aus Nummern bestehen oder in irgendeiner Weise nicht ‚westlich’ zu sein scheinen, werden oftmals mit Argwohn beäugt. Westliche Spieler*innen bilden sogar ‚Wachtrupps’ um chinesische Farmer zur Strecke zu bringen“ (S. 74; Übers. FN).
Die Schattenökonomie von World of Warcraft ist ein Paradebeispiel der digitalen Fabrik und zeugt davon, dass diese von tiefen globalen Dynamiken der Ausbeutung, Rassifizierung und virtuellen Migration durchzogen ist.
Altenrieds Einsichten in den sich rasch wandelnden Zusammenhang von technologischem Wandel, Digitalisierung und globaler Arbeit sind atemberaubend. „The Digital Factory“ entwickelt ein tieferes Wissen über jenes sowohl soziale als auch physische Terrain, auf dem gegenwärtige und zukünftige Arbeitskämpfe wohl oder übel ausgetragen werden müssen. Dieses Unterfangen weiterzuführen, auszuweiten und zu diversifizieren ist und bleibt ein enormes Vorhaben. Bücher von ähnlicher intellektueller Gründlichkeit und vergleichbarer politischer Tiefe werden dringend gebraucht.
Anmerkung
Die Rezension unseres ehemaligen Redakteurs Fabian erschien zuerst auf Englisch im Magazin Society + Space (2022).
The Digital Factory. The Human Labor of Automation.
University of Chicago Press, Chicago.
ISBN: 9780226815480.
216 Seiten. 25,00 Euro.