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Stadt für alle!

Buchautor_innen
Andrej Holm
Buchtitel
Wir bleiben Alle!
Buchuntertitel
Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung

Der Stadtsoziologe Andrej Holm führt auf knapp 80 Seiten in die Verdrängungsprozesse aus Stadtteilen ein und zeigt zugleich konkrete Handlungsperspektiven auf.

Im März 2008 titelte das ehemals alternative Berliner Stadtmagazin ZITTY „Neukölln rockt!“ – und führte die Lesenden durch den „derzeit spannendsten Stadtteil“ Berlins. Zwar funktionierte der Größte der Berliner Bezirke noch während der „Sarrazindebatte“ im Herbst 2010 als Inbegriff für einen Problembezirk, dennoch breiten sich genau dort hippe Cafés, Ateliers und Szenekneipen aus, wo es im Schatten der Rütli-Schule nur so vor Jugendgangs und Parallelwelten wimmeln müsste, würde man nach so manchen Medienberichten gehen. Bereits jetzt eröffnen erste Bioläden und gekoppelt mit mehr oder weniger notwendigen Sanierungen steigen die Mietpreise rapide an, die sich viele ärmere Bewohner_innen nicht mehr leisten können. Aus Protest gegen Verdrängungsprozesse werden Autos angezündet, Drohungen gegen Tourist_innen und „Yuppies“ an Häuserwände gesprüht oder neue Szenekneipen mit Farbe verschönert oder entglast. Neben diesen medial verbreiteten Formen vernetzen sich jedoch auch zunehmend Betroffene und Aktivist_innen, gehen Bündnisse ein, geben Stadtteilzeitungen heraus und versuchen somit auf anderen Ebenen Widerstand gegen Verdrängung zu organisieren. Ob Autozündler_in oder Stadtteilaktivist_in: Beiden sei ein 2010 bei Unrast erschienenes schmales Bändchen empfohlen, das erhellende Einblicke in den komplexen Prozess der Gentrifizierung liefert: „Wir Bleiben Alle!“ von Andrej Holm.

Gentrification-Prozesse

Der Begriff Gentrification wurde erstmals in den 1960ern verwendet und machte aufgrund einer Renaissance der Innenstädte während der letzten Jahre Karriere fern von stadtsoziologischen Spezialdiskursen. Der Begriff beschreibt einen Prozess, bei dem sich symbolische Aufwertung, Inwertsetzung und Verdrängung vollziehen. Idealtypisch läuft Gentrification folgendermaßen ab: Zunächst ziehen Künstler_innen, Studierende und Alternativszenen in einen maroden Stadtteil, weil die Mieten günstig sind und sie sich dort Entfaltungsmöglichkeiten erhoffen. Diese Pioniere eröffnen Szenekneipen, Buchläden und Ateliers, worauf sich das Image des Stadtteils von „Problemkiez“ in „Szenekiez“ ändert. Die Stadtteile werden interessant für Investor_innen und Besserverdienende: Aus einer symbolischen Aufwertung durch Modernisierungen der meist unsanierten Wohnungen wird eine bauliche Modernisierung. Damit steigen die Mieten, was zur Verdrängung der dort lebenden Bewohner_innen – und später häufig auch der Pioniere – führt. So geschehen etwa in Prenzlauer Berg, wo 15 Jahre nach Beginn der Modernisierungen lediglich 20% der früheren Bewohner_innen leben (vgl. S. 10). Dieser Prozess wird jedoch nicht immer nur durch symbolische Aufwertung (also den Imagewechsel) eingeleitet – oder ist allein auf den Zuzug von Studierenden und Künstler_innen zurückzuführen. Holm stellt klar, dass Gentrification in Sanierungsgebieten oft öffentlich gefördert wird.

Gentrificationprozesse durchlaufen nicht immer den klassischen Weg. So können etwa Büronutzungen und Luxuswohnprojekte in ehemaligen Industrieanlagen auch zu Verdrängungsprozessen in umliegenden Gebieten führen – hier funktioniert Gentrification ganz ohne symbolische Aufwertung durch Pioniere. Auch kann Gentrification „light“ verlaufen, wie etwa in Berlin-Kreuzberg, wo die Aufwertung zwar noch nicht zu Verdrängung geführt habe, aber sich durch steigende Mietbelastungsquoten eine kleinteilige soziale Polarisierung und somit eine „Verdrängung aus dem Lebensstil“ (S. 18) stattfindet.

Ökonomische und kulturelle Begründungen

Nach der Beschreibung verschiedener Aufwertungs-Prozesse widmet sich Holm Erklärungsmodellen jenseits platter deterministischer Erklärungen, nach denen Gentrification schlicht ein natürlicher Prozess sei. Holm stellt klar, dass die Fragen nach den Ursachen keine abgehobene akademische Diskussion ist, sondern direkten Einfluss auf Gegenstrategien hat. Wird etwa den Pionier_innen die Hauptschuld an Verdrängungsdynamiken gegeben und ihr Zuzug als ursächliches Problem diagnostiziert, wären Widerstandsformen vor allem in Deattraktivierungsstrategien zu suchen, um das Image des Stadtteils zu verschlechtern. Holm erteilt diesem verkürzten Verständnis eine Absage und befasst sich zunächst im zweiten Kapitel mit makro- und mikroökonomischen Begründungszusammenhängen. Von traditionellen Wohnungsbauunternehmen hätte sich der Immobilienmarkt zunehmend in ein Feld für Spekulationen entwickelt, bei dem eine Immobilienanlage nicht mehr langfristig kalkulierbares Einkommen sichern soll, sondern schnelle Wertsteigerungen erhofft werden.

Holm spart nicht die kulturellen Logiken bei Aufwertungsprozessen aus. Statt aber schlicht das kontrastreiche Bild der „Studenten, Künstler, Photographen“ als Schuldige zu zeichnen, blickt er auf die Schattierungen. So findet häufig eine Inwertsetzung von Subkulturen statt, indem etwa Ausdrucksformen der Hausbesetzer_innenszene in Marketingstrategien überführt werden. Ähnliches stellt Holm beim erfolgreichen Widerstand im Hamburger Gängeviertel fest, bei dem es Aktivist_innen des „Recht-auf-Stadt-Bündnisses“ im Sommer 2009 gelang, durch medial gut vermittelte Besetzungen von Leerstand die Hamburger Bürgerschaft dazu zu bringen, den Verkauf der Gebäude an einen Investor rückabzuwickeln. „Die künstlerfreundliche Lösung im Gängeviertel sollte aber nicht nur das Investitionsklima retten, sondern wurde gleich mit in das Marketing für die Marke Hamburg übernommen.“ (S. 36) Am Ende des Kapitels zu den kulturellen Logiken stellt Holm drei mögliche Anti-Gentrification-Aktivitäten zur Diskussion: Nach einer Strategie der Dislokation sollten nicht-gentrifizierbare oder bereits aufgewertete Räume als Platz für Aktivitäten gewählt werden. Zweitens zeige das Beispiel der Kampagne „KÖPI bleibt Risikokapital“, dass Kulturen der Abschreckung durchaus funktionieren können – bis heute haben sich für das Hausprojekt in Berlin-Mitte keine Investor_innen gefunden, andererseits zeige das Beispiel der Roten Flora in St. Pauli, wie solche Widerstandsformen in das „wilde“ Image eines Stadtteils integriert werden können. Eindringlich schlägt Holm drittens eine Kultur des Widerstands vor:

„Statt sich in immer wiederkehrenden Diskussionen über die eigene Pionierrolle in städtischen Aufwertungsprozessen den Kopf zu zerbrechen, wäre es hilfreicher, wenn Künstler_innen oder auch Hausbesetzer_innen sich öfter mal fragten, wie sie Stadtteilinitiativen und Nachbarschaftsorganisationen praktisch unterstützen können.“ (S. 38f)

Politische Interessen und wissenschaftliche Diskurse

Gentrification ist jedoch nicht nur durch ökonomische Angebotsbegründungen und symbolische Aufwertungen begründbar. Hinzu kommt eine Politik der Aufwertung, bei der Planungsvorgaben, Genehmigungsverfahren, Subventionen und stadtpolitische Leitbilder eine Rolle spielen. Im Sinne einer unternehmerischen Stadtpolitik werden Städte wie Berlin zur „Creative-City“ konstruiert und gegen andere Städte im nationalen und globalen Wettbewerb der verschiedenen (Stadt-)Unternehmen in Stellung gebracht. Hegemonial ist in der Stadtpolitik eine allgemeine Wachstumsorientierung. Auch ein Blick auf ordnungs- und machtpolitische Strategien offenbart komplexe Taktiken zur Durchsetzung von Interessen. So dient die gegenwärtige Stadtpolitik der Ordnungspolitik und Aufstandsbekämpfung. Geschickterweise gehen Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse mit (lokaler und temporärer) sozialpolitischer Befriedung einher, indem mit mäßigem Erfolg versucht wird, mittels der Orientierung einer „Sozialen Mischung“ zu intervenieren. Durch die vermeintliche Einbeziehung der Bewohner_innen soll eine „kommunikative Stadtplanung“ ermöglicht und dadurch die Mieter_innen diszipliniert werden. Zu Recht stellt Holm fest, dass „Konstellationen, in denen alle gleichberechtigt miteinander reden und gemeinsame Lösungen suchen, (…) jedoch strukturelle Unterschiede [negieren]“ (S. 49).

Nach den Komplexen Ökonomie, Kultur und Politik widmet sich Holm im fünften Kapitel den diskursiven Legitimationsstrategien von Gentrificationprozessen. Um den unangenehmen Beigeschmack des pejorativen Begriffs der Gentrification etwas entgegen zu setzen, wird zum einen versucht, Verdrängungsdynamiken zu leugnen oder zu verharmlosen, indem etwa auf die durchaus bestehenden Schwierigkeiten bei der Messung von empirischen Verdrängungen verwiesen wird. Ein anderer Versuch besteht in Romantisierungsversuchen, bei denen behauptet wird, Problemkiezen würde „ein bisschen Gentrification“ ganz gut tun – und doch alles ganz schön sei, wenn es eine soziale Mischung in einem Stadtteil gebe. Holm entgegnet, dass diese soziale Mischung nur selten stattfinde. Oft sei das Gegenteil der Fall; so entstehen etwa durch rassifizierende Verdrängungen von People of Color und Schwarzen Bewohner_innen weiße Ghettos.

Was tun?

Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit der Frage, was gegen Verdrängungsprozesse getan werden kann. Auf wissenschaftlicher Ebene fehlt es vor allem an methodischen Werkzeugen zur Untersuchung von direkten und indirekten Verdrängungsdynamiken. Der Soziologe Holm wendet neben den Fragen nach wissenschaftlichen Interventionen den Blick aber insbesondere auf konkrete aktivistische Strategien, denn „[s]o vielschichtig und komplex städtische Aufwertungsprozesse auch sein mögen, im Kern steht für viele vor allem ökonomisch benachteiligte Haushalte immer die Frage, ob sie bleiben können oder gehen müssen.“ (S. 67) „Wir Bleiben Alle!“ lautete etwa die Parole von Mieter_innen in Berlin-Prenzlauer Berg Anfang der 1990er Jahre, auf die auch gegenwärtig bei Kampagnen Bezug genommen wird. Holm mahnt jedoch an, dass sich solche Kampagnen nur dann zu einer Klammer stadtpolitischer Forderungen entwickeln, wenn subkulturelle Selbstbezogenheiten seitens vieler Projekte und Initiativen überwunden werden.

Gegen Verdrängung weist Holm auf die Möglichkeit der Kombination von Deattraktivierungsstrategien und sozial orientierter Wohnungspolitik, Mieterberatungsangeboten und die Verhinderung beziehungsweise Verzögerung umstrittener Bauprojekte hin. Ein überwiegend gelungenes Beispiel stellen die Recht auf die Stadt-Kampagnen dar, die Anti-Gentrification-Kämpfe und Widerstand gegen Überwachung und Privatisierung mit der Forderung nach Teilhabe – insbesondere für die Marginalisierten – verbinden. In Hamburg etwa umfasste ein solches Bündnis über 20 Gruppen: Von autonomen Initiativen bis zu Kleingärtner_innen. Das Konzept biete einen geeigneten Rahmen für städtische Konflikte im Neoliberalismus. Holm empfiehlt horizontale Netzwerkstrukturen, breite Massenmobilisierungen und inhaltliche Fokussierungen auf Selbstermächtigungen.

„Wir Bleiben Alle!“ vereint überzeugend wissenschaftliche und aktivistische Aspekte und Interventionsmöglichkeiten. Es gelingt Andrej Holm auf wenigen Seiten in geballter Form die Erscheinungsformen, Begründungszusammenhänge und Möglichkeitsräume sowohl für interessiertes Fachpublikum als auch für Aktivist_innen verständlich darzustellen. Der besondere Vorzug des Bandes liegt darin, dass Holm dennoch nicht vereinfacht und komplexe Zusammenhänge verkürzt, sondern seine Ausführungen profund durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht. Ob der Seltenheit ist es geradezu beeindruckend, dass über die Vermittlung wissenschaftlicher Diskurse hinaus konkrete Handlungsperspektiven diskutiert werden.

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Wer sich weiter mit dem Thema befassen möchte, sollte regelmäßig den Blog von Andrej Holm besuchen.

Andrej Holm 2010:
Wir bleiben Alle!. Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 987-3-89771-106-8.
80 Seiten. 7,80 Euro.
Zitathinweis: Sebastian Friedrich: Stadt für alle! Erschienen in: Wem gehört die Stadt? 12/ 2011, Gegenöffentlichkeit in Bewegung. 60/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/s/HCFfB. Abgerufen am: 02. 11. 2024 09:55.

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Andrej Holm 2010:
Wir bleiben Alle!. Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 987-3-89771-106-8.
80 Seiten. 7,80 Euro.