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‚Natürlichkeit’ aus feministischer Perspektive

Buchcover ist  schwarz mit Schrift in rosa. Aus dem Titel des Buchs "Geschlecht" fällt das "l" nach unten.
Buchautor_innen
Heinz-Jürgen Voß
Buchtitel
Geschlecht
Buchuntertitel
Wider die Natürlichkeit

Heinz-Jürgen Voß greift die Erkenntnisse seiner Dissertation („Making Sex Revisited“) noch einmal pointiert auf und nimmt Debatten um die Natürlichkeit (vs. gesellschaftliche Herstellung) der Geschlechterbinarität in den Blick.

Ausgehend von den Überlegungen Simone de Beauvoirs in Das andere Geschlecht , Judith Butlers Theorem der Konstruktion auch körperlicher Zweigeschlechtlichkeit und Karl Marx’ kapitalismuskritische Überlegungen zu gesellschaftlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Menschen arbeitet sich Voß durch die Geschichte der Geschlechtertheorien, um im Anschluss die Forschungspraxis biologisch-medizinischer Wissenschaft einer eingehenden Kritik zu unterziehen. Schlussendlich plädiert Voß dafür,

„sich überhaupt mit den tatsächlichen Lebensrealitäten von Menschen auseinanderzusetzen, die über andere Lebenserfahrungen verfügen als man selbst. […] Es geht darum, Wissenschaft als Teil einer politischen Tätigkeit zu begreifen, die bislang meist auf die Bedürfnisse Privilegierter ausgerichtet war.“ (S. 49)

Voß vertritt damit die Ansicht, dass Forschung über und von Menschen immer die gesamten Lebensumstände in den Blick nehmen muss – die der Forschungssubjekte ebenso wie die eigenen als Forschende_r. In der Studie wird dies geleistet, indem zum einen neben der Kategorie Geschlecht immer auch die Kategorien Bildungsmöglichkeiten, race und Klasse mitgedacht werden; zum anderen stellt Voß alle genannten Forscher_innen immer auch in Zusammenhang mit ihren Lebensumständen, indem bedeutsame Aspekte ihrer Biographie in die Texte einfließen. Insbesondere zweites ist eine spannende Art, die Texte zu verfassen: Der_die Leser_in wird immer wieder darauf aufmerksam, dass es sich auch bei forschenden Personen immer um Menschen mit einer gesellschaftlichen Positionierung und daraus resultierendem Fokus des Forschungsinteresses handelt.

Für eine ‚Natürlichkeit’ zweier Geschlechter fehlen stichhaltige Beweise

Im ersten Kapitel stellt er heraus, warum es sich lohnt, die „Natürlichkeit“ von Geschlechterdifferenzen kritisch zu betrachten: ‚Biologie’ sei ebenso wie ‚Gott’ eine machtvolle Instanz, die angeführt wird, um Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu belegen. Problematisch dabei sei, dass jene Instanzen außerhalb der Einflussnahme von Mensch und Gesellschaft liegen, als vorgegeben und unabänderlich daherkommen und so die Möglichkeiten von Menschen unter Berufung auf den Glauben an sie beschränken (vgl. S. 19). Mit bedeutenden Streiterinnen vom 14. bis 17. Jahrhundert – Christine de Pizan, Moderata Fonte, Marie le Jars de Gournay – stellt Voß heraus, dass sich bereits früh gegen biologistische Auffassungen von Geschlecht gewendet wurde: Jene frühen Feministinnen erstritten mit ihrem Einspruch eine bessere gesellschaftliche Position von ‚Frauen’.

Voß nimmt im zweiten Kapitel zunächst die Intersektionalität, also die Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen wie Geschlecht, Klasse, Bildungsniveau (und -möglichkeiten) und race in den Blick und kritisiert, dass Geschlechterforschung immer eine Forschung privilegierter Personen ist:

„So ist es nicht ausschließlich der Quellenlage geschuldet, dass arme Menschen kaum im Blick sind und dass beispielsweise die Ansicht verbreitet ist, seit der ‚Moderne’ seien stets Theorien nur zweier Geschlechter vertreten worden. In dieser Behauptung spiegelt sich vielmehr die Perspektive von jetzt Forschenden, eingebunden in ihre Sozialisation und aktuelle gesellschaftliche Debatten.“ (S. 45)

Im Anschluss an diese Wissenschaftskritik leitet Voß seine Prämisse her, dass Menschen gesellschaftliche Wesen sind und zeigt, dass diese Überzeugung keine neue in der Wissenschaft ist: Lange vor den Überlegungen zur gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht (Baltimorer gender -Theory; nach John Money, Joan G. Hampson und John L. Hampson in den 1950er/60er Jahren) stellte bereits Karl Marx in seinen Schriften heraus, dass „das Individuum […] das gesellschaftliche Wesen“ ist. „Seine Lebensäußerung […] ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens“ (Marx 1962 zit. n. Voß 2011, S. 54). Geschlecht sei, so Voß, ebenso einer genauen Analyse zu unterziehen wie Marx dies für Produktionsweisen bereits tat. Dies sei der geeignete Weg, ein gutes Leben für alle Menschen zu erkämpfen, ohne Diskriminierungen und Ungleichbehandlung (vgl. S. 60).

In der nun folgenden Diskursanalyse historischer Überzeugungen zur Geschlechtsentwicklung zeigt Voß, dass es keine eindeutige Linie gegeben hat, die schon immer von zwei und nur zwei Geschlechtern ausgeht: Auch in Medizin und Biologie gab es sich widersprechende Ansätze – Differenz der Geschlechter auf der einen Seite, Gleichheit auf der anderen. Voß stellt immer wieder auch Überlegungen verschiedener Forscher_innen zum Bildungspotential oder körperlichen Konstitution der Geschlechter heraus und zeigt damit, dass diese Ansätze stets auch genutzt wurden, um die gesellschaftliche Stellung der Geschlechter zu begründen oder eine Besserstellung der ‚Frauen’ zu erstreiten.

Im letzten Kapitel wendet sich Voß den aktuellen Auffassungen zur Geschlechtsentwicklung zu und kommt – mit Blick auf die eingangs beschriebene Wissenschaftskritik – zu dem Schluss, das biologisch-medizinische Forschungen eigentlich das Potential hätten, den Geschlechterdualismus in Frage zu stellen. Mit der Begründung, die Forschung müsse weithin verständlich bleiben, werden veraltete und lückenhafte Theorien in populären Medien veröffentlicht. Die

„Fachwissenschaftler_innen […] sind allerdings oftmals der Meinung, der besseren Verständlichkeit wegen vereinfachen zu müssen. Damit hat die biologisch-medizinische Wissenschaft selbst auch einen Anteil daran, dass sich das ‚populäre Wissen’ über genetische Abläufe nicht aktualisiert, sondern sich ideologisch heute noch in vielerlei Hinsicht auf dem Stand des 20. Jahrhunderts befindet.“ (S. 157)

Die Wissenschaft stellt derartige Überlegungen zugunsten ihrer Popularität aufs Abstellgleis – und steuert mit veralteten Theorien weiterhin gesellschaftliche Anerkennung der Zweigeschlechtlichkeit und Pathologisierung weiterer Geschlechter.

Voß akzentuiert abschließend mithilfe integrierender, systemischer Betrachtungen, dass die Geschlechtsentwicklung kein simpler Ablauf sein kann, sondern diverse Faktoren in den Prozess der Entwicklung einwirken. Neben den Lebensumständen der Personen, deren Eizelle, Spermium und Gebärmutter beteiligt sind, spielen komplexe Abläufe auf molekularer Ebene bei der Ausbildung und Spezifikation von Zellen eine Rolle. Gene und Genprodukte, Chromosomen, Keimdrüsen, Quantitäten und Qualitäten der körperlichen Merkmale, Fruchtbarkeit – „alle diese Merkmale zusammen werden bei keinem einzigen Menschen in eine ‚eindeutige’ Richtung ‚weiblich’ oder ‚männlich’ zusammenspielen.“ (S. 163)

Eine tatsächliche Grundlage für ausschließende gesellschaftliche Konzepte von Zweigeschlechtlichkeit gebe es damit nicht. Also

„gilt [es], eine gerechte Gesellschaft zu erstreiten, die sich an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen orientiert und die jeden Tag neu erkämpft und gestaltet werden muss, damit nicht ein Zustand entsteht, in dem Menschen erneut bedrückt und benachteiligt werden. Für diese gerechte Gesellschaft ist Utopie nötig und eigenes Tun gefragt. Fangen wir – Du und Du und Du und Du …und Ich – jetzt damit an!“ (S. 166)

Verständlich, streitbar und gehaltvoll

Das Buch ist in sehr verständlicher und angenehm zu lesender Sprache verfasst. Voß nimmt den_die Leser_in mit durch das Buch, indem immer wieder Zusammenfassungen gemacht werden und darauf verwiesen wird, an welcher Stelle der Argumentation eine_r sich gerade befindet. Das Buch ist ein sehr gutes Destillat der Erkenntnisse der oben genannten Dissertation, hier werden die dort ausführlich und – den Umständen geschuldet – hochwissenschaftlich formulierten Erkenntnisse für Menschen formuliert, die sich in der biologisch-medizinischen Wissenschaft wenig bis gar nicht auskennen. Zum einen ein toller Einstieg für die Auseinandersetzung mit dem biologisch-medizinischen Diskurs, der in der Diskussion um die Kritik der Heteronormativität immer wichtiger werden wird – nicht zuletzt aufgrund immer populärer werdender biologistischer neurowissenschaftlicher Ansätze, die den Essentialismus der Zweigeschlechtlichkeit versuchen in das Gehirn zu verlagern – und ihn so weiterhin unzugänglich für Kritik zu halten. Voß‘ Arbeit bietet die Möglichkeit, solchen Ansätzen zu widersprechen, auch, indem weiterführende Werke genannt werden, mit denen eine_r sich in diverse Richtungen weiterbilden kann. Zum anderen auch eine gelungene integrierende Arbeit: Die Intersektionalität verschiedener Unterdrückungsmechanismen wird im Buch immer wieder hervorgehoben, die Lebensumstände in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenspiel als verantwortlich für die gesellschaftliche Stellung einer Person betont. Dieser stark feministisch geprägte Ansatz ist die Basis aller Überlegungen – auch jener zur biologisch-medizinischen Neuschreibung von Geschlechtsentwicklung.

Insgesamt ein empfehlenswertes Bändchen der theorie-org-Reihe, über das es sich zu unterhalten gilt!

*

Die Rezension erschien zuerst im März 2011 auf mädchenblog.de (Update: kritisch-lesen.de, lj, 05/2011)

Heinz-Jürgen Voß 2011:
Geschlecht. Wider die Natürlichkeit.
Schmetterling-Verlag, Stuttgart.
ISBN: 3-89657-663-1.
180 Seiten. 10,00 Euro.
Zitathinweis: Anja Gregor: ‚Natürlichkeit’ aus feministischer Perspektive. Erschienen in: Rechte „Mitte“ – „extreme“ Rechte. 3/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/CBYHs. Abgerufen am: 21. 11. 2024 12:43.

Zum Buch
Heinz-Jürgen Voß 2011:
Geschlecht. Wider die Natürlichkeit.
Schmetterling-Verlag, Stuttgart.
ISBN: 3-89657-663-1.
180 Seiten. 10,00 Euro.