Nach unten schauen!
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- Eva von Redecker
- Buchtitel
- Revolution für das Leben
- Buchuntertitel
- Philosophie der neuen Protestformen
Der Widerstand gegen die kapitalistische Herrschaft bezieht notwendigerweise einen anderen Blick auf Leben und Naturzyklen mit ein.
Ein „Planeten-Killer“-Komet rast unaufhaltsam auf die Erde zu. In sechs Monaten und 14 Tagen wird er mit der Erde kollidieren. Das Ende der Menschheit, das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Aber die politischen und wirtschaftlichen Eliten haben andere Interessen als den Schutz der Erdbevölkerung: Den Ausbau der eigenen Machtsphären, grenzenlose Ressourcennutzung, maximaler Profit. Dass die Erde dabei zu 99,78 Prozent komplett zerstört und lebensunwert gemacht wird? Ausnehmend schlechter Zeitpunkt für diese Art von Information im aktuellen Politzirkus: „The timing is just, it‘s atrocious. Okay, at this very moment, I say we sit tight and assess.” Grob übersetzt: Die Arschbacken zusammenkneifen – und nichts tun. Einzige Handlungsoption? Milliardenschweren Tech-Visionär:innen dabei zu applaudieren, wie sie die Karre vollends in den Dreck setzen.
Die Idee, den Umgang der Herrschenden mit Klimakrise und Pandemie popkulturell zu verarbeiten, bescherte dem Blockbuster „Don’t look up!“ von Regisseur Adam MacKay im Winter 2021 satte Besucher:innenzahlen. In jeder Filmbesprechung werden Parallelen in die Jetztzeit gezogen, die schmerzhaft offensichtlich sind. Gleichzeitig ziehen wir aber kaum Lehren darüber, wie dem Klima-Desaster – und dem Grauen des weltumspannendenden Raubbaus von Mensch und Natur – noch Einhalt geboten werden kann. Hier kommt das Buch „Revolution für das Leben“ gelegen, das die Philosophin Eva von Redecker vor einiger Zeit veröffentlicht hat.
Wo war der Strand nochmal?
Die seltsame Starre, die die Wissenschaftlerin Kate Dibiasky im Film erfasst, als sie in der – satirisch etwas zurechtgespitzten – kapitalistischen Ordnung versucht, Lösungswege zu sehen, ist eine, die auch in der Bewältigung der Corona-Pandemie sichtbar wird. Wir sehen Menschen, die von anderen Menschen, von solidarischer Organisierung, vom Glauben an die eigene und kollektive Handlungsfähigkeit weit entfernt sind oder sich von der sie umgebenden Welt entfremdet fühlen. Ein Zustand, den von Redecker einordnet: „Es mag abwegig erscheinen, dass wir uns in einer Welt, in der 7,7 Milliarden Menschen leben, verlassen fühlen sollten. Aber die Verlassenheit ist keine Frage der Existenz anderer, sondern der Beziehung zu ihnen“ (S. 40).
Es sind Begriffe wie Sachherrschaft, sachliche Herrschaft oder Phantombesitz, mit denen von Redecker zentrale Aspekte der kapitalistischen Ordnung beschreibt. Letzterer etwa „ist ein Grundbaustein moderner Identitäten. Er besteht einerseits im Anspruch über bestimmte andere zu verfügen und andererseits darin, auf bestimmte Weisen als verfügbar zu erscheinen. Phantombesitz kann man also haben – oder sein“ (S. 34).
Was „Leben“ sei, das führt sie schon auf den ersten Seiten aus: Es müsse gefasst werden als „Befreiung von kapitalistischer Herrschaft“ (S. 9), geht also über den allgemeinen Lebensbegriff hinaus. Leben und Kapitalismus, das passt objektiv nicht zusammen, denn die kapitalistische Wirtschaftsweise verwüstet den Planeten, und damit unsere Lebensgrundlage. Sie ist dennoch tief in unseren Alltag eingraviert, verstärkt darin autoritäre Dynamiken, Herrschaftsverhältnisse und Verwertungslogiken. Leben im Kapitalismus sei, so schreibt Eva von Redecker, als säßen wir „in einer hochtourigen Achterbahn, deren Gerüst bröckelt“ (S. 127). Kommen wir da überhaupt lebend raus?
Von Redeckers gesellschaftliche Bestandsaufnahme geht in vornehmlich historisch angelegten Unterkapiteln vor: Beherrschen, Verwerten, Erschöpfen und Zerstören fungieren dabei als Zustandsbeschreibungen der destruktiven kapitalistischen Welt. Dann, der dialektische Kniff: Von Redecker zeigt Möglichkeiten, wie diese Weltverhältnisse überwunden werden könnten: „Katastrophen-Vergegenwärtigung" (S. 92) als Modus der neuen Protestformen. Ähnlich wie den Underdog-Wissenschaftler:innen bei „Don’t Look Up“ geht es dabei nicht darum, sich Illusionen über eine Umkehr zu machen, „vielmehr versuchen sie verzweifelt, das allgemeine Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir kaum noch Aussichten auf eine Zukunft haben“ (S. 93). Es geht um den Umgang mit den unvermeidlichen Konsequenzen. Der Marx'schen Lokomotive, auf die schon die Benjamin'sche Notbremse andere Blickwinkel ermöglicht hat, stellt Eva von Redecker nun auch noch die Dampfwolke als klimatechnisch passendes Bild hinzu. Es sei, so sagt sie in einem Gespräch mit dem Philosophiemagazin, „der Kohlenstoff in der Luft, den die Lokomotive zurückgelassen hat, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.“
Katastrophen kommen (wie im übrigen auch Revolutionen) nämlich nicht nur als Knall vor, sondern sind langgezogene Prozesse. Von Redecker macht deutlich, dass es nicht mehr um ein konkretes Aufhalten derselben geht, sondern darum, Möglichkeiten für den Erhalt des Bestehenden zu erweitern, und dass dieser Blick auf die Verfassung der Welt, das Erkennen der unmittelbaren Notwendigkeit zum kollektiven Handeln, schon an sich ein wichtiger Akt für die kommende Revolution ist.
Die „könnten“-Proteste
Die Redeckersche Revolution wird nicht im luftleeren Raum gemacht, sondern kleinteilig, an vielen Orten der Welt, rettend, regenerierend, fürsorgend, bewahrend. Von Redecker macht seit einigen Jahren einen neuen Typus von Protesten aus, denen sie weite Teile ihres Buchs widmet. Es sei ein „Aufstand der Lebenden gegen die Lebenszerstörung“ (S. 10). Die Proteste verschieben den Fokus auf Aspekte des solidarischen Zusammenlebens: „Wir könnten Leben retten […] könnte(n) menschliche Tätigkeit regenerieren, […] könnten (Güter) teilen“ (S. 15f.) und revolutionäre Fürsorge gegenüber der Welt und den auf ihr wohnenden Lebewesen walten lassen: „Sie [die Aktivist:innen, Anm. JB] kämpfen nicht nur für ihre eigenen Brüder, sondern in beharrlicher Verbundenheit für eine politisch gewählte weitere Verwandtschaft.“ (S. 126)
Eva von Redeckers Absicht scheint es nicht zu sein, Handlungsanleitungen zu geben, wie die Revolution für das Leben umzusetzen wäre. Im größten Teil ihres Werks geht es um die erwähnte Katastrophen-Vergegenwärtigung: Rekapitulieren, was ist. Hoffnung, so schreibt sie, „darf sich nicht bei der Zukunft bedienen“ (S. 139); oder anders gesagt: „Unter dem Pflaster ist kein Strand, sondern aufgeschütteter Kies und darunter eine Lehmschicht.“ (S. 66) Angeregt durch die großartigen Bilder, die die Philosophin immer wieder entwirft, geht es also vielleicht erstmal um den Blick auf die Erde, auf der wir uns bewegen; auf die einzelnen Pflastersteine, die Risse im Asphalt. Von Redecker fordert ihre Leser:innenschaft auf, den Blick auf das Dazwischen zu richten, auf Naturkreisläufe und Lebenszyklen, auf die vielfältigen Möglichkeiten für eine achtsame, sanfte, zärtliche Revolution. Eine Revolution, die „in den Zwischenräumen das Alten“ (S. 153) bereits angebrochen ist, wie die Autorin schreibt.
Es liegt in unseren Händen
Was im eingangs erwähnten Blockbuster nahezu vollständig vernachlässigt wird, ist in von Redeckers Buch zentral gesetzt: Gegen die kapitalistische Zurichtung der Welt regt sich organisierter Widerstand, und zwar an allen Ecken und Enden. Die Aktivist:innen von Black Lives Matter, NiUnaMenos, Ende Gelände und vielen weiteren Zusammenschlüssen – sie eint eine Logik: Einhalt gebieten statt beherrschen, regenerieren statt erschöpfen, aufbauen statt zerstören: „Die neuen Formen des Widerstands gehen von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben aus und kämpfen für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben.“ (S. 10)
Neben den Arenen, welche die neuen Protestformen für nicht-kapitalistische Organisierungen aufmachen, darf jedoch auch die alte Arena des Arbeitskampfs nicht untergehen. Viele Räder, die blockiert werden müssen, um die kapitalistischen Mühlen lahmzulegen, sind nämlich dort, in der Produktionssphäre und den Bereichen der lohnarbeitsförmigen Reproduktionsarbeit, zu finden. Obgleich diese Argumentation so nicht bei von Redecker auftaucht, lässt sie sich durchaus zwischen den Zeilen lesen. Von Redecker argumentiert zunächst einmal materialistisch, feministisch und antirassistisch zugleich, wenn sie schreibt: „Eine auf Lohnarbeit beschränkte Klassenpolitik schwächt den Klassenkampf und befördert Plünderungsdynamiken in neuen Grenzgebieten. Sie verschiebt die Schlachthöfe“ (S. 83). Erweiterung statt Engführung der Kampfplätze, sozusagen. Klassenpolitik, so ihre Theorie, hat viel „größere Wucht“, wenn man unter dem Klassenbegriff all jenes versteht, „was im Dienste der Wertschöpfung eingehegt und geplündert wird“ (S. 83). Darunter fallen nach Vorstellung der Autorin neben allen Sphären, in denen Menschen ausgebeutet werden, auch die Elemente der Natur, also Lebensgrundlagen.
Im Prozess der kapitalistischen Verwertung (von Redecker nutzt hier den Begriff der sachlichen Herrschaft) hat Phantombesitz Klassencharakter: „Die Arbeitskraft als in der Schwebe gehaltenes Selbsteigentum ist somit immer schon im Phantombesitz der bürgerlichen Gesellschaft.“ (S. 75) Damit sind die Revolutionen in den Zwischenräumen, die Eva von Redecker herausarbeitet, auch Überwindungen des Phantombesitzes, Selbstaneignung. Nicht zuletzt ist die Welt, die gerade immer weiter zerstört wird, Produkt von umfassenden Prozessen menschlicher Schaffenskraft:
„Hände. Menschliche Hände. (…) Hände mit Tattoos, Hände mit Nagellack, Hände mit Goldringen. Hände am Mainhafen, die mit dem Gabelstapler Paletten von Containern fahren, Hände in den Zulieferbetrieben. Hände in der Phosphatmine. Hände, die Overalls waschen und Teller hinstellen und Hände, die Hände halten.“ (S. 67)
Die ökologische Utopie, über die Entfremdung der Verwertungslogik hinweg: Nicht (nur) sitzen und abwägen, sondern auch machen, auf alle erdenklichen Weisen: „Was aus den diversen, oft gegenläufigen Rebellionen für das Leben eine Revolution macht, ist die Verweigerung der Abstufung und die Verknüpfung des Kampfs für das Leben mit dem für die geteilten Lebensgrundlagen, die allen gleichermaßen zustehen.“ (S. 151)
Die Stärke des Buches, ein lebendiges Koordinatensystem unterschiedlicher revolutionärer Situationen aufzuspannen, zeigt zugleich allerdings auch die Schwierigkeiten des Anliegens auf. Geht es bei dem Fokus auf die neuen solidarischen Beziehungsweisen um die Abschaffung des Kapitalismus durch diese und oder sind diese gleichzeitig auch Schutzvorrichtungen gegen die Zurichtung durch die kapitalistische Lebensweise – und damit auch potenziell für seinen Fortbestand einsetzbar? Unklar bleibt, wie ein Umgang damit ist, wenn sich die widerständigen Handlungen durch den Kapitalismus einhegen oder kooptieren lassen. Diese Fragen werden sicherlich auch die Autorin umtreiben. So oder so ist Eva von Redecker mit dem Buch eine sehr weise – und wegweisende – Zusammenschau einer revolutionären Zukunft, einer „Weltwiederannahme“ (S. 146), gelungen.
Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen.
S. Fischer, Berlin.
ISBN: 978-3103970487.
320 Seiten. 23,00 Euro.