Mädchen_arbeit praktisch reflektieren
- Buchautor_innen
- Mart Busche / Laura Maikowski / Ines Pohlkamp / Ellen Wesemüller (Hg.)
- Buchtitel
- Feministische Mädchenarbeit weiterdenken
- Buchuntertitel
- Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis
Gegenwart und Vergangenheit systemkritischer und geschlechterreflektierender Pädagogik am Beispiel der Bildungsstätte „Alte Molkerei Frille“.
Der Sammelband „Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis“ ist 2010 erschienen. Die Herausgeber_innen Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp und Ellen Wesemüller sind beziehungsweise waren – wie auch die anderen Autor_innen des Bandes – alle Bildungsarbeiter_innen der Heimvolkshochschule »Alte Molkerei Frille« in Nordrhein-Westfalen. Der Band stellt eine kritische Reflexion der dortigen Praxis parteilicher Mädchenarbeit und antisexistischer Jungenarbeit dar, was ihm insbesondere für Praktiker_innen geschlechterreflektierender Jugendarbeit Relevanz verleiht.
Unter feministischer Mädchen_arbeit verstehen die Herausgeber_innen eine radikale und kritische „subjekt- und bildungsorientierte Praxis“ (S. 7), die die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen aktiv infrage stellt. Ihre Gesellschaftskritik ist auch eine Kapitalismuskritik. Das ermöglicht ihnen neben Geschlecht auch Rassismus und Klasse als zentrale Faktoren für Ungleichheit innerhalb unseres gesellschaftlichen Referenzrahmens zu reflektieren. Auf der Ebene der pädagogischen Praxis bedeutet das die Etablierung des Intersektionalitätsansatzes, das heißt der Annahme, dass die Betroffenheit von verschiedenen Formen von Diskriminierung eine eigenständige Diskriminierungserfahrung bildet (siehe zu Intersektionalität: kritisch-lesen.de #10). Der Fokus auf diese Verflechtungen von Betroffenheit und die damit verbundenen Konsequenzen zieht sich durch die gesamte Publikation. Sie erschöpft sich nicht in einer Analyse der Zielgruppe, sondern hinterfragt auch kritisch die gesellschaftliche Stellung der Multiplikator_innen gegenüber den Jugendlichen.
Neben Artikeln zu rassismuskritischer Pädagogik aus POC (People of Color) und aus weißer Perspektive, setzt sich der Band auch mit sozialer Benachteiligung beziehungsweise Klassismus auseinander. Außerdem enthält er einen Artikel zu gendersensibler Arbeit mit gehörlosen Jugendlichen sowie Beiträge zu Heteronormativitätskritik und zur Implementierung von trans- und andersgeschlechtlichen Perspektiven in die Mädchen_arbeit. Darüber hinaus sind erfrischenderweise nicht alle Beiträge wissenschaftlich gehalten. So findet sich auch ein Manifest für Mädchen_arbeit sowie eine generationenübergreifende Gruppendiskussion von Mädchen_- und Jungenarbeiter_innen aus Frille. Dass die Herausgeber_innen Mädchen_- und Jungen_arbeit zueinander in Beziehung setzen und die Arbeitsfelder nicht − wie leider oft üblich − isoliert voneinander betrachten, entspricht der gängigen Praxis in Frille, die in dem Band durch drei Artikeln zum Thema Jungen_arbeit reflektiert wird.
Mädchen_arbeit im Spannungsfeld von Dekonstruktion und strukturellen Gewaltverhältnissen
Warum Mädchen_arbeit? Reproduziert und verfestigt diese nicht zwangsläufig das heteronormative und binäre Geschlechtersystem, das wir eigentlich abzuschaffen trachten? Essentialisieren und naturalisieren wir „Mädchen“, indem wir Mädchen_arbeit machen? Diese Fragen werden von verschiedenen Autor_innen des Bandes immer wieder aufgeworfen (beispielsweise Busche/Wesemüller, S. 310-313). Sie sind Zeichen einer kritischen Auseinandersetzung mit älteren Konzepten feministischer Mädchenarbeit aus dem Blickwinkel der dekonstruktiven Pädagogik, der sich die Herausgeber_innen verpflichtet fühlen (S. 13f.). Dekonstruktion ist in diesem Zusammenhang nicht lediglich „die Dekonstruktion der Bilder, die mit einer der Geschlechterkategorien einhergehen […], sondern die Dekonstruktion der zugrunde liegenden Kategorien an sich sowie der Geschlechterverhältnisse selbst“ (S. 258).
Dennoch betrachten die Herausgeber_innen Mädchen_arbeit aufgrund der strukturellen Gewaltverhältnisse, denen Mädchen_ in unterschiedlichen Graden nach wie vor ausgesetzt sind, weiterhin als grundlegend und notwendig (S. 13). Die Schreibweise „Mädchen_“ stellt dabei den Versuch dar, mit einer statischen Kategorie zu brechen, wobei der Unterstrich auf „das Nichtsagbare, Nichtdefinierte, Widersprüchliche und über die Zweigeschlechtlichkeit hinausweisende“ (S. 316) verweist.
Ines Pohlkamp vermittelt in dem Artikel „TransRäume“ sehr anschaulich eine Vorstellung dessen, was Dekonstruktion in der Praxis von Mädchen_arbeit heißen könnte. Der Begriff TransRäume meint „offene Geschlechterräume, in denen alles, was innerhalb und außerhalb von (zweigeschlechtlichen) Hierarchien Bewegung verursacht, nicht verschwiegen, nicht nur geduldet oder ausgegrenzt wird“ (S. 56). Um diese in der Mädchen_arbeit als einem „originär transphobe[n] Feld“ (S. 41) zu implementieren, schlägt sie unter Bezugnahme auf Judith Butler das Konzept der Performativität vor. Performativität bezeichnet „einen Sprechakt, der Handlungen in Kopien, Wiederholungen oder Reproduktionen vollzieht“ (S. 46). Praktisch hieße das beispielsweise niemals nur von Mädchen und Jungen beziehungsweise Männern und Frauen zu sprechen, sondern Transgender und andere Geschlechter immer mit zu benennen. So simpel diese Forderung auch klingen mag, so radikal ist sie doch in Hinblick auf die derzeitige pädagogische und gesellschaftliche Praxis.
Rassismuskritische Mädchen_arbeit
Seit dem Jahr 2009 – also erst relativ kurze Zeit vor dem Erscheinen des Sammelbandes – wurde in der Alten Molkerei Frille ein Prozess angestoßen, der die Implementierung von Empowerment und Critical Whiteness in die dortige Bildungsarbeit zum Ziel hatte. Der Beitrag „Sich selbst stärken! Mädchen of Color in der Empowermentbildung“ von Fidan Yiligin fundiert theoretisch die Notwendigkeit eines solchen Prozesses. Ausgehend von der These, dass die Bedürfnisse und Perspektiven von Mädchen_- und Pädagog_innen of Color von weiß-deutschen Bildungsarbeiter_innen ignoriert werden, wird die Forderung nach Empowermenträumen und transkulturellen Teams für Bildungseinrichtungen aufgestellt.
Dennoch wird der konstatierte rassistische und lediglich defizitorientierte Blick auf POC in der Mädchen_arbeit nicht anhand von individuell rassistischen Einstellungsmustern problematisiert, sondern unter Bezugnahme auf Erol Yildiz und das von ihm entwickelte Modell eines Ethnizitätsdispositivs (siehe zu Dispositiv: kritisch-lesen.de #27) geschlussfolgert, dass „es nicht die rassistisch denkende Person ist, die die 'Anderen' erzeugt, sondern die institutionalisierten Strukturen selbst.“ (S. 118).Yiligin legt dar, dass auch die kritische Auseinandersetzung mit der Konstruktion des „Anderen“ grundsätzlich die Gefahr einer Essentialisierung birgt. Deshalb wird auch an dieser Stelle die klare Forderung nach Empowermenträumen mit dekonstruktiven Ansätzen verbunden. Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan zitierend plädiert Yiligin für eine Dekonstruktion der Grenzen zwischen hegemonialem Zentrum und Peripherie und warnt vor einer „Aneignung der Opferrolle und der Praxis der Politik der Minorisierung und Marginalisierung […], die am Ende zur Gewinnung von Privilegien für diejenigen führt, die sich zu Repräsentantinnen minorisierter Räume erheben“ (S. 117).
Die Versuche einer Dekonstruktion beziehungsweise der Inklusion von POC werden, das ist der Tenor aller Beiträge des Bandes zu dieser Thematik, umso erfolgreicher sein, je mehr Menschen und Multiplikator_innen sich daran beteiligen. Aus diesem Grunde wurde in Frille eine an das Konzept der Peer-Education angelehnte Fortbildungsreihe entwickelt, die Mädchen_ of Color und weiß-deutsche Mädchen_ zu Peer-Teamer_innen von geschlechter- und rassismuskritischen Angeboten ausbildet.
Die Artikel des Bandes zur rassismuskritischen Pädagogik – in Abgrenzung zur sogenannten Ausländerpädagogik – beinhalten aufgrund der Tatsache, dass es trotz der ähnlichen Wirkungsmechanismen von Rassismus und Heteronormativität so lange gedauert hat, rassismuskritische Ansätze in die geschlechterreflektierende Pädagogik zu implementieren, leider keine didaktische Reflektion. Diese bleibt abzuwarten. Offen geblieben ist für mich in diesem Zusammenhang die Frage, warum angesichts der Unhaltbarkeit menschlicher Rassentheorien für den pädagogischen Ansatz nicht der Terminus antirassistisch anstelle von rassismuskritisch gewählt worden ist.
„Solidarität als politischer Luxus, den wir uns immer noch leisten wollen“ (S. 320)
Für mich, die ich neu bin in diesem Arbeitsfeld der Mädchen_arbeit, in dem ich mich versuche zu orientieren und einen Platz zu finden, hat die Lektüre dieses Buches in seiner schönen und klaren Sprache eine unglaubliche Bereicherung dargestellt. Es hat mir bei der Erarbeitung dessen, was ich als meine Rolle und meine Aufgabe als Mädchen_arbeiterin betrachte, geholfen. Es hat meine eigene Verwobenheit in die Verhältnisse, die ich kritisiere, neu bewusst gemacht. Es hat mir frischen Mut gemacht, mich in grundsätzliche Diskussionen zu stürzen, sowohl mit den Mädchen_, aber vor allem aber auch mit den Kolleg_innen, über rassistische Zuschreibungen, essentialistische Rollenbilder und die Errichtung von TransRäumen. Es hat mir meine eigene Prekarität vor Augen geführt. Es hat mich empowert, weil es meine eigenen Sackgassen, Widersprüche, Zweifel, Nöte, Wünsche und Utopien aufgegriffen und mir durch praktische Beispiele Wege aufgezeigt hat, diese in meine Arbeit zu integrieren und sichtbar zu machen.
Feministische Mädchenarbeit weiterdenken. Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis.
transcript, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-1383-4.
330 Seiten. 29,80 Euro.