Liebe in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche
- Buchautor_innen
- Katharina Volk (Hg.)
- Buchtitel
- Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben
Alexandra Kollontai, russische Kommunistin und Frauenrechtlerin, denkt die solidarische Gesellschaft von der Paarbeziehung her und verleiht der Liebe damit neue, freischwingende Flügel.
Die russische Kommunistin Alexandra Kollontai lebte und arbeitete von 1872 bis 1952 – in den Umbrüchen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, während des ersten Weltkriegs und der russischen Revolution. Sie war tätig als Politikerin, als Ministerpräsidentin, als Mitglied der boleschwistischen Partei, Diplomatin und Kämpferin für Frauenrechte. Heute wird Kollontai vielfach als Feministin rezipiert, die Fragen nach solidarischem Zusammenleben, Liebesbeziehungen und Mutterschaft gestellt hat. Mit der russischen Revolution wurden ihr diese zu elementaren Fragen des gesellschaftlichen Umbruchs – aus Notwendigkeit, aber auch als offene Möglichkeit.
„Sie [Kollontai] […] forderte einen Solidaritätsbegriff ein, der weit über das hinausgeht, was wir heute unter Solidarität verstehen. Dies als Ermunterung zu begreifen, den Begriff des Kollektiven aufzunehmen, zu fragen, wie Verschiedenheit der Subjekte lebbar und denkbar ist, was unterschiedliche Sexualitäten bedeuten – all das gilt es heute erneut zu diskutieren.“ (S. 58)
Die im Frühjahr im Dietz Verlag erschienen Biographie „Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben“, aus der Reihe „Biographische Miniaturen“ stellt eine 60-seitige Biographie und eine Textauswahl aus elf Texten, thematisch und zeitlich sortiert, zusammen. Die Auswahl der Herausgeberin Katharina Volk bezieht sich auf drei thematische Schwerpunkte. Den ersten Weltkrieg erlebte Kollontai in Berlin mit ihrem Sohn, den sie aus erster geschiedener Ehe mitnahm. Die Kriegsbegeisterung der sozialistischen Kräfte in Deutschland entsetzte sie und wurden zum Anlass ihrer stark internationalistisch ausgerichteten Arbeit. 1917 kehrte Kollontai nach Russland zurück mit dem Willen, in der russischen Revolution mitzuwirken und eine neue Gesellschaftsform aufzubauen. Sie ließ sich 1922 in den diplomatischen Außendienst nach Norwegen und Finnland versetzen. In ihrer intellektuellen Auseinandersetzung kehrt sie immer wieder zurück zu den Themen Beziehung, Liebe und Mutterschaft, die auch in Katharina Volks Textauswahl in den Mittelpunkt gestellt werden.
Mutterschaft und soziale Fürsorge
Die Revolution von 1905, das gescheiterte Absetzen des Zaren und dessen Zugeständnis, die Duma, das russische Parlament, ins Leben zu rufen, benennt Kollontai als die Zeit, in der neben der Arbeiterbewegung auch die Frauenbewegung stärker wurde – und vor allem gestärkt werden musste. Zusammen mit internationalen Genossinnen schloss sie sich zusammen, um die Frauenbewegung in die Arbeiterbewegung einzuschließen und „innerhalb der Partei einen Apparat für die Arbeit unter den Frauen zu schaffen“ (S. 20). Ihr Anliegen war es, die Arbeiterinnen zu mobilisieren und damit sowohl eine weibliche Perspektive in die vorwiegend von Männern geprägten Arbeitskämpfe einzubringen als auch der bürgerlichen Frauenbewegungen eine kommunistische Perspektive entgegenzusetzen.
Katharina Volk setzt auch in den Jahren der russischen Revolution einen Fokus auf das doppelte Wirken Kollontais im Sowjet als Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki und als Volkskommissarin für staatliche (soziale) Fürsorge. Sie war damit die erste Frau in einem Ministeramt in Russland und setzte sich maßgeblich für die soziale, politische und rechtliche Emanzipation der Frauen ein. Besonders in Fragen des Mutterschutzes und der Familie war Kollontai aktiv: „Das Problem der Mutterschaft war für Kollontai eines, das am dringlichsten zu lösen war.“ (S. 30) Mit dieser Akzentsetzung zog Kollontai Feindseligkeiten von allen Seiten auf sich – Mutterschaft, Familie und (Liebes-)beziehungen aber beschreibt Kollontai als unausweichliche Fragen, die direkt auf den Aufbau einer neuen, kommunistischen Gesellschaft zielen. Sie entwickelte Ideen, wie die Verteilung von Sorgearbeit kollektiviert werden kann in Form gemeinsamen Wohnens und Arbeitens, geteilter Kinderbetreuung. Die Privatisierung der Haushalte und der Familie in patriarchalen Zweierbeziehungen unterdrücke die Frau auf mehrfache Weise – einerseits gerate sie in soziale und ökonomische Abhängigkeit des Mannes, andererseits habe sie durch zunehmende Lohnarbeit eine doppelte Belastung und keine Zeit, Politik zu machen. Das wirke sich insgesamt auf das gesellschaftliche Solidaritätsverständnis aus.
Liebe als Interessengemeinschaft
„Ein solches Ideal, nämlich die Ausschließlichkeit in der Liebe, ergab sich ganz natürlich aus der eingeführten Form der monogamen Ehe und aus dem bürgerlichen Ideal der ‚alles vereinnahmenden Liebe‘ zweier Ehegatten. Aber kann dieses Ideal den Interessen der Arbeiterklasse entsprechen?“ (S. 121)
In ihrem „Brief an die arbeitende Jugend“, der mit dem Titel „Ein Weg dem geflügelten Eros“ überschrieben ist, beschreibt Kollontai das neue Prinzip der Liebe mit „Liebe als Kameradschaft“ (S. 125) – das müsse das neue Ideal für Liebesbeziehungen werden, die einer neuen, freieren, „geflügelteren“ Form von Liebe entsprächen. Ihr Prinzip der Liebe will nicht mehr auf der Vorstellung vom Besitzanspruch auf eine andere Person gründen. Mit der freien Kameradschaft hebt Kollontai ein Liebespotenzial heraus, das sich aus den gemeinsamen Interessen der eigenen Klasse und dem Kampf um ein freies und gerechtes Zusammensein speist. Damit stellt sie sich sowohl den konservativen Moralvorstellungen einer bürgerlichen Ehe, wie auch der freien Individualisierung und Privatisierung von Liebesbeziehungen entgegen. Stattdessen verortet sie dieses Liebespotenzial in der gesellschaftlichen Solidarität, die es ermöglichen muss, nicht mehr die einzige Form der tiefen Verbindung in der monogamen Partnerschaft zu finden.
Kollontais Vorstellung der Transformierung der Liebesbeziehung ist aus ihrem historischen Kontext nicht lösen: Für sie stellte sich die reale Umstrukturierung der Gesellschaft im Sinne einer neuen, kommunistischen Form im Zuge der russischen Revolution als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und als Notwendigkeit dar, diese Revolution auch als Revolution von Liebes- und Solidaritätsbeziehungen zu denken. Trotzdem ist aus ihren Analysen dazu, wie die Liebesbeziehung im Kapitalismus auf Besitzansprüchen, die monogame Ehe auf der Individualisierung und der Unterdrückung der Frau gründet, auch für die heutige Situation, in der keine absehbare Transformation bevorsteht, einiges für ein anderes, solidarisches Zusammenleben mitzunehmen. Schlagkräftig ist dabei ihre Ablehnung sowohl konservativer Familienbilder als auch bürgerlicher Liberalisierungsversuche der Liebesbeziehung. Ihr Prinzip der Kamerad*innenschaft beruht weniger auf der Konzentration auf die monogame Paarbeziehung und wahlweise ihre Retraditionalisierung oder ihre Öffnung und Liberalisierung – wobei beides manchmal Hand in Hand geht –, sondern auf der Erweiterung dieser „Liebespotenz“ für solidarische Beziehungen untereinander: Gegen die Unterdrückung der Frau und für die Möglichkeit, ein „gemeinsames Interesse der Klasse“ (S. 105), statt einem Familien- oder Paarinteresse. „[E]rmunternd ist ihre tiefe Überzeugung und Aufforderung, die Produktion des Lebens, also die Sorge um uns und andere, zum Ausgangspunkt für die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft zu machen“ (S. 58), schlussfolgert Katharina Volk für die Aktualität der Biografie.
Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben.
Dietz Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-320-02393-5.
176 Seiten. 12,00 Euro.