Eine Klasse gegen sich
- Buchautor_innen
- Christian Baron / Britta Steinwachs
- Buchtitel
- Faul, Frech, Dreist
- Buchuntertitel
- Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen
Die Autor_innen nehmen die Bild-Kampagne über den „Arbeitslosen Arno Dübel“ unter die Lupe und untersuchen, mit welchen Argumentationen auch die Leser_innen zu klassistischer Rede greifen.
Arno Dübel fungierte im Jahr 2010 als Figur einer Bild-Kampagne, die sich den Erwerbslosen zur Zielscheibe menschenverachtender Hetze aufgrund seines sozialen Status machte. Die Rede war vom „Sozialschmarotzer“, er sei „Deutschlands frechster Arbeitsloser“, der seit 36 Jahren von Sozialhilfe lebe und keinerlei Bereitschaft zeige, arbeiten zu gehen. Ergänzt wurde das Bild durch Stereotype wie ein ungepflegtes Äußeres, Zigaretten, Alkohol und natürlich fehlende Sozialkompetenz. Die Bild reproduzierte eifrig das Klischee der „Person aus der Unterschicht“. Doch damit war die Redaktion nicht allein. Das soeben erschienene Buch „Faul, Frech, Dreist“ legt den Fokus auf die Leser_innenkommentare, die auf bild.de Position zur dargestellten Lage Dübels beziehen.
Die hier auffindbaren Aussagen entsprechen zwar weitgehend den Paradigmen des herrschenden Unterschichtendiskurses, doch übersteigen die Anfeindungen in ihrer Vehemenz und Brutalität mancher Forderungen zum Umgang mit Erwerbslosen das „gewohnte Maß“. Es werden Forderungen ausgesprochen, die Arno Dübel gern als Obdachlosen „unter der Brücke“ oder in einem Arbeitslager sehen würden. Die Rede von jemandem, der_die von „Steuergeldern lebt“, aber „nichts zur Gemeinschaft beiträgt“, löst fortwährend ein beachtliches Getrete nach unten aus, sogar innerhalb der häufig prekär beschäftigten Arbeiter_innenklasse. Im Fokus der Studie steht, mit welchen Argumentationen Erwerbslosigkeit im Sinne der „sozialen Hängematte“ von den Leser_innen delegitimiert und gleichzeitig Ungleichheit legitimiert wird, nicht nur von den Eliten, sondern sogar von Teilen der Gesellschaft, die selbst absturzgefährdet sind.
Im Buch werden fünf Legitimationssemantiken zusammengetragen, anhand derer sich die (De)Legitimation von Sozialleistungen und die daraus resultierenden Argumentationen für klassistische Ungleichwertigkeit aus den Leser_innenkommentaren ablesen lassen. Hierbei ist der Fall Arno Dübel schlicht als Beispiel zu werten für eine die Gesellschaft durchziehende Abwertung von Erwerbslosen.
Die Klasse im Kapitalismus
Die theoretische Folie, die die Autor_innen Christian Baron und Britta Steinwachs für die Betrachtungen der Kampagne und der Reaktionen darauf anwenden, ist die des Klassismus. Dieser ist einerseits durch Ausbeutungsverhältnisse im Produktionsprozess gegeben und verursacht andererseits, dass Menschen aufgrund ihrer prekären sozialen Lage in der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Denn im Klassismus gilt nicht die ungleiche Verteilung von Ressourcen als verantwortlich für Armut, sondern die Armen selbst werden als Problemursache identifiziert. Sie hätten sich nicht genügend angestrengt und seien demnach an ihrer Lage selbst schuld. Was dementgegen fehlt, so die Autor_innen, ist das subjektive Klassenbewusstsein, ein Gefühl der „Klasse für sich“, die sich emanzipativ und solidarisch ihrer Lage bewusst wird. Stattdessen gebe es in weiten Teilen der kapitalistisch strukturierten Gesellschaft nur eine „Klasse an sich“. Die Individuen im kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis stehen in Konkurrenz zueinander, was eine Angriffsfläche für klassistische Diskriminierung bietet, die Menschen aufgrund ihrer ökonomischen und sozialen Position mit den Attributen Verwahrlosung, Faulheit, Dummheit, Wert(e)losigkeit belegt.
Es wird deutlich, dass nicht allein die soziale Position ausschlaggebend für eine klassistische Diskriminierung ist, sondern diese ideologisch reproduziert wird. Armut wird auf diese Weise medial und politisch konstruiert als natürlich (weil beispielsweise Intelligenz erblich sei) und kulturell bedingt (denn „Erwerbslose sind nun mal faul“). Weiterhin zementiert wird sie durch Institutionen, wie Gesetze zur staatlichen Sozialversicherung, die klassistisch strukturiert sind. So dienen soziale Hilfen der Ausbeutung der Arbeiter_innen durch Kapitalist_innen und legitimieren außerdem das bestehende Herrschaftssystem als Schutz vor Aufständen. Doch kommt der Staat für diese Hilfen nicht selbst auf, sondern zwingt die Arbeitenden dazu, mit ihrem Lohn die Sozialabgaben zu decken. Die durch das Kapital hergestellten Notlagen müssen unter den darunter Leidenden selbst getragen werden. Hinzu kommt, dass aufgrund der spaltenden Sozialpolitik, verknüpft mit ausgrenzender Rede, zwischen würdigen (weil zum Beispiel kranken) und unwürdigen („faulen“) Bedürftigen unterschieden wird, was mitunter auch jene gegen Hilfeempfänger aufbringt, die selbst in einer prekären Lage sind, es sich aber nach eigenem Bemessen nicht in der „sozialen Hängematte gemütlich machen“, sondern sich den „Arsch aufreißen“.
In dieser Gegenüberstellung von Fleiß und Faulheit liegt der Kern der modernen Arbeitsmarktpolitik. Der aktivierende Sozialstaat garantiert nicht mehr für das Wohl des_der Einzelnen, sondern fordert gleichzeitig Leistungen. Für Erwerbslose bedeutet dies, dass sie sich beteiligen, engagiert zeigen, dankbar sein und zur Not jede Auflage akzeptieren müssen, um aus ihrer „selbstverschuldeten“ Misere mit eigenen Kräften wieder hinaus zu gelangen. Im Falle Arno Dübels beispielsweise ein Bügelkurs. Arbeit wird hier im Sinne einer sich steigernden Ökonomisierung der Gesellschaft „ein zentrales Integrations- und Anerkennungsmedium“ (S. 32). Kommen Erwerbslose diesem Druck nicht nach, werden Sanktionen verhängt. Doch dies nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern toleriert und in weiten Teilen von der Öffentlichkeit getragen.
Legitimation von Ungleichheit
In der vorliegenden Diskursanalyse wird die Wirkung der Bild-Kampagne, die 37 Artikel im Jahr 2010 umfasst, auf die Leser_innenkommentare untersucht. Dass die Bild dabei den „Charakter“ Dübels völlig überzeichnet, dürfte klar sein, dennoch wird dabei das Bild des „typischen Erwerbslosen“ verstetigt. Seine Arbeitshaltung, sein Konsumverhalten, Emotionen, Krankheiten und „falsches Gejammer“ werden so zusammengezimmert, dass daraus eine Person entsteht, die entweder Mitleid oder Aggression bei den Kommentator_innen hervorruft. Ersteres versucht Dübel und seine Hilfebedürftigkeit zu verteidigen, letzteres erkennt ihm jede Hilfeleistung ab und fordert Sanktionen. Argumentiert wird hier beispielsweise mit dem Paradigma der Leistungsgerechtigkeit. Wenn Andere sich so abmühen, sollen Erwerbslose nicht mit Nichtstun durchkommen. Das geht soweit, dass Erwerbslosigkeit kriminalisiert wird, wenn Arno Dübel vorgeworfen wird, er hintergehe den Staat.
Ein anderes Legitimationsmuster ist das der Bedürfnisgerechtigkeit (nur wirklich Bedürftige dürfen Leistungen erhalten), Gleichheit (es sollen alle gleich behandelt werden, Dübel werde vom Amt aber bevorteilt), wohlverstandenes Eigeninteresse (man muss nur wollen) und Naturalisierung von Erwerbsarbeit (Arbeit muss sein).
Demgegenüber stehen vereinzelte Forderungen nach Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen oder die Schuldzuweisung in Richtung „oben“ (Banken, Konzerne, Politik). Doch diese die Sozialleistungen legitimierenden Argumentationen stehen den Delegitimationen zahlenmäßig weit zurück. Daraus resultiert die Meinung, dass, wenn Erwerbslose nicht den erwarteten Anforderungen entsprechen, sie auch kein Recht auf Unterstützung haben und deshalb eine klassistische Abwertung – sowohl ökonomisch als auch ideell – nicht zu kritisieren sei. Die Ideologie dafür liefert eine Melange aus Politik, Medien und Ökonomie - alle miteinander eng verzahnt – die einen erheblichen Beitrag leistet in der Schaffung solcher Stereotype.
Klassengesellschaft neoliberal
Was an den Betrachtungen bemerkenswert ist, ist, dass hier nicht nur ein Klassenkampf von oben oder aus der Mitte zu beobachten ist, sondern auch aus jenen Schichten, die selbst sehr prekär leben. Baron und Steinwachs merken an, dass ein Großteil der Gesellschaft sich selbst als Mittelschicht bezeichnet, woraus sich ablesen lässt, dass das Streben nach oben sehr dominant ist: „Die wirkungsvollste Art, die Armen unschädlich zu machen, besteht darin, daß man sie lehrt, die Reichen imitieren zu wollen.“ (Zafon, zitiert nach Baron / Steinwachs, S. 81).
Die Frustration über die Verhältnisse, die in der Arbeiter_innenklasse aufgrund des aktivierenden Drucks am höchsten ist, entlädt sich jedoch paradoxerweise an jenen, die scheinbar von der von oben aufoktroyierten Norm abweichen, aus Angst, selbst dorthin abzurutschen. Anstatt den Frust gegen jene zu richten, die ihn verursachen, wird er gegen Schwächere gewendet, was als „Imitation des Habitus der Reichen“ und „Selbstgeißelung“ (S. 82) interpretiert wird. Die Chance, diese Frustration als Motor für einen Klassenkampf zu nutzen, wird durch das Versprechen des individuellen Reichtums und dem leicht zum Schuldigen ernannten Erwerbslosen, der auf Kosten der Gesellschaft lebt, vertan. So wird denn auch mitunter gefordert, den Sozialstaat abzuschaffen und Hilfeleistungen aus der Mildtätigkeit Wohlhabender zu finanzieren. Hier wird eine Huldigung der Reichen besonders deutlich. Umgekehrt wird die eigene soziale Unsicherheit durch alle Klassen hindurch nach unten hin abgewälzt und aktivierende und disziplinierende Forderungen des Arbeitsmarktes, derer Adressat_innen die Arbeiter_innenklasse eigentlich selbst ist, umso stärker von unten eingefordert. Dadurch fungiert diese selbst noch als nachdrückliche Instanz der Arbeitsmarktpolitik. Nach unten braucht es Abgrenzung, um die Chancen des Aufstiegs für sich aufrecht erhalten zu können. Denn schließlich – so die hegemoniale Meinung – ist jede_r ihres_seines Glückes Schmied und selbst schuld oder zu dumm gewesen, wenn's nicht klappt.
Das Buch liefert mit der Analyse der Leser_innenkommentare tiefe Einblicke in jene Seite der Bild, die jenseits der Hau-Drauf-Politik des Blattes selbst selten zum Vorschein kommt. Mit dem Instrument der Kritischen Diskursanalyse wurde ein Mittel gewählt, welches sowohl Arno Dübel nicht als Einzelfall ausgrenzender Rede markiert und außerdem der Gefahr entgeht, selbst Klassismen zu reproduzieren, da es die Aussagen in einen weiteren Kontext bettet. Doch wird der Aufbau der Studie im Mittelteil etwas statisch, da die erhobenen Daten in wissenschaftlicher Exaktheit dargelegt werden, wo eigentlich eine Konzentration auf die Analyse ausgereicht hätte. Allerdings bleibt das Buch dadurch auch sehr übersichtlich, besonders die theoretischen Schlussfolgerungen machen die partielle Langamtigkeit der vorigen Seiten wieder wett, wenn es darum geht, die Ergebnisse in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Und trotz des wissenschaftlichen Vorgehens bleibt die Studie flüssig lesbar.
Faul, Frech, Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-18-8.
128 Seiten. 14,80 Euro.