Die Kunst der Wahrheit
- Buchautor_innen
- Marius Babias, Florian Waldvogel (Hg.)
- Buchtitel
- Freedom of Speech
Der Begleitband zur Ausstellung „Freedom of Speech“ widmet sich dem Medium der Kunst als Versuchslabor und Problematisierung der Redefreiheit.
Im Jahr 2011 zeigten sowohl der Neue Berliner Kunstverein als auch der Kunstverein Hamburg die Ausstellung „Freedom of Speech“. In dieser wurden zahlreiche Arbeiten internationaler Künstler_innen ebenso wie visuelle Zeugnisse historischer und aktueller Ereignisse gezeigt und unter dem Schlüsselbegriff der Redefreiheit zueinander in Beziehung gesetzt. So wurden Arbeiten zum Streit um die „Mohammed-Karikaturen“, die Aufarbeitung um die „Protokolle der Weisen von Zion“, Christoph Schlingensiefs Arbeiten „Bitte liebt Österreich!“ und „NAZI LINE/HAMLET“ und viele weitere zusammengestellt und um die Frage gruppiert, wie mediale und nicht zuletzt künstlerische Äußerungen das Konzept der Redefreiheit bespielen, ausprobieren, hinterfragen und vor allem ideologisch benutzen.
Der vorliegende Begleitband, herausgegeben von Marius Babias und Florian Waldvogel in der Reihe n.b.k. Diskurs und verfasst von Mitarbeiter_innen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), trägt die komplexen Fragen nach der Freiheit der Rede anhand der Ausstellungsobjekte zusammen. Fluchtpunkt dieser Auseinandersetzungen bildet die Frage: „Was, wenn nur der_diejenige sprechen dürfte, der_die die Wahrheit sagt?“ Womit auf einen Schlag die Komplexität des Problems deutlich wird. Denn das Ringen um „Wahrheit“ und die Bedingungen für den_die Einzelne_n oder Interessensgruppen, zu sprechen, liegen nie im Bereich einer Objektivität. Mit Michel Foucault sprechen die Autor_innen von einer Ordnung der Wahrheit, die historisch konstituiert und an Macht- und Herrschaftsverhältnisse geknüpft ist. Und so zeigen sich in diesem Ringen Deutungskämpfe um die Wahrheit.
Die Autor_innen machen etwa auf die ideologische Rolle der Redefreiheit aufmerksam. Ausgrenzende Rede wird nicht selten von Aussagen begleitet, dass eine Demokratie solche „unbequemen Wahrheiten“ aushalten müsse und sich daran die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft ablesen lasse. Hier wird als wahr markiert, was sich im Feld des Sagbaren befindet. Die veröffentlichten Mohammed-Karikaturen etwa trugen zu der „Wahrheit“ bei, der Islam stelle eine Bedrohung dar. Die Kritik an solcherlei Deutungen wird mit Verweis auf die Redefreiheit der demokratischen Gesellschaft delegitimiert: „Die Meinungsfreiheit wurde als sakralisiertes Gut des Westens charakterisiert, gegen das sich der religiöse islamische Fanatismus richtet“ (S. 52). Eine solche Auffassung von Redefreiheit jedoch, die jegliche Rede mit dem Verweis auf demokratische Freiheiten zulässt, ist durch ein liberales Verständnis dieser Freiheit gekennzeichnet. Denn diese sollte nicht dadurch gekennzeichnet sein, dass alle alles sagen können, egal, ob es anderen schadet oder sie demütigt. Die Freiheit der Rede sollte mit der Ethik der Freiheit der anderen einhergehen. Deshalb sollte Meinungsfreiheit ihre Grenzen im Wohlergehen der Anderen haben und mit Verantwortung verbunden sein. Wer frei spricht, muss auch die Freiheit anderer anerkennen und deren Kritik an den eigenen Aussagen aushalten. Ein sehr anschauliches Negativbeispiel dafür ist die Sarrazin-Debatte, in der mit dem Verweis „das wird man ja wohl nochmal sagen dürfen“, die Deutungshoheit im rassistischen Diskurs zementiert wurde, anstatt sich mit der Kritik inhaltlich auseinander zu setzen.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung mag formal jede_n gleichermaßen betreffen, doch sind die Bedingungen für eine gleiche Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen nicht gegeben. Denn diese Diskurse sind durch zahlreiche Ausschlussmechanismen strukturiert. Die Autor_innen halten fest, dass es mit dem Konzept der Äußerungsfreiheit nicht getan ist. Denn wer spricht und wer gehört wird, das sind Effekte einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Dies soll der Forderung nach Äußerungsfreiheit nicht widersprechen, doch ist es notwendig, das Konzept der Redefreiheit mit einer analytischen und kritischen Form des Sprechens zu füllen.
Die Autor_innen sprechen sich deshalb nicht für eine Beschneidung dieser Redefreiheit aus, sondern möchten sich
„der vertrackten Frage zuwenden, ob hinter, unter oder neben dem Konzept der freien Meinungsäußerung nicht doch ein Modell gedacht werden kann, dass auf Unwahrheiten beruhende Ausgrenzungsdiskurse zurückzudrängen in der Lage ist, ohne dabei durch repressive Verbotsforderungen den emanzipatorischen Gehalt aufzugeben“ (S. 13).
Die Möglichkeiten der Kunst
Mit der Betrachtung der Kunstwerke der Ausstellung und der Frage nach den Äußerungsmöglichkeiten der Kunst im Allgemeinen wird eine wichtige Tragweite künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten deutlich. Denn „[d]ie moderne Kunst [offenbart] auf skandalöse Weise die Wahrheit“ (S. 23). Ihr liegt die Möglichkeit zugrunde, auf mutige Weise die Wahrheit zu sagen. Und vielmehr noch: sie vermag es, Utopien zu formulieren und Raum für Kritik zu schaffen. Utopien werden in diesem Band jedoch nicht verstanden als die große Erzählung, vielmehr wird von einer Vielzahl dieser ausgegangen, die spezifisch auf die vorgefundenen Begebenheiten reagieren und in ihnen agieren. Dies ist insofern wichtig, als der Rede von der Alternativlosigkeit der Verhältnisse widersprochen werde, einer Rede, die bereits Foucault als Herrschaftsinstrument dechiffrierte. Die Kunst als Gegenort vermag es, Macht- und Herrschaftsstrukturen zu entlarven und Unterdrückung sichtbar zu machen. So ändern die utopischen Imaginationen vielleicht erst einmal nichts Konkretes, doch sind sie ein Mittel – innerhalb der Sagbarkeitsfelder versteht sich –, um die Legitimation von Ausbeutung und Gewalt zu durchbrechen. Sie mögen vielleicht nicht objektiv und nachvollziehbar in die Politik eingreifen, doch sie können sichtbar machen und mobilisieren. Solche Widerstände des Mediums Kunst „sind politisch, denn sie nehmen den Apparaten der Politik das Monopol des Politischen“ (S. 41). Doch sollte die Möglichkeit der Intervention durch Kunst vorsichtig behandelt werden: nur, weil sich etwas politisch imaginiert oder politische Themen aufgreift, heißt es nicht, dass das Kunstwerk auch in die Politik eingreift.
Im Buch werden solche politischen Dimensionen der Kunst im Bezug auf das Thema dargestellt. So zum Beispiel mit Rolf von Radens Auseinandersetzung um zwei Werke Christoph Schlingensiefs. Da geht es zum einen um die künstlerisch-politische Aktion „Bitte liebt Österreich!“ aus dem Jahr 2000, in der Schlingensief während der Wiener Festwochen in der Stadt eine eingezäunte Containersiedlung errichtete und nach dem Schema „Big Brother“ – rund um die Uhr kameraüberwacht – Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus und illegalisierte Flüchtlinge einziehen und von der Öffentlichkeit wieder raus – aus dem Container und dem Land – wählen ließ. Diese Aktion traf einen Nerv: Kurz zuvor hatte die FPÖ sich als zweitstärkste Fraktion im Nationalrat behauptet, was starke Proteste nach sich zog. Schlingensief machte während der Containeraktion immer wieder darauf aufmerksam, dass das, was sich dort abspielte, tagtägliche Abschiebepraxis sei – Container, Überwachung, Ungewissheit. Die Aktion als politische Kunst sei insofern geglückt, denn
„[d]er Blick der Aktion richtete sich auf die Flüchtlinge als Individuen und thematisierte gleichzeitig nicht nur die Verantwortung von herausragenden RepräsentantInnen regierender Parteien, sondern auch die institutionelle Bedingtheit der gewaltförmigen Politik gegen Flüchtlinge“ (S. 109)
Doch sicherlich kann Kunst auch selbst zu dem Medium werden, das die Grenzen des Sagbaren ausdehnt und feindliche Rede unter dem Postulat der Freiheit ausstellt. Hier sind beispielsweise die Mohammed-Karikaturen einzuordnen oder auch das im Band behandelte U.S.-amerikanische Magazin Hustler, in dem nicht nur pornographische, sondern vor allem gewaltvolle Beiträge und Illustrationen abgedruckt wurden. Das Magazin, das seit 1974 erscheint und eine große Stammleserschaft hat, zieht immer wieder Debatten und auch Prozesse auf sich. Zwar gelangen dem Herausgeber Larry Flynt mehrmals große Enthüllungen aus dem politischen Establishment, jedoch sind seine provokativen pornographischen und gewaltverherrlichenden Publikationen keineswegs als diskursive Gegenstrategie zu bezeichnen, vor allem, da sie stereotype Geschlechterbilder bedienen.
Kunst als umstrittener Raum
Insbesondere der Kunst liegt die Eigenschaft oder eben auch die Freiheit zugrunde, nicht eindeutig sein zu müssen. In solchen Fällen, wie hier exemplarisch an der Skulptur „Turkish Delight“ von Olaf Metzel aufgegriffen, werden auch hier Deutungskämpfe um die Aussage der Kunst gefochten. Die Skulptur zeigt eine nackte Frau mit Kopftuch. So
„interpretiert es der Kurator Florian Waldvogel: Olaf Metzels Skulptur erzähle ‚sowohl von der Objektivierung der Frau, ihrer assoziativen Nähe zum ‚süßen Ding‘ und den westlichen Fantasien über die süßen Geheimnisse der ‚orientalischen‘ Sexualität‘. Die Nacktheit kann gelesen werden als Kritik an der Objektivierung und Vermarktung des weiblichen Körpers, das Kopftuch als Kritik an der Unterdrückung von Frauen in muslimischen Gesellschaften. So thematisiert die Skulptur sowohl ‚westlich‘, wie auch ‚islamisch‘ konnotierte patriarchale Praktiken“ (S. 58).
Doch finde, so Regina Wamper, sich genau diese Betrachtungsweise in den Debatten um das Kunstwerk kaum wieder. Vielmehr vollzog sich hier eine Ethnisierung des Sexismus, in dem dieser dem vermeintlich „Anderen“, dem Orient zugewiesen wurde. Die Skulptur, die in mehreren Städten an öffentlichen Orten stand und auch mehrmals beschädigt wurde, wurde zum Sinnbild für die unterdrückte Frau im Islam. Die Beschädigungen hingegen wurden als Zeugnis gelesen einer Polarisierung zwischen dem aufgeklärten Westen und dessen Tradition der freien Kunst und dem Islam, der Fundamentalismus, Unterdrückung und eben keine Äußerungsfreiheit symbolisiere. „Im Namen der Freiheit der Kunst und Kritik sowie im Namen des Kampfes gegen Unterdrückung sichert diese mediale Diskurs Ausgrenzung ab, statt Unterdrückung zu kritisieren“ (S. 60). Hier zeigt sich, dass die Weise, wie Kunst rezipiert wird, von diesem eben auch nicht vorgegeben werden kann.
Insgesamt liefert das Buch einen sehr umfassenden Beitrag zur Frage der Meinungsfreiheit und den Möglichkeiten der Kunst. Die Beiträge schließen überdies den Zirkel Wissenschaft – Kunst – Öffentlichkeit und konservieren damit die Ausstellung und ihre Wirkungen. Und sie sind ein Zeugnis dessen, dass diese Sphären nicht isoliert sein müssen, sondern Kunst politisch und kritisch-wissenschaftlich erfassbar ist. Leider wird in den Beiträgen nicht immer deutlich, welche Werke tatsächlich und in welcher Form ausgestellt wurden oder ob sie nur für den Band hinzugezogen wurden. Doch ist der Band reich bebildert – vor allem mit Fotografien aus den Ausstellungsräumen − und liefert so einiges an Anschauungsmaterial.
Freedom of Speech.
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln.
ISBN: 978-3-86560-830-7.
176 Seiten. 19,80 Euro.