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Das symptomatische Leiden

Zwei Schriftzüge in weiß auf schwarzem Hintergrund übereinander angeordnet, oben steht "Marx", unten "Lacan". Beide sind in Richtung des anderen in die Länge gezogen und verschwimmen in der Mitte ineinander.
Buchautor_innen
Samo Tomšič
Buchtitel
The Capitalist Unconscious
Buchuntertitel
Marx and Lacan

Warum eine Kombination aus Marxismus und Psychoanalyse besonders gut geeignet ist, um Herrschaftsstrukturen zu erkennen und sie zu verändern.

Die Psychoanalyse fristet im akademischen Betrieb ein ähnliches Schicksal wie der Marxismus: Einst eine zentrale Methode beim Nachdenken über Gesellschaft, wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter an den Rand gedrängt. Sigmund Freud und sein französischer Weiterdenker Jaques Lacan scheinen wie Marx eine Art „Bastarde“ der Universität zu sein: Geheimnisvolle, alte Weise, von denen alle schon gehört haben und denen ein Hauch von 68er-Abenteuer anhaftet, die aber an keinem Lehrstuhl so richtig zuhause sind. Marx, Freud und Lacan sind allesamt Denker der Krise und der Veränderung. Spätestens seit 1989 scheint eine geschichtslose Gegenwart angebrochen, die ohne solche theoretischen Kriseninterventionen auszukommen vorgibt. 20, 30 Jahre später sind die ökonomischen und politischen Krisen längst zurück an die Oberfläche gekrochen. Dass wir die Kapitalismuskritik (wieder) brauchen, scheint auf der Hand zu liegen. Doch nicht nur die ökonomischen Verhältnisse werden prekärer. Auch die psychische Struktur der Individuen und der ganzen Gesellschaft hat vielleicht eine (Psycho-)Analyse wieder nötiger als noch vor zehn Jahren.

Warum und wie man beide – Marxismus und Psychoanalyse – zusammendenken sollte, hat Samo Tomšič in „The Capitalist Unconscious. Marx and Lacan“ erarbeitet. Tomšič kommt aus der Ljubljaner Schule für Psychoanalyse, wo Marx, Freud und Lacan bei Slavoj Žižek und dessen slowenischen Kolleg*innen noch ein institutionelles Zuhause haben. Von Anfang an ist wichtig mitzubedenken, dass die Resonanzen, die hier zwischen Marx und Freud entstehen, kaum etwas mit dem zu tun haben, was gemeinhin als „Freudomarxismus“ bekannt ist. Dessen bekanntester Vertreter Wilhelm Reich, in den 1960ern viel gelesen, meinte sehr vereinfacht gesagt, dass der Kapitalismus die freie Entfaltung der Sexualität unterdrücke und die sexuelle Befreiung deshalb auch eine antikapitalistische, revolutionäre Wirkung entfalten könne. Dieser Form des Freudomarxismus liegt die Annahme zugrunde, es gebe so etwas wie eine freie, authentische, kurz „nicht entfremdete“ Form der Sexualität und des Zusammenlebens. Diese fröhliche Gemeinschaft ist in der lacanianischen Auslegung der Psychoanalyse nicht vorstellbar. Die Entfremdung ist bei Jaques Lacan grundlegender Bestandteil jeder Subjektwerdung – also Bestandteil dessen, wie Menschen zu handelnden, fühlenden, sich selbst reflektierenden Individuen werden. Es geht ihm in seinen Theorien niemals um eine Abschaffung dieser Entfremdung. Nur das Leiden des Subjekts an ihr kann und soll durch die Psychoanalyse verringert werden.

Bei Lacan ist es nicht nur der Vater, nicht nur die patriarchale Familie oder Gesellschaft, die für die psychische Beschädigung der Individuen verantwortlich ist. Seine Analyse der Subjektwerdung geht auch stark auf die Sprache als das Zusammenleben, Denken und Fühlen prägende Struktur ein. Herrschaftsmechanismen und eine grundlegende Entfremdung von der Welt und den Gefühlen sind für ihn immer bereits in der Sprache enthalten. Das ist eine höchst abstrakte Angelegenheit, die viele Leser*innen vor Lacan zurückschrecken lässt. Lacans Texte selbst sind extrem schwer verständlich, anspielungsreich, voller Wortspiele und polemisch. Die vielen doppelten Bedeutungen sind schwer ins Deutsche zu übersetzen. Was Samo Tomšič über Lacan und Marx schreibt, ist immer noch sehr anspruchsvoll – schließlich versucht er gewissermaßen, die Baupläne zweier extrem abstrakter und komplizierter Theoriegebäude übereinander zu legen und zu vergleichen. Doch wer schon in Berührung mit einer der beiden Theorien war, wird bemerken, dass der Vergleich die jeweils andere verständlicher macht.

Im Unbewussten des Kapitalismus

Aber einen Schritt zurück: Wie kann man etwas so Unterschiedliches wie die Struktur der Psyche und die des Kapitalismus überhaupt vergleichen? Es ist wichtig zu bemerken, dass Tomšič den Marxismus nicht nur als Kritik an kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen und Anleitung zu ihrer Veränderung versteht. Gleichzeitig ist sein Begriff von Psychoanalyse kein rein therapeutischer im Sinne einer „talking cure“, bei der ein*e Patient*in auf der Couch liegt und aus den Erzählungen aus der Kindheit auf eine Erklärung für das heutige psychische Leiden geschlossen wird. Für ihn sind beide Disziplinen durch ihre grundlegende Methode miteinander verbunden und dadurch vergleichbar: Sie streben danach, jene verborgenen Strukturen freizulegen, die auf der einen Seite die menschliche Psyche und auf der anderen Seite die kapitalistische Wirtschaftsform organisieren und stabilisieren. Sowohl die Psychoanalyse, als auch der Marxismus spüren also solche Strukturen auf, nehmen sie nicht als natürlich oder schon immer gegeben an und streben danach, sie zu verändern und so das Leid der Menschen zu vermindern.

„Struktur“ meint in diesem Zusammenhang eine Art Bauplan der Psyche und der Wirtschaft, der auf diskursiven (also in der Sprache liegenden) und materiellen Mechanismen beruht, von denen die Menschen nichts wissen, die sie aber selbst tagtäglich ausführen und so die Struktur erhalten. „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (Marx 1962, S.88) ist der berühmte Ausspruch von Marx, als er über den Warenfetisch, also das „falsche Bewusstsein“ der Menschen beim Warentausch spricht. Die Menschen denken, wenn sie mit Waren handeln, sie würden verschiedene Güter auf Basis ihres ganz eigenen und speziellen Werts tauschen und vergleichen. Sie glauben, es würde sich dabei um ein Verhältnis zwischen Dingen handeln. Dabei, und das ist Marx’ revolutionäre Erkenntnis, ist der Warentausch nicht nur ein Verhältnis zwischen Dingen, sondern ein Verhältnis zwischen Menschen, das sich hinter einem Verhältnis zwischen Dingen versteckt. Zwei Werte vergleichen heißt nicht, manche Gegenstände besonders schön oder nützlich oder begehrenswert zu finden und sie nach diesen Kriterien zu tauschen. Sondern es bedeutet, in einem komplizierten, von Machtverhältnissen geprägten System verschiedene Mengen menschlicher Arbeitszeit zu vergleichen, die in den Gegenständen kristallisiert sind. Das „falsche Bewusstsein“ kommt nicht nachträglich zum vorerst unschuldigen Tausch hinzu, sondern ist von Anfang an ein unverzichtbarer Teil davon – selbst den Mechanismus zu verstehen, würde die Struktur noch nicht abschaffen. „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ könnte man also durch „Ob wir es wissen oder nicht, wir tun es trotzdem“ ersetzen. Der Warenfetisch wäre ein Beispiel für eine der verdeckten Strukturen des Kapitalismus, die von Marx freigelegt werden.

Die Psychoanalyse operiert laut Tomšič ähnlich, wenn sie die Mechanismen erforscht, die dafür sorgen, dass Menschen eine ganz bestimmte Art haben zu denken, zu fühlen, zu begehren und zu leiden. Die revolutionärste Entdeckung in dieser Hinsicht ist wohl das Unbewusste: Wissen und Gefühle der Menschen, die sich nicht auf der Bewusstseinsebene abspielen und trotzdem alle Handlungen und Emotionen entscheidend prägen: „Ob wir es wissen oder nicht, wir tun es trotzdem“. Für Tomšič erscheint das Unbewusste nun als vergleichbar mit der Arbeitskraft bei Marx. Die Arbeitskraft ist für Marx der Kern aller Produktion und jeglichen Tauschs. Gleichzeitig wird sie – wie beim Beispiel Warenfetisch – ständig verschleiert. Sie erscheint als Unbewusstes des Kapitalismus: The Capitalist Unconscious.

Für eine kritische Psychoanalyse!

Aus dieser an den Strukturen interessierten (oder „strukturalistischen“) Herangehensweise an die Gesellschaft bei Marxismus und Psychoanalyse folgt eine „de-psychologisierte und de-individualisierte Vorstellung des Subjekts“ (S. 5). Beide stellen sich so als materialistische Subjekttheorien heraus: Theorien, die die Struktur der menschlichen Psyche nicht als gegeben, sondern von äußeren, von materiellen Faktoren bestimmt, verstehen. Auf Basis dieser ersten Analogie zwischen Unbewusstem und Arbeitskraft nimmt sich Tomšič in der Folge die verschiedensten Begriffe aus beiden Disziplinen vor, um ihre Resonanzen zu erforschen: Was haben der Trieb und der Wunsch, was haben Neurose und Perversion als beschädigte psychische Strukturen, was haben Libido, Begehren und Verdrängung mit Marxschen Begriffen wie der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, Tausch-, Gebrauchs- oder Mehrwert, zu tun?

Beispielhaft dafür ist die Behauptung, das Proletariat bei Marx habe eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Symptom in der Psychoanalyse. Jaques Lacan hat einmal behauptet, Marx hätte mit seiner Analyse des Kapitalismus noch vor Freud das Konzept des Symptoms erfunden. Mit Symptom ist hier gemeint, dass Probleme in der psychischen Struktur – also zum Beispiel ein verdrängtes Trauma, an das man sich nicht bewusst erinnern kann – manchmal körperliche Symptome produzieren können wie Kopfschmerzen, Ticks oder Krankheiten. Diese körperlichen Symptome haben ihre Ursache in der verborgenen psychischen Struktur. Erst, wenn der Patient oder die Patientin die Struktur erkennt, versteht und das Trauma durcharbeitet, kann das Symptom verschwinden. Das Symptom ist dabei kein Feind, der bekämpft werden muss, sondern ein Freund, der Hinweise auf versteckte Probleme gibt. Das vergleichbare Konzept bei Marx wäre, wenn wir Lacan via Tomšič folgen, das Proletariat: Eine Klasse, die das Leiden am Kapitalismus verkörpert und zugleich eine privilegierte Erkenntnisposition einnimmt. Der oder die Proletarier*in kann, so Marx, aus seinem oder ihrem gewissermaßen symptomatischen Leiden heraus die Widersprüche, die die Wirtschaftsform produziert, offensichtlicher erkennen und verstehen als Menschen, die vom Kapitalismus profitieren.

Es lohnt sich, diese auf den ersten Blick unvorstellbaren Analogien zwischen Marxismus und Psychoanalyse nachzuvollziehen. Das hohe Abstraktionsniveau bringt die Leserin dazu, häufig die Stirn zu runzeln und einzelne Absätze mehrmals zu lesen. Viele Ausführungen sind so weit entfernt vom (Theorie-)Alltag, dass einiges an mentaler Verrenkung nötig ist, um zu folgen. Aber wie in einer komplizierten akrobatischen Turnübung stellt sich nach der anfänglichen Anstrengung das begeisterte Gefühl ein, völlig neue Wege im Denken zu gehen. „The Capitalist Unconscious“ zeigt, dass es an der Zeit ist, die Psychoanalyse wieder in ein Repertoire kritischer Theorieinstrumente aufzunehmen, auch wenn sie in der Linken zuweilen als starr, veraltet oder antifeministisch in Verruf war. Denn es geht hier nicht um das Dreieck Vater-Mutter-Kind und um Sex im banalsten Sinne des Wortes, sondern um eine besondere wissens- und erkenntnistheoretische Position, die Psychoanalyse und Marxismus teilen: Die von Herrschaftsverhältnissen geprägten Strukturen offenzulegen, unter denen politische und begehrende Subjekte entstehen.

Zusätzlich verwendete Literatur

Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23, Berlin: Dietz.

Samo Tomšič 2015:
The Capitalist Unconscious. Marx and Lacan.
Verso, London/New York.
ISBN: 978-1-78478-108-8.
256 Seiten. 26,99 Euro.
Zitathinweis: Johanna Tirnthal: Das symptomatische Leiden. Erschienen in: Marx! 46/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/s/h3TJY. Abgerufen am: 23. 11. 2024 10:36.

Zum Buch
Samo Tomšič 2015:
The Capitalist Unconscious. Marx and Lacan.
Verso, London/New York.
ISBN: 978-1-78478-108-8.
256 Seiten. 26,99 Euro.