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Das alte Problem mit dem Klassismus

Buchautor_innen
Francis Seeck
Buchtitel
Klassismus überwinden
Buchuntertitel
Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft

Trotz Visionen einer sozial gerechten Gesellschaft und konkreten Vorschläge für Bündnisse und Handlungsschritte bleiben viele Fragezeichen.

Das im März 2024 erschienene Buch von Francis Seeck hat mein Interesse geweckt – kommt es doch mit dem vollmundigen Titel „Klassismus überwinden“ daher und verspricht im Untertitel, „Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft“ aufzuzeigen. Ich bin gespannt auf Seecks Vorschläge, insbesondere jene, die „größere strukturelle Fragen der Verteilung von Kapital“ (S.12) tangieren. Der Fokus meiner Betrachtung liegt dabei nicht auf der bekannten Kritik am Konzept Klassismus, sondern vielmehr auf den Vorstellungen einer sozial gerechten Gesellschaft, den Wegen dorthin und letztlich auch den Bündnissen, die dafür vorgeschlagen werden.

Wie kann man sich denn nun eine sozial gerechte Gesellschaft vorstellen? Seeck nähert sich dieser Vision mithilfe der „Wunderfrage“ (S. 18) und gibt Einblicke in Szenarien von Teilnehmenden aus verschiedenen Workshops. Viele stellen sich vor, entspannter und glücklicher aufzuwachen; sie könnten ausschlafen und dann gemütlich einen fair produzierten Kaffee schlürfen. Aber Moment! Wie wäre das mit den globalen Lieferketten und der Klimaschädlichkeit geregelt? Gäbe es überhaupt noch Lohnarbeit? Jedenfalls wäre die Arbeitszeit verkürzt und die Sorgearbeit fair verteilt, denn es sind auffällig viele Väter mit Kinderwägen unterwegs. Eine ostdeutsche Schwarze Frau aus der Arbeiter*innenklasse ist Bundeskanzlerin und die S-Bahnen sind – dem 9-Euro-Ticket sei Dank – regelmäßig überfüllt. Professor*innen wischen den Boden und man hört viel mehr Lachen, alle sind glücklich: Was muss passieren, damit dieses Gedankenexperiment Wirklichkeit werden kann?

Schritte in eine sozial gerechte Gesellschaft

Dafür gibt es in der Folge konkrete Vorschläge, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Jede einzelne Person könne dazu beitragen, so Seeck. Die Selbstorganisation von Erwerbslosen und Armutsbetroffenen oder Initiativen wie der Hashtag #ichBinArmutsbetroffen werden als Beispiele vorgestellt, die mit Vernetzung, Sichtbarkeit, Selbstermächtigung und Solidarität erfolgreich dazu beitragen, Scham und Vereinzelung zu überwinden. Zudem setzten diese Kampagnen und Bewegungen das Thema Einkommensarmut auf die politische Agenda. Nicht-Betroffene aller Klassen können sich solidarisieren oder im Sinne von Powersharing Ressourcen teilen. Eine besondere Rolle komme hierbei den sogenannten „Klassenübergänger*innen“ (S. 37) zu, also Menschen, die ihre soziale Klasse verlassen: Arbeiter*innenkinder etwa, die Abitur machen oder studieren. Seeck berichtet von Gesprächsgruppen, in denen eben diese „Klassenübergänger*innen“ über ihre neu erhaltenen Privilegien reflektieren und sich über ihre Erfahrungen austauschen können, die sie durch ihre „Klassenreise“ (S. 41) erhalten haben – schließlich hätten sie jetzt „von der Welt der Beherrschten in die Welt der Herrschenden“ (S. 40, im Ursprung ein Zitat von Chantal Jaquet) gewechselt.

Seeck kommt schließlich zu dem Credo: Gerade Klassenübergänger*innen müssten klassismuskritisch handeln, „indem sie den Blick weg von ihren individuellen Erfolgsgeschichten lenken und hin zu Fragen einer sozial gerechten Gesellschaft“ (S. 48/49), ginge es doch schließlich darum, Macht grundsätzlich anders zu verteilen. Den „Klassenübergänger*innen“ komme dabei eine wichtige Funktion als Vermittler*innen zwischen den Klassen zu, sie können helfen Allianzen zu bilden und Brücken zu bauen:

„Klassenübergänger*innen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse können wichtige Bündnispartner*innen für eine sozial gerechte Gesellschaft werden und zwischen unterschiedlichen sozialen Welten übersetzen. Auch Menschen mit Klassenprivilegien und mit einer privilegierten Herkunft können sich aktiv gegen Klassismus einsetzen, nämlich indem sie ihre Privilegien nutzen, um eine sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen“ (S. 109/110).

Bündnisse mit Superreichen?

An dieser Stelle wird es besonders spannend, denn Seeck richtet sich nun insbesondere an „klassenprivilegierte Menschen“ (S. 62) – also Reiche –, mit der Aufforderung, sich folgende Fragen zu stellen: „Wie kann ich verantwortungsvoll mit Klassenprivilegien, Reichtum und Macht umgehen, wie kann ich sie abbauen helfen?“. In der Folge werden Initiativen vorgestellt, die sich explizit an (junge) Menschen richten, die Teil der oberen zehn Prozent der Gesellschaft sind. Ein bekanntes europäisches Beispiel dürfte die Initiative „Taxmenow“ sein. „All diese Organisationen haben gemein, dass sie versuchen, das (unverdiente) Geld, wie ein Erbe, so umzuverteilen, dass die Gesamtgesellschaft davon profitiert und sich die Kluft zwischen Arm und Reich wieder schließt“ (S. 63), so die Hoffnung.

In diesen Kreisen bilden sich also Praxisgruppen, Strategien der Umverteilung werden entwickelt und Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Der Hebel zur Veränderung liegt dabei in einer Reform des Steuersystems; die Klassenprivilegierten (man könnte auch sagen: Superreichen) sollen bitte mindestens sieben Prozent ihres Vermögens abgeben. Und wer sich nicht ganz sicher ist, mit wie vielen Privilegien er oder sie gesegnet ist, kann im Internet ein Klassenprivilegien-Quiz machen.

Die Klimabewegung, intersektionale Bündnisse und antiklassistisches Miteinander

Im Hinblick auf Bündnisse, Zusammenschlüsse und gemeinsame Kämpfe eröffnen sich auf dem Weg in eine gerechte Gesellschaft neben den beschriebenen Allianzen der Superreichen weitere Handlungsfelder. Beispielhaft wird die Klimabewegung herausgegriffen. Seeck arbeitet heraus, dass die Klimakrise armutsbetroffene Menschen am stärksten trifft und konstatiert: „Der Kampf gegen die Klimakatastrophe und gegen Klassismus gehören also zusammen“ (S. 78). Dabei steht die Frage im Fokus, wie Klimaaktivismus sozial diverser und weniger klassistisch sein kann. Es geht um ausschließende Sprache und klassistische Annahmen, die „klassenübergreifende Bündnisse für Klimagerechtigkeit“ (S. 84) erschwerten und dazu führten, dass die Bewegung mehrheitlich von Gymnasiast*innen und Studierenden getragen werde. Einerseits müssten klassistische Vorurteile gegenüber nichtakademischen Bewegungen abgebaut werden, andererseits müsse überlegt werden, wie reiche Menschen erreicht und dazu eingeladen werden könnten, ihren Lebensstil zu überdenken. Schließlich werden Vorschläge für einen weniger akademischen Sprachstil und klassismuskritisch reflektierte Aufgabenverteilung gemacht und Beispiele für „öko-soziale Allianzen“ (S. 90) vorgestellt, die sich etwa gemeinsam für die Einführung des im Koalitionsvertrag versprochenen Klimageldes einsetzten. Seeck betont: „Eine sozial gerechte Gesellschaft können wir nur in klassengemischten Zusammenhängen erreichen“ (S. 107).

Um verschiedene gesellschaftliche Kämpfe zusammenführen zu können, beispielsweise gegen die Klimakatastrophe, gegen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und so weiter, müssten „intersektionaler Bündnisse“ (S. 96) eingegangen werden. Konkrete Schritte zur Umsetzung finden sich nicht; nach der Nennung und Vorstellung einiger Initiativen, die intersektionale Ansätze verfolgen, bleibt es beim allgemeinen Aufruf, eigene Handlungsfelder zu reflektieren, auf Ausschlüsse, Zugänge und Teilhabemöglichkeiten zu überprüfen und Barrieren abzubauen.

…Und wo liegt jetzt das (alte) Problem?

Schaut man sich die „handfesten Vorschläge und ungewöhnlichen Denkanstöße“ (Klappentext) Seecks genauer an, wird klar, dass diese Vorstellungen und Visionen eben nicht außerhalb des Kapitalismus, etwa in einer Gesellschaftsform ohne Ausbeutungsverhältnisse liegen, sondern allesamt Ideen sind, die den Kapitalismus lediglich etwas gerechter, freundlicher, erträglicher, weniger diskriminierend machen sollen. Genau darin zeigt sich das alte Problem mit dem Klassismus sehr deutlich.

Klassismus überwinden heißt davon ausgehend dann nicht, sich zusammenzutun, um die Chefetagen abzuschaffen, sondern die Superreichen zu bitten, uns doch einen Krümel vom Kuchen abzugeben. Und es heißt eben nicht, breite Bündnisse auf Basis gleicher Interessen zu schmieden, sondern als „Klassenübergänger*innen“ Brücken zu den Herrschenden zu bauen. Im Übrigen ist schon der Begriff der Klassenübergänger*innen irreführend, denn damit ist eher ein Milieu- oder Schichtwechsel gemeint – die Menschen bleiben ja größtenteils trotzdem Lohnabhängige, also Teil der Arbeiter*innenklasse.

Grundlegende Zusammenhänge für Ungleichheiten und Ungerechtigkeit, die dem Kapitalismus inhärent sind, werden ignoriert und gemeinsame Interessen – etwa in der Klimabewegung – nicht erkannt. Die Unterbelichtung des Bezugsrahmens Kapitalismus führt dazu, dass Klassismus keine Erklärung für Ausbeutungsverhältnisse liefern kann, außer diese auf diffuse „Machtverhältnisse“ (etwa S. 106) zurückzuführen. Gleichzeitig bleibt wie so oft unklar, was mit Klassismus denn nun konkret gemeint (oder besser: nicht gemeint) ist. Einerseits wird Klassismus im vorliegenden Büchlein als Diskriminierungsform beschrieben, andererseits soll seine Überwindung in eine sozial gerechte Gesellschaft führen. Zumindest ist Francis Seecks Buch ein weiterer Beleg dafür, dass sich antiklassistisches Handeln auf Antidiskriminierungspolitiken beschränkt und sich damit mit Sicherheit keine grundlegenden Veränderungen unserer kapitalistischen Gesellschaft erwirken lassen. Aber jetzt, nach der Lektüre, denke ich: Vielleicht ist das auch gar nicht das Ziel? Vielleicht sind die Visionen einer gerechten Gesellschaft schon damit befriedigt, länger schlafen zu können und in der Tagesschau den Reden einer ostdeutschen Schwarzen Bundeskanzlerin aus der Arbeiter*innenklasse zu lauschen? Vielleicht ist ein Ergebnis der Debatten um das Konzept Klassismus, dass es nun seinen Platz gefunden hat und gar nicht mehr versucht wird, damit größere Zusammenhänge zu erklären oder größere Veränderungen zu erreichen? Um mit den Worten Seecks abzuschließen:

„Zu Beginn meiner Fortbildungen zu Antidiskriminierung sage ich immer, dass es gut ist, wenn Teilnehmer*innen am Ende mehr Fragen haben als am Anfang des Seminars. Dasselbe gilt auch für dieses Buch.“ (S. 105)

Francis Seeck 2024:
Klassismus überwinden. Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-380-2.
128 Seiten. 12,80 Euro.
Zitathinweis: Lena Hezel: Das alte Problem mit dem Klassismus. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/NGviV. Abgerufen am: 16. 10. 2024 02:19.

Zum Buch
Francis Seeck 2024:
Klassismus überwinden. Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-380-2.
128 Seiten. 12,80 Euro.