Bauchladen der Ausgrenzungsdiskurse
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- Thilo Sarrazin
- Buchtitel
- Deutschland schafft sich ab
- Buchuntertitel
- Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Viel (zu viel) wurde über das Scheißbuch eines vermeintlichen Tabubrechers gesagt und geschrieben – wir wagen trotzdem mit ein bisschen Abstand nochmal einen Blick.
Im letzten August entzündete sich eine nicht enden wollende Debatte anhand der Veröffentlichung eines Buches namens Deutschland schafft sich ab (DSSA) des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (Thilo S.). Häufig war im Laufe der Debatte vom „Tabubrecher“ Sarrazin die Rede. Doch ob es sich schlicht um Tabubrüche handelt, kann bezweifelt werden, denn Thilo S. erschuf keineswegs „neue Diskurse“, sondern schöpfte aus dem reichhaltigen Angebot der vorhandenen ausgrenzenden Diskurse.
Betrachtet man die ersten Rezensionen in bürgerlichen Tageszeitungen, scheinen diese nicht wirklich zu der Debatte passen zu wollen, die sich danach entwickelte. Die tageszeitung (taz) polemisierte am 24.8. gegen die „Alarmiertheit Thilo Sarrazin“, der befürchte, „dass wir alle aussterben und durch Kopftuchträgerinnen ersetzt werden“. Auf der Online-Seite der Süddeutschen Zeitung (SZ) wurde am 29.8. in ähnlicher Weise unter dem Titel „Alle mal herhören: Das Ende naht“ über den apokalyptischen Charakter der in DSSA beschriebenen Szenarien gespottet, während die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 26.8. die Rezension mit „So wird Deutschland dumm“ übertitelte, um das Werk schließlich als „antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage“ zu bezeichnen. Von vielen auch hegemonialen Medien wurde Thilo S. für seine Thesen zunächst kritisiert oder lächerlich gemacht. Dennoch nahmen sich alle der genannten Zeitungen der von Thilo S. vorgegebenen Themen an, berichteten ausführlich und ergriffen teilweise für ihn Partei. Wir wollen uns daher nicht darauf konzentrieren, Thilo S. zu widerlegen oder ihn des Rassismus zu überführen, sondern das thematische Umfeld zeigen, in dem DSSA zum meistverkauften Sachbuch nach 1945 werden konnte. Uns interessiert weniger, warum Thilo S. dieses oder jenes sagt, sondern vielmehr, was aus Thilo S. spricht.
“Deutschland schafft sich ab“
Aufgrund der breiten Rezeption des Buches, zu der wesentlich eine Medienkampagne mit parallelen Vorabveröffentlichungen von SPIEGEL und BILD beitrug, war die erste Auflage des Buchs bereits vor dem offiziellen Erscheinen vergriffen. Was sich in den folgenden Monaten abspielte wurde je nach Phase und Sprecher_in als „Sarrazin-Debatte“, „Islam-Debatte“, „Integrations-Debatte“, etc. bezeichnet. Diese Begriffe treffen den Kern der Debatte(n) unserer Auffassung nach nicht. Entweder wird fälschlicherweise die Person „Sarrazin“ in den Vordergrund gestellt, die Debatte auf eine „Religionsdebatte“ reduziert oder der Begriff Integration (mal wieder) verwendet, wenn es um repressive Maßnahmen geht, die häufig einseitig eine Bringschuld von (Post-)Migrant_innen hervorhebt.
Wir glauben, dass vier Oberthemen im Zentrum der Debatte standen: Leistung, Einwanderung, Islam und Demografie, die zusammengenommen zu einer LEID-Debatte führten. Die mit diesen Themen korrespondierenden Diskurse, die wir ausgemacht haben, sind: der Leistungsdiskurs bzw. der neoliberale Ökonomiediskurs, der Einwanderungsdiskurs samt repressivem Gerede um Integration, das Themenfeld Islam und dem damit verbundenen „Kultur-“ bzw. Religionsdiskurs und der demographische Wandel bzw. der Bevölkerungsdiskurs im Allgemeinen. Ebenso gut könnte sie als LEIT-Debatte bezeichnet werden, die durch das Spektakel mit seinem Protagonisten Thilo S. die Formen der viel zitierten „Leitkultur“ deutlich werden lässt.
Das Buch ist klar strukturiert: Einleitung, zwei Kapitel zum „historischen Abriss“ und „Staat und Gesellschaft“ und schließlich „eine Bestandsaufnahme“, in der „Zeichen des Verfalls“ aufgezeigt werden. Nach der Behandlung der Themen „Armut und Ungleichheit“, „Arbeit und Politik“, „Bildung und Gerechtigkeit“, „Zuwanderung und Migration“ und „Demografie und Bevölkerungspolitik“ folgt das letzte Kapitel, das zwei Szenarien beschreibt, wie „Deutschland in 100 Jahren“ nach Meinung des Autors im besten oder eben schlechtesten Fall aussehen könnte. Anstatt jedoch das Buch anhand dieser „offiziellen“ Gliederung abzuhandeln stellen wir die Inhalte entlang der Diskurse, die in DSSA bedient werden, dar.
Leistung und Ökonomie
Um den Rekurs auf Leistung in DSSA besser einordnen zu können, hilft ein Blick darauf, was Thilo S. unter Armut versteht: „‘Arm‘ sind Empfänger von Grundsicherung in Deutschland nur, wenn man Armut als politischen Begriff auffasst, der sich inhaltlich von seiner ursprünglichen und historisch überkommenen Bedeutung gelöst hat.“ (S. 79f) In Bezug auf relative Armut stellt Thilo S. fest: „Das Konzept der relativen Armut hat aber mit Armut im klassischen Sinne nichts zu tun. Es ist letztlich sozialpsychologisch fundiert.“ (S. 109) Auf der einen Seite macht sich Sarrazin die zugeschriebene Seriosität der empirischen Sozialforschung zu Nutze, auf der anderen Seite wischt er zentrale Konzepte derselben zur Seite. Ein Problem sieht er allerdings: „Das in Deutschland garantierte Mindesteinkommen ist nicht anstößig niedrig, sondern kommt den unteren Arbeitseinkommen anstößig nahe.“ (S. 86) Die Parallelen zu Westerwelles Äußerungen über „spätrömische Dekadenz“ sind offensichtlich. Westerwelles Äußerungen ähneln wiederum im Kern sehr denen von Peter Sloterdijk und der denkwürdigen - überwiegend im Feuilleton ausgetragenen - Debatte im Sommer und Herbst 2009.
Im Juni 2009 schrieb Sloterdijk in der FAZ den Aufsatz „Die Revolution der gebenden Hand“, in der er eine angebliche Umkehrung der Ausbeutungsverhältnisse feststellte. Während „im ökonomischen Altertum“ die Reichen auf Kosten der Armen lebten, könnte es in der „ökonomischen Moderne“ kommen, „dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben“. Es sei an den Leistungsträgern, sich der Ausbeutung durch den Steuerstaat zu widersetzen – die angebrachte Reaktion auf die hiesige Form des „Semisozialismus“ wäre ein „fiskalischer Bürgerkrieg“. Sloterdijk verteidigte Thilo S. gegen eine von ihm imaginierte deutsche „Meinungs-Besitzer-Szene“ – die Gemeinsamkeit der Stärkung von Ungleichheitsdiskursen scheint dabei für Sloterdijk gegenüber des rassistischen Gehalts der Aussagen von Thilo S. zu überwiegen. Dabei ist dessen verwertungslogische Haltung nicht von seinem Rassismus zu trennen, wie sich an folgender Passage zeigt: „Die deutsche Einwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte hat nicht die Leistungsträger fremder Völker angelockt, sondern vornehmlich Landbewohner aus eher archaischen Gesellschaften, die in ihren Heimatländern am unteren Ende der sozialen Rangskala wie auch der Bildungsskala angesiedelt sind.“ (S. 58) Die Abwertung von Menschen anhand ökonomischer Kriterien legitimiert sich hier zusätzlich darüber, dass diese als die fremden „Anderen“ als rückständig und unzivilisiert inszeniert werden. Diese Position bedient den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft und verhindert, dass gemeinsame Betroffenheiten sichtbar werden.
Einwanderung
Dieses Selbstverständnis spiegelt sich in den Kosten-Nutzen-Rechnungen von Thilo S. wider. Insbesondere Einwander_innen fallen seinen Kalkulationen zum Opfer:
„Das System ist pervers. Keine der Araberfamilien, deren Kinder die Neuköllner Grundschule besuchen, bekäme in den USA auch nur einen müden Cent. Deshalb sind sie auch nicht dort, sondern in Deutschland. Die indischen Informatiker gehen dagegen lieber in die USA. Aufgrund der üppigen Zahlungen des deutschen Sozialstaats ziehen wir eine negative Auslese von Zuwanderern an. Das Transfersystem setzt auf deren Fruchtbarkeit hohe Prämien aus und zieht so die migrantische Unterschicht von morgen heran. (…) Die gute Versorgung bewirkt überdies, dass jeder Integrationsdruck fehlt. Aus den männlichen arabischen Kindern dieser Grundschule werden die jugendlichen Gewalttäter von morgen, während die jungen Mädchen früh heiraten, viele Kinder bekommen und durch mehr Transferleistungen das Familieneinkommen sichern.“ (S. 323f)
In dieser Passage rekurriert Thilo S. nicht nur auf den Einwanderungsdiskurs, sondern zudem auf den ökonomischen Diskurs („migrantische Unterschicht“), den Bevölkerungs- bzw. Demographiediskurs („Fruchtbarkeit“), den biologistischen Eugenikdiskurs („negative Auslese“) und auf den Sicherheits- bzw. Kriminalitätsdiskurs („Gewalttäter“), der jedoch wie auch in der nachfolgenden Debatte eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Diese selektive Behandlung seiner Äußerungen wird angesichts von gewissen Passagen, die wenig skandalisiert wurden, noch deutlicher. So schreibt Thilo S. zum Beispiel:
„Die türkischen Migranten heiraten zu über 90 Prozent wiederum Türken; rund 60 Prozent der Ehen türkischer Staatsbürger in Deutschland werden mit einem Partner aus der Türkei geschlossen. (…) Durchweg kommen die Importpartner aus dem regionalen Umfeld und häufig auch aus der engen Verwandtschaft der Familie, in die sie einheiraten. Häufig sind es Vettern und Cousinen. Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist.“ (S. 316)
Neben dem Rekurs auf vermeintliche Wahrheiten („Es ist bekannt“) verbinden sich in DSSA neben anderen Diskriminierungsformen auch Rassismus und ableism. Trotz konjunktureller Schwankungen rassistischer Inhalte im Einwanderungsdiskurs gibt es, historisch betrachtet, Kontinuitäten, welche unter anderem an Schlagwörtern wie „Belastungsgrenzen“, „Ghettoisierung“ oder „Ausländerkriminalität“ deutlich werden. An diese Schlagwörter knüpft Thilo S. an und macht sie zu einem essentiellen Teil seiner Geschichte über Deutschlands Abschaffung.
Islam
Ein zentrales Darstellungsmuster im Islamdiskurs ist das einer „islamischen Kultur“. Dafür bietet Thilo S. in seinem Buch ausreichend Anschauungsmaterial. Ein Beispiel:
„Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen (...) Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden, auch regional nicht.“ (S. 308)
Thilo S. bedient mit seinen Aussagen einen Anti-Islam-Diskurs, der also auf der politischen Ebene auch in der Debatte anschlussfähig war. Auf der medialen Ebene lassen sich ebenfalls Parallelen feststellen, in der Art und Weise wie „die Muslime“ als homogene Gruppe konstruiert werden und mit welchen Zuschreibungen sie belegt werden. Insbesondere der SPIEGEL machte immer wieder mit antimuslimischen Titeln von sich reden: „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“, „Der Koran. Das mächtigste Buch der Welt“ – um nur einige zu nennen. Vorgearbeitet hat Thilo S. bereits mit seinen Äußerungen über „Kopftuchmädchen“, doch auch diese stellen keine Neuheit dar. 2004 titelte zum Beispiel der SPIEGEL „Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland“. Sexismus wird durch solche Titel zugunsten einer Ethnisierung des gesellschaftlichen Phänomens entpolitisiert. Diese Vorstellungen sind eng mit dem Einwanderungsdiskurs verbunden – der migrantische Prototyp wurde muslimifiziert.
Demographie
Ein weiteres zentrales Thema in DSSA und der LEID-Debatte war „Demographie“. In einem Interview mit der BBC fasste Thilo S. seine Problemdiagnose mit „the brightest people get the fewest babies“ zusammen, wobei Spiegel Online aus dem ersten Teil des Satzes „the whitest people“ machte – dieses Missverständnis ist durchaus plausibel im Kontext seiner anderen Äußerungen. Immer wieder beklagt Thilo S. das drohende Aussterben der Deutschen, die durch hohe „Fertilitätsraten“ wachsende Bevölkerungsgruppe der Einwander_innen, etc. Diese Sorgen werden immer wieder gepaart mit eugenischen Grundmustern:
„Die Schichtabhängigkeit des generativen Verhaltens in Deutschland ist als stabiler Trend empirisch belegt, belegt ist auch, dass zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenzleistung ein recht enger Zusammenhang besteht. Unter seriösen Wissenschaftlern besteht heute zudem kein Zweifel mehr, dass die menschliche Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist. Der Umstand, dass bei unterschiedlicher Fruchtbarkeit von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Intelligenz eugenische oder dysgenische Effekte auftreten können, wird daher nicht mehr grundsätzlich bestritten.“ (S. 93)
Wie sehr Thilo S. in den humangenetischen Diskurs verstrickt ist, zeigen auch seine Verweise zu Francis Galton. Von Thilo S. wird dieser als „Vater der frühen Intelligenzforschung“ bezeichnet (vgl. S. 93), Galtons Ausführungen zu Eugenik und Rassenlehre scheinen seine Zitierfähigkeit für DSSA nicht zu beeinflussen. Das „Problem des demographischen Wandels“ beherrscht seit Jahren Teile der Diskussionen in Deutschland. Thomas Etzemüller hat in einem sehr lesenswerten Essay (Ein ewigwährender Untergang, 2007) den Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Es zeigt sich, dass Szenarien über das „aussterbende Volk“, der zu hohen Geburtenraten der „Falschen“ das ganze Jahrhundert – schon vor dem Ersten Weltkrieg – herauf beschwört wurden.
Bauchladen-Prinzip
Zwar sind es die dargestellten LEID-Themen, um die sich die Argumentationen von Thilo S. und auch die der Debatten in Folge der Veröffentlichung von DSSA drehen. Aber auch andere kaum beachtete Ausgrenzungsdiskurse werden von Thilo S. bedient und forciert. Für die leistungsorientierte Verdatung von Menschen zieht Thilo S. auch die Kategorien „Frauen“ und „Männer“ heran: „Seit den dreißiger Jahren werden die Aufgabenanteile in Intelligenztests so normiert, dass sich für beide Geschlechter der gleiche durchschnittliche IQ ergibt. (…) Bei den extremen Begabungen – IQ von 145 und mehr – ist die Relation zwischen Jungen und Mädchen 8:1 und höher.“ (S. 216) Er stellt fest, dass die Überzahl der Jungen bei den „Hochintelligenten“ und „extremen Begabungen“ nicht mit dem durchschnittlich besseren Abschneiden von Mädchen in der Schule zusammenpassen wollen, und erklärt: „Eine Rolle spielt auch, dass die größere Verhaltensstabilität der Mädchen und ihr besseres Kommunikationsvermögen dazu führen, dass Mädchen selbst bei gleicher Leistung häufig besser benotet werden als Jungen und deshalb häufiger eine Gymnasialempfehlung erhalten.“ (S. 216) Um die suggerierte eigentlich höhere Leistungsfähigkeit der Jungen zu aktivieren, schlägt er „ein attraktives Bewegungsangebot“ vor, um „dem ausgeprägten Bewegungsdrang der meisten Jungen“ Rechnung zu tragen. (S. 216)
Er verstrickt sich damit auch in die Widersprüche, die der gegenwärtigen Leistungsideologie inhärent sind. Diese behauptet einerseits die „objektive Messbarkeit“ von Leistung und muss daher Chancengleichheit bei der Erreichung der als Leistung angesehenen Ziele voraussetzen, andererseits plädiert sie oft selektiv für die Berücksichtigung von Einflussfaktoren auf diese Leistung.
Es lässt sich festhalten: Thilo S. hat keineswegs neue Diskurse eingeführt – vielmehr sprechen bereits etablierte Diskurse aus ihm. Welche Faktoren haben dazu geführt, dass er dennoch eine monatelange Diskussion initiieren, als Tabubrecher und Provokateur markiert, seine Thesen mehr gefeiert als skandalisiert werden konnten?
Ein Grund liegt in der Kontinuität und Stabilität von Diskursen, die sich zwar verändern oder in den Hintergrund treten können, aber nie vollkommen verschwinden. Insofern boten zunächst die vier dargestellten Diskurse den Thesen von Thilo S. einen Nährboden. Zusätzlich standen einige der von uns beschriebenen Diskurse während der letzten Monate und Jahre besonders im Vordergrund. Durch die breite Auseinandersetzung von Thilo S. mit Bildung, Migration, Demographie, Ökonomie, etc. und den unterschiedlichen Grundannahmen und Konsequenzen bediente Thilo S. eine Fülle an Einstellungsmustern. Aus Thilos Bauchladen konnten sich sehr viele bedienen – die „Islamkritikerin“, die sich für ökonomistische Argumentationen gar nicht interessiert, der Leiharbeiter, dessen Feindbild Hartz IV-Empfänger sind oder Eliten, die um ihren Selbsterhalt bangen. Kein Wunder, dass in Alltag, Medien und Politik sich viele Menschen nach dem Motto „allgemein hat er recht, aber dort hat er übertrieben/unrecht/sich im Ton vergriffen“ äußerten.
Solche Debatten können wegen ihren vielfältigen entsolidarisierenden Wirkungen fatale Effekte haben. Thilo S. führt seinen Feldzug nicht allein gegen muslimische Migrant_innen, sondern gegen alle Personen, die nach seinem Leistungsempfinden nichts zur Gemeinschaft beitragen. Dass die Thesen auch von Menschen stark gemacht werden, die selbst von Teilen seiner Äußerungen betroffen sind, lässt sich auf die Vielzahl der bedienten Ausgrenzungsdiskurse zurückführen und birgt die Gefahr der weiteren Spaltung der in unterschiedlicher Weise Diskriminierten. In der gemeinsamen Marginalisierung liegt jedoch auch ein Potenzial für gemeinsamen Widerstand.
Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen.
DVA Verlag, München.
ISBN: 978-3-421-04430-3.
464 Seiten. 22,99 Euro.