„Wir wollten Öffentlichkeit und keine Zensur“
- Interviewpartner_innen
- Interview mit Peter Hinke
Ein Gespräch über Kunst und Literatur im Untergrund und die Suche nach einer anderen DDR.
Peter Hinke, Sie haben 1988 die Zeitschrift Sno’Boy ins Leben gerufen. Was war das für eine Zeitschrift? Aus welchem Impuls heraus haben Sie Sno’Boy gemacht?
Der Sno’Boy war eine literarische Zeitschrift mit fotografischen Beigaben, aber auch mit Cartoons, Grafiken, Schallfolien und dergleichen. Die Zeitschrift entstand in erster Linie aus dem Impuls heraus, Texte zu veröffentlichen, die wir selbst gern lesen würden – und wir wollten natürlich keiner Zensur unterliegen.
Einige Texte sind eher Reportagen, besser gesagt, sie sind eine Gratwanderung zwischen Literatur und Journalismus. Texte über den Abriss der Leipziger Universitätskirche zum Beispiel oder über den Fotografen Robert Capa, der 1945 in Leipzig mit den US-amerikanischen Truppen einmarschiert war und natürlich auch Bilder gemacht hat. Das waren Tabus, wir wollten aber gern etwas darüber machen. Aus heutiger Sicht wirken manche dieser Einlassungen vielleicht banal oder lächerlich. Mir ging es zum Beispiel in einem eigenen Artikel zur Sprengung der Universitätskirche im Jahre 1968 darum, aufzuzeigen, dass eine Kritik an einer solchen Aktion in den späten 1980er Jahren möglich sein musste, wenn man nach vorn schauen wollte. Ich habe auch damals wirklich daran geglaubt, dass man mit solchen Diskussionen etwas erreichen kann.
Der Sno’Boy war eine Zeitschrift im Selbstverlag, die illegal im Untergrund erschien. Was hatte der Samisdat für eine Bedeutung für die DDR-Opposition? Gab es eine Samisdat-Szene?
Den Begriff „Samisdat“ kannten wir damals nicht, später musste ich ihn erst einmal nachschlagen. Wir haben einfach losgelegt und uns keine Gedanken gemacht. Ich glaube, zu unserer Zeit war der Staat auch total überfordert mit sich. Nur einige Jahre vorher wäre das sicher anders gewesen, wir hätten dann sicher große Probleme bekommen. Wir waren frech und naiv, ich selbst glaubte mich auch gewappnet, falls es Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit gegeben hätte. Ich weiß nicht mehr, ob wir Angst hatten. Es war für uns eher ein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Ich selbst fühlte mich nicht unsicher, auch immer vor dem Hintergrund, dass ich das Land nicht verlassen wollte wie so viele andere. Ich war aber wütend darauf, dass dieser Staat durch seine Bevormundung, seine Gängelei, so viel verschenkte, so viele Menschen hoffnungslos machte und in den Westen trieb. Ich glaubte daran, dass die nächste Generation, also wir, eine bessere DDR machen könnten.
Die Samisdat-Szene war untereinander lose bekannt, einige waren politisch viel aktiver als wir, andere wiederum machten reine Kunsteditionen. Beides schloss sich nicht aus. Ich glaube aber schon, dass es in den meisten Projekten erst einmal darum ging, ein Ventil zu öffnen, rauszukommen aus den herkömmlichen Denkweisen. Sicher ging es auch um den Wunsch nach Verdrängung, aber gerade bei den künstlerisch-literarischen Projekten ging es darum, sich überhaupt erst einmal zu zeigen. Obwohl die Auflagen sehr klein waren, bekam man immer auf irgendeinem Wege die Veröffentlichungen zu lesen, auch aus den anderen Städten. In Leipzig war sicher der ANSCHLAG das literarisch-künstlerische und gestalterisch anspruchsvollste Projekt dieser Art.
Wie haben Sie Sno’Boy produziert, und wie lief der Vertrieb? Wer war an der Zeitschrift beteiligt?
Wir hatten eine Auflage von ungefähr 50 Exemplaren, bei bis zu 99 Exemplaren ging so ein Projekt als „grafisches Werk“ durch, rechtlich gesehen war das ein Spagat. Wir hatten aber bestimmt über 500 Leser, die Zeitschrift ging von Hand zu Hand. Der Sno’Boy war fest gebunden und hatte ein Foto-Cover. Wir benutzten alle möglichen Vervielfältigungsformen: Schreibmaschine, Lichtpausen, Fotografen mussten 50 Originalabzüge bringen. Und natürlich gab es damals noch keine frei verfügbaren Xerografiegeräte, wir verwendeten aber heimlich Geräte der Deutschen Bücherei. Und der Sno’Boy war schön und per Hand gebunden.
Die Zeitschrift wurde von Frank Pötzschmann und mir 1988 begründet, ich zeichnete dann nach der Ausreise Franks allein verantwortlich. Auch meine Adresse stand in jeder Ausgabe, es war mir wichtig möglichst „offiziell“ zu sein, obwohl das ja nicht wirklich möglich war.
Welchen Stellenwert haben Samisdat-Zeitschriften wie Sno’Boy innerhalb der DDR-Literatur?
Der Sno’Boy ist eine schöne Randnotiz der DDR-Literatur. Ungewöhnlich ist sicher die Mischung verschiedener Genres. Fotografie oder auch Comics – für uns arbeitete unter anderem der heute bekannte Zeichner Thommy Schwarwel – fand man in anderen Zeitschriften weniger.
1990, kurz nach der Wiedervereinigung, haben Sie die Connewitzer Verlagsbuchhandlung gegründet. Dort veröffentlichten später auch mehrere Autor*innen des Sno’Boy.
Ja, das ist großartig und freut mich selbst sehr. Zum Beispiel haben die Dichter Thomas Böhme und Thomas Kunst mehrere Bücher bei uns veröffentlicht, die Zusammenarbeit reicht bis ins Heute. Auch die Leipziger Fotografin Karin Wieckhorst ist hier weiter sehr präsent. Ein wichtiger Autor war auch der leider viel zu früh verstorbene Holger Jackisch.
Wie hängen diese beiden Projekte, Verlagsbuchhandlung und Zeitschrift, zusammen?
Es gibt einen roten Faden: Lyrik, Fotografie, Leipzig. Wir haben einfach auf dieser Linie weitergemacht. Ich gründete dann im September 1990 noch eine Zeitschrift mit dem Namen Connewitzer Kreuzer. Diese griff viele Intentionen des Sno’Boy auf, entwickelte sich aber später unter neuer Führung zu einem Leipziger Stadtmagazin, welches bis heute existiert. Auch hier, 1990/1991, fand man journalistische Texte mit gehobenen literarischen Ansprüchen, Foto-Essays, Comics, Texte zur DDR-Kunst, zur Musik.
Wollten Sie den Untergrund in die Öffentlichkeit bringen?
Es gab keinen „Plan“ oder so. Über „Untergrund“ haben wir nicht nachgedacht. Wir wollten Öffentlichkeit und keine Zensur. Meine eigene Rolle sah ich in der des Mittlers, des Entdeckers. Der Galerist Judy Lybke, der übrigens auch in dieser Zeit sehr aufmerksam die künstlerischen und literarischen Zeitschriftenprojekte verfolgte und dem ich damals bei einem bibliographischen Projekt darüber zuarbeitete, sprach einmal in einem Interview über seine Arbeit von der Rolle eines „Fährmannes“, der die Künstler auf den Weg bringt. So würde ich das für mich auch benennen.
Die DDR-Literatur ist heute selbst Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung geworden. Es gibt einen festen Kanon, mit dem vor allem die Erfahrungen der Repression in der DDR reproduziert werden. Wie könnte man überhaupt „die“ DDR-Literatur definieren?
„Die“ DDR-Literatur gab es nicht, es gab alle Facetten und unterschiedlichste Ausrichtungen.
Welche Texte haben Sie damals besonders geprägt?
Texte von Wolfgang Hilbig, Holger Jackisch, Erich Loest, Christoph Hein, Stephan Heym, Christa Wolf und Andreas Reimann. Vieles liest man immer wieder.
Welche Texte gilt es Ihrer Meinung nach zu lesen oder wiederzuentdecken?
Es ist wirklich spannend, einmal unbefangen in alte Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen einzutauchen. Man kann hier viel entdecken, was möglich war und was nicht.
Es gibt immer wieder Forderungen nach dem großen „Wenderoman“. Zugleich ist in der Gegenwartsliteratur ein großes Interesse an der DDR zu verzeichnen, die heute verstärkt zum literarischen Gegenstand wird.
Ich schaue auch immer nach dem Roman, der die unglaublichen Momente festhält, auch die Augenblicke, als alles möglich schien. Bei Clemens Meyer findet man solche Momentaufnahmen, die regelrecht leuchten und die Euphorie dieser Zeit festhalten. Oder eben Figuren zeichnen, Menschen, die es heute nicht mehr oder kaum noch gibt. Ansonsten braucht es vielleicht Abstand, um einen großen Roman zu schreiben. Problematisch finde ich, dass unser Blick zurück immer mehr beeinflusst wird durch eine „offizielle“ Geschichtsschreibung. Man darf nicht vergessen, dass jeder von uns die DDR und den Herbst 1989 anders erlebt hat. Bei einem späteren Buchprojekt unserer Connewitzer Verlagsbuchhandlung, bei „Haare auf Krawall“, einer Geschichte über DDR-Jugendsubkulturen, werden zum Beispiel von den Leipziger Montagsdemonstrationen andere Facetten gezeigt als die, von denen wir heute lesen und hören.
Ich glaube, der Umsturz 1989 war eben nur möglich durch die Vielfältigkeit derer, die damals bewusst oder vielleicht auch unbewusst gegen den Staat aufstanden und eine Einheit des Widerstandes bildeten, die aber schon einige Wochen später in Auflösung war, denn zu verschieden waren doch die Menschen in dem, was sie letztlich wollten. Ich selbst war in verschiedenen Projekten aktiv, wurde aber mit der eigenen Zeitschrift durch die rasenden Verhältnisse regelrecht überfahren, zu schnell ging das. Ich würde mich mit dieser Arbeit als ein Tropfen im Meer dieser Zeit sehen und als staunenden Beobachter.
Das Interview führte Stephanie Bremerich.