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„Das ist Klassenkampf, kein Ost-West-Kampf“

„Das ist Klassenkampf, kein Ost-West-Kampf“ © Grit Hiersemann
Interviewpartner_innen
Interview mit Katja Barthold

Die Politik der Treuhand fragmentierte Anfang der 90er Jahre zahllose Betriebe im Osten der Bundesrepublik. Bei vielen Beschäftigten wirkt diese Erfahrung heute noch nach. Kann gewerkschaftliche Organisierung sie für die künftigen Transformationsprozesse wappnen?

Kritisch-lesen.de: Vor 30 Jahren erfuhr Ostdeutschland einen großen industriellen Transformationsprozess. Wie hat sich die Treuhandpolitik seit Beginn der 90er Jahre in den thüringischen Betrieben ausgewirkt?

Katja Barthold: Ich kann das weitergeben, was mir die Leute aus den Betrieben und meine Gewerkschaftskolleg*innen erzählen. Mit der Wende wurden die zu DDR-Zeiten volkseigenen Betriebe privatisiert, durch die Treuhand verwaltet und Investoren angeboten. Das klingt erstmal sehr sachlich, war aber eine sehr emotionale Prozedur für die Arbeiter*innen, weil die Belegschaften nicht eingebunden wurden. Sie mussten zuschauen, wie auch Investoren die Betriebe sehr billig kaufen konnten ohne das klar war, was ihre Absichten waren. Oft wurden die Produktionsmittel geholt und die Belegschaften gekündigt und die Fabriken geschlossen oder die Betriebe blieben, aber mit einem kleinen Teil der Belegschaften. Die Folge waren Massenarbeitslosigkeit und eine stark zersplitterte industrielle Landschaft mit kleinen Betrieben. Im Rahmen der Treuhand wurden die Beschäftigtenzahlen mindestens halbiert. Das sind Größenordnungen, die man sich kaum vorstellen kann: Ich weiß von einer Kollegin aus einem Betrieb, die nun in Rente ist, dass Anfang der 90er bei Zeiss Optik in Jena 16 000 Leute gehen mussten. Die Nachwirkungen davon sind auch heute noch spürbar. Oft fanden sie danach keine Arbeit mehr und zehren jetzt von einer sehr geringen Rente. Damit sind sie ökonomisch, aber vor allem auch gesellschaftlich tief gefallen. Das haben viele nicht überwunden. Davon können die Arbeiter*innen ein Lied singen, die jetzt bei uns im Erwerbslosen-Rentner*innenkreis sind, weil sie danach keine Stelle mehr fanden. Wir haben jetzt außer bei Zeiss und Stahlwerk hier in Ost-Thüringen keine Unternehmen, die größer sind als 300 bis 400 Leute. Und das heißt konkret: Die Arbeiter*innen sind mit sich und maximal ihrem eigenen Betrieb beschäftigt, und was die anderen im Betrieb B machen, das bekommen sie teilweise gar nicht mit. Eine Ausnahme ist, wenn sie sich gewerkschaftlich engagieren. Die Gewerkschaftsstrukturen sind daher so wichtig, weil sich da die einstigen Arbeitskollegen noch vernetzen können. Und das geschieht vielerorts auch.

Die Leute bauen damit auf ihre Erfahrungen aus der Zeit vor der Treuhand auf: Die Vernetzung fand ja nicht nur auf einer reinen Ablaufebene statt, sondern auch zwischen den Leuten. Durch die Kombinate hatten sie auch untereinander größeren Austausch. Sie waren oft in Betriebsgruppen und Brigaden engagiert, die die Aufgabe hatten, das soziale Leben der Beschäftigten zu gestalten. Dazu gab es natürlich viele Gewerkschaftsgruppen oder Ähnliches, wo man sogar gemeinsam in den Urlaub fuhr. Oder man hat gemeinsame Veranstaltungen gemacht. Also die Strukturen unserer heutigen ehrenamtlichen Gruppen zeigt mir das deutlich, dass das für viele auch ein Anker war und auch heute noch ist. Da kommen immer noch jeden Montag um 18 Uhr in Saalfeld die Rentner*innen zusammen, mit teilweise 80 oder 90 Jahren. Weil es halt einfach schon immer so war. In diesen Treffen schwingt die Erfahrung der Gemeinschaft noch immer stark mit. Es gab aber auch Leute, die sich in der DDR nur gezwungenermaßen engagiert haben und heute sofort abgeschreckt sind, irgendwo einzutreten oder mitzumachen. Manche weigern sich auch heute noch aus diesem Grund, in die Gewerkschaft einzutreten, obwohl die Situation eine ganz andere ist.

Regte sich gegen diese einschneidenden Transformationen Widerstand und wenn ja, in welcher Form fand dieser statt?

Es gab Widerstand der Belegschaften auf der gewerkschaftlichen Ebene, aber auch betriebsübergreifend, in der Gesellschaft. Er wurde vor allem durch die starke Vernetzung der Arbeiterschaft untereinander getragen. Sie waren ja zum gleichen Zeitpunkt von den gleichen Problemen betroffen. Wenn man das aus Sicht des heutigen Organizing-Einmaleins betrachtet, bot sich eine sehr gute Ausgangslage für einen gemeinsamen Kampf: Das Thema betrifft alle, es ist emotional und die Leute können gut eine gemeinsame Vision davon entwickeln, wo man eigentlich hin will – oder zumindest, was man verhindern will. Die Perspektive der Leute war nicht einfach „Blöder Westen, geh weg!“ – sie wollten, dass ihre Betriebe erhalten bleiben, dass sie bei der Umgestaltung mitreden können. Sie kannten ihre Maschinen und ihre Betriebe, oft im Gegensatz zu denen, die sie dann gekauft haben. In manchen Betrieben hat der Widerstand halbwegs funktioniert und sie konnten das Bestehen ihrer Betriebe durchstreiten, wenn auch in reduzierter Belegschaft. In vielen anderen wurden die Produktionsmittel abgezogen und der Betrieb zerschlagen. Und in diesen Firmen haben die Menschen einfach den Job verloren und nichts Vergleichbares mehr gefunden. Diese große Verlusterfahrung, den Kahlschlag mitzuerleben, der da passiert ist – die konnte man nicht aufhalten. Es ist also nicht so, dass die Arbeiter*innen sich kollektiv nicht gewehrt haben. Die Frage ist vielmehr, ob man Erfolg damit hatte. Haben sie gemeinsam ihre Ziele erreicht, verbindet sie diese Erfahrung bis heute und sie können darauf zurückgreifen, wenn es wieder an ihre Arbeitsplätze geht. Haben sie verloren, ist leider oft Resignation die Folge – oder den Kopf unten halten, wenn man geblieben ist. Die Deutung im Nachhinein prägt oft, wie man die Welt sieht. Die Deutung von damals lautet: Wir haben diesen Kampf verloren. Unser Betrieb wurde zerschlagen, viele unserer Freund*innen und Bekannten mussten in den Westen gehen, um zu arbeiten, oder sind arbeitslos geblieben. Die in den Betrieben übrig blieben, mussten sich anpassen – nicht nur an einen veränderten Betrieb und neue Chefs, sondern natürlich an ein komplett anderes Wirtschaftssystem.

Wie hat die damalige Erfahrung die Arbeit der Gewerkschaften beeinflusst?

Ich kenne Geschichten von meinen älteren IG Metall Kolleg*innen, wie sie oder Kolleg*innen aus Westdeutschland kamen, um Strukturen aufzubauen und zu Beginn im Wohnmobil von Ort zu Ort gefahren sind und in um aus diesen Wägen heraus für die Beschäftigten, die ihre Arbeit verloren haben, Abfindungen zu verhandeln oder sie in Transfergesellschaften unterzubringen, damit sie nicht sofort in die Arbeitslosigkeit rutschen. Meine Kollegin aus der Verwaltung erzählte mir, dass sie Hotelzimmer für IG Metall-Beschäftigte angemietet haben, in denen dann den ganzen Tag mit der Schreibmaschine Widersprüche gegen die Kündigungen geschrieben wurden. Es gab ja sonst gar keine Struktur, um die Leute aufzufangen, denen gekündigt wurde. Man musste eine Struktur aufbauen in einer Situation, in der alles schon ein massiver Abwehrkampf war. Ich glaube, das war ziemlich heftig und bevor ich mit den Leuten in den Betrieben gearbeitet habe, war mir nicht klar, welche Auswirkungen das bis heute für das Selbstverständnis einiger hat. Es war auch ein Kampf, der sehr emotional lief. In aktuellen Arbeitskämpfen – wie etwa den Forderungen nach einer 35-Stunden-Woche auch im Osten – kommen diese Erinnerungen wieder hoch. Und so erfahre ich auch die ganzen Geschichten des Widerstands. Ganz ohne Anlass erzählen es nämlich viele Kolleg*innen nicht, dass da jemand kam und ihnen gesagt hat, ihr könnt gar nicht arbeiten, wir bringen euch das jetzt bei. Und dass sie dem dann die Stirn geboten haben – oder eben auch nicht.

Also werden damit gleichzeitig zwei Kämpfe geführt, einmal gegen die Erinnerung und dann nochmal für eine aktuelle Verbesserung der Lage?

Ja. Manchmal muss man bei den älteren Kollegen und Kolleginnen zuerst eine Frusterfahrung wieder auflösen. Woran es auch immer konkret lag, dass ein Streik oder Arbeitskampf verloren wurde, muss von den Leuten, die dabei waren, selbst aufgearbeitet werden. Das ist für mich im Nachhinein oft schwierig zu deuten. Oft spielte aber mit, dass die westdeutschen Firmen ihre ostdeutsche Konkurrenz gekauft und abgebaut haben. Was willst du da machen? Die hatten dann gar nicht die Absicht, die Produktion weiterzuführen. Da ist auch ein Streik nur begrenzt wirkungsvoll. Die sagen dann einfach nur „Ja, danke, dass ihr streikt, dann können wir das hier besser ausräumen“. Oft war daher Besetzen die einzige Option, die sie hatten. Kolleg*innen aus dem Betriebsrat in einer Werkzeugfirma in Südthüringen haben berichtet, dass sie das Tor zugeschweißt und die Maschinen festgekettet haben. Sie haben sogar die Reifen von dem Typen der Treuhand zerstochen, der die Maschinen abholen sollte. Das haben sie mir erst diese Woche erzählt. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre das Routine. Und da war die IG Metall dabei, das war also kein wilder Streik der Beschäftigen. Der Kampf, den man da gemeinsam erlebt hat, der hebt das alles auf eine andere Ebene.

Wie würdest du die Auswirkungen der Treuhandpolitik auf die Arbeiter*innen beschreiben?

Es ist ein Trauma, das auch in den Betrieben und den Familien an die Jüngeren weitergegeben wurde. Daher kommt es, dass die Verlusterfahrung auch die kollektive ostdeutsche Identität ein Stück weit prägt. Das kanalisiert sich auch in starker Abgrenzung zum Westen, und allgemein einem eher negativen Umgang mit Veränderung. Ich sage ihnen immer: Ihr hasst nicht Wessis, ihr hasst Investor*innen – zumindest, wenn sie nicht investieren, sondern abbauen. Wen haben sie denn aus dem Westen kennengelernt? Das waren nicht ihre westdeutschen Kolleg*innen aus der Arbeiterschaft. Das waren Leute, die sich einen schicken Anzug angezogen und ein Auto gemietet haben, mit dem sie vorgefahren sind und sich teilweise für eine Mark die Fabriken gekauft haben, weil die Treuhand diese einfach loswerden wollte. Sie haben auch keine Investorenprüfung gemacht oder nachgefragt, was die Leute mit der Fabrik vorhaben. Es wurde einfach alles verschleudert. So wird es mir sehr oft erzählt. Die Leute haben versucht, dagegen anzukämpfen und mitzubestimmen, und je nach individueller Betriebsgeschichte ist das dann eben gelungen oder nicht. Aber es gibt glaube ich keinen Betrieb, der genauso erhalten wurde, wie er vorher war. Die Folge davon ist, dass nicht nur 80 Prozent aller Fabriken und Betriebe in nicht-ostdeutscher Hand sind. Das macht sehr viel mit einer Identität als „Ostdeutscher“ in den Betrieben, das merke ich daran, dass die Leute sich genau anschauen, wenn ein neue Werksleiter kommt, woher der kommt, Osten oder Westen. Das gleiche natürlich bei einem Eigentümer*innenwechsel. Einem ostdeutschen Werksleiter wird mehr verziehen. Ich sag den Leuten immer, dass wir nicht gegen Westdeutsche kämpfen, sondern für gute Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzerhalt. Es ist wichtig, dass wir lernen für etwas zu kämpfen und nicht gegen jemanden. Und ob ein*e ostdeutsche*r Investor*in anders gehandelt hätte – das steht in den Sternen. Das ist Klassenkampf, den wir hier führen, kein Ost-West-Kampf. Aber dadurch, dass die Geschichte so ist, wie sie ist, ist das Bewusstsein oftmals nicht „Wir Arbeiter“, sondern „Wir Ostdeutschen“.

Gleichzeitig haben viele diese Kampferfahrung, die sie eint, und diese Erinnerung ist oft auch sehr positiv. Wenn die Leute, die jetzt noch da sind, davon erzählen, dann muss man auch mitdenken, dass das in deren Jugend passiert ist und Nostalgie eine große Rolle spielt. Man kann aber nicht per se sagen, dass nun alle verdrossen sind und nicht mehr für ihre Interessen kämpfen. Sie wissen im Gegenteil ziemlich genau um diese Interessen. Oft ist das sehr lehrreich, auch für die Kolleg*innen. Der Konzern einer Firma, die ich betreue, plant gerade deutschlandweit Stellen abzubauen. Als sich alle Standorte zu einem gemeinsamen Protest vor der Firmenzentrale trafen, ist in einer Rede auch das Wort „Besetzung“ gefallen. Alle waren total geschockt. Aber eine ältere Kollegin, äußerlich sehr mütterlich, meinte nur so: „Joa, ham‘ wa och schon mal gemacht!“ Da hat sie das zum ersten Mal erzählt! Die ganzen Kolleg*innen von ihr, die im gleichen Betrieb sind wie sie, die haben das noch nie gehört. Wir saßen dann also im Bus auf dem Weg zurück, und sie hat ihren Leuten davon erzählt, wie es damals war – über das zugeschweißte Fabriktor und alles andere. Das ist die selbe Fabrik gewesen, in der sie jetzt immer noch arbeitet. Und trotzdem kannte die Geschichte niemand.

Vielerorts dienen die Erkenntnisse über Transformationsgesellschaften auch als Erklärungsmuster für das Erstarken eines neu-rechten Projekts. Was hältst du davon?

Wenn Entlassungen stattfinden, die Leute wieder die Erfahrung machen, ihren Job zu verlieren, obwohl sie gute Arbeit gemacht haben und sich fragen „Warum passiert mir das jetzt!“, dann greift das Narrativ: Wir Armen im Osten sind einmal mehr als Erstes dran. Das ist erst einmal noch gar nicht per se rechts. Aber es gibt dafür Potenzial. Die Frage ist dann, wer näher an den Leuten dran ist und diese Themen als Erstes aufgreift. So banal ist es manchmal. Das heißt jetzt nicht, dass das nicht auch Potenzial von links hätte. Aber das Narrativ greift die Frusterfahrungen der Leute auf, die sich wieder von allen verlassen fühlen, auch von der Gewerkschaft, weil wir manchmal Dinge auch nicht erkämpfen oder verhindern können. Wir sind nicht ihre bloßen Stellvertreter*innen, sondern können Dinge nur gemeinsam erkämpfen. Wenn uns das nicht gelingt, können wir auch nicht das verhandeln, was sie erwarten.

Das Narrativ kann sehr gut von rechts gefüttert werden. Die AfD kommt dann und hat ihre Strukturen schon aufgebaut in den Dörfern und Gemeinden, und dann sagt sie: „Seht ihr! Und jetzt reden wir mal miteinander“. Und dann werden die Frusterfahrungen als Erstes umgedeutet: Gegen die Anderen, die „Ausländer“. Hier ist es zentral, ob im Betrieb und Gesellschaft Leute sich trauen dagegen zu sprechen. Wir haben Orte, wo sich engagierte Betriebsräte gesellschaftlich stark einbringen und zum Beispiel auch Proteste gegen AfD-Empfänge mitorganisieren. Da stehen sich Belegschaften auf der Pro und Contra Seite gegenüber – und das in Orten, wo sich jeder kennt. Das bringt natürlich auch Spannungen in die Betriebe. Kurz gesagt also: Der Mythos des rechten ostdeutschen Arbeiters allein ist ein generalisierter Mythos und ein vereinfachtes Erklärungsmuster.

Die Gewerkschaft als eine Plattform von vielen, die aber durchaus Durchschlagkraft besitzen kann. Welche Herausforderungen siehst du da mit Blick in die Zukunft?

Da gibt es einige umkämpfte Felder. Wir laden beispielsweise vor Wahlen auch Parlamentarier*innen zu unseren Delegiertenversammlungen ein – dort treffen sich die Gewerkschafter*innen aus den Betrieben. Dann stellen die Gewerkschafter*innen den Politiker*innen Fragen, wie sie Probleme in der Arbeitswelt lösen würden. Da merkt man schon: In einigen Parteien gibt es ein krasses Unwissen über die Realitäten im Betrieb. Es steht oft gar nicht unbedingt im Mittelpunkt, wer konkret Lösungen hat. Sondern eher: Wer sieht überhaupt die Leute in den Betrieben und deren Kämpfe. Wer die Frustration auffangen und politisch für sich nutzen kann, ist eine andere Frage. Und hier punktet oftmals die AfD. Natürlich ist sie keine Vertreterin der Arbeiter*innen und bietet auch keine Lösungen an, im Gegenteil. Dennoch haben in manchen Betrieben die Rechten Deutungshoheit – nicht die Mehrheit, aber sie sind am lautesten. Es gibt natürlich auch engagierte Kolleg*innen, die gegen diese rechte Hetze angehen. Wir schulen sie auch durch Seminare zu Rechtspopulismus oder Argumentationsworkshops. Je mehr die gesellschaftliche Stimmung jedoch kippt, desto schwerer haben sie es – und wir als Gewerkschaft natürlich auch. Es ist ersichtlich, dass die Rechten politische Entwicklungen oder gesellschaftliche Problemlagen immer wieder umdeuten, und auch, dass nichts mehr tabuisiert wird.

Wenn es jetzt wieder eine erneute Frustrationserfahrung gibt, in welcher Form auch immer das passiert – im Kontext der aktuellen Corona-Krise blicke ich da sorgenvoll dem Herbst und Winter entgegen, wenn die ökonomischen Schäden erst richtig reinhauen – dann ist meine Angst, dass es die Rechten sind, die ihre Strukturen nutzen werden. Dass es die AfD und Co. sind, die in den thüringischen Kleinstädten und auf den Dörfern da sind. Das ist aber noch nicht in Stein gemeißelt, aktuell offenbart sich in der Krisenbearbeitung ja (noch) eine deutliche Schwachstelle der rechten Formierungen.

Ein wichtiger Punkt, der immer wieder unter dem Begriff der Transformation angesprochen wird, ist die Automatisierung der Industrie. Wie kann sich hier die Gewerkschaft sinnvoll einbringen?

Für die Gewerkschaft ist an diesem Punkt zentral, dass wir in der anstehenden Transformation – die für uns als IG Metall ökologisch, sozial und demokratisch zu sein hat – insbesondere Beschäftigungssicherung erkämpfen. Und dass wir die Unternehmen dazu zwingen, Qualifizierungen und systematische Personalplanungen durchzuführen und die Leute auch künftig einzubeziehen und zu schulen. Wir haben hier in den letzten Jahren versucht, strukturell vorzuarbeiten und auch Einfluss auf Investitionen der Betriebe zu nehmen – noch bevor die ganz große Transformation da ist, in der man nur noch herumschreit und nicht weiß was tun. Wir versuchen hier, unseren Einfluss auszuweiten, weil das immer der Bereich ist, wo Arbeitgeber*innen sagen: Das ist unternehmerische Freiheit, das geht euch gar nichts an. Das Ganze passiert über das sogenannte „Zukunftspaket“ der Gewerkschaft oder spezifische Zukunftstarifvertragsmodelle. Mir erzählte ein Kollege, dass es einen ersten Pilotbetrieb gibt, bei dem – aufgrund des hohen Organisationsgrads in der Belegschaft und der dadurch erstrittenen Bereitschaft des Managements – ein gemeinsamer Investitionstopf vereinbart wurde. Da „zahlt“ die Belegschaft quasi ein, indem sie auf eine Sonderzahlung verzichtet, die dann dort hinein geht, und der Arbeitgeber zahlt auch soviel ein. Beide Seiten können – auf der Basis einer Zukunftsvereinbarung – nun paritätisch bestimmen, was mit dem Geld gemacht wird, wohin es investiert wird, wie der Betrieb umstrukturiert wird. Und das Ganze, ohne dass dabei Beschäftigtenstellen abgebaut werden müssen. Ich halte das – mit Blick auf die aktuellen Kräfteverhältnisse – für einen wichtigen Schritt, um den Einfluss der Belegschaft mit und durch uns als Gewerkschaft auf die unternehmerischen Entscheidungen auszuweiten. Im Moment ist es so, dass die Beschäftigten oft an ihren Maschinen stehen und fünf Ideen haben, wie man das Ding besser machen kann, sie kennen die Maschine schließlich – und niemanden interessiert's. Oder sie wissen, dass es manchmal gar keine neuen Maschinen sein müssen, sondern nur Umstrukturierungen im Betriebsablauf und so weiter. Sie wissen oft genauer, was es braucht, um die Aufträge zu bearbeiten und ihre Arbeitsplätze zu sichern.

Das klingt ja ziemlich pragmatisch: Einsparungen und Beschäftigungssicherung statt Übernahme der Produktionsmittel, wenn man mal ganz zugespitzt formuliert. Kannst du die Kräfteverhältnisse noch etwas genauer ausführen, von denen du sprichst?

Eine große Gefahr bei den aktuellen Transformationsprozessen ist, dass nur die Standorte gute Chancen haben, die auch selbst forschen und entwickeln, also neue Produkte und (digitale) Geschäftsmodelle entwickeln können. Es gibt ja den Endhersteller, zum Beispiel ein Autowerk, da braucht die Belegschaft nicht so viel Angst haben, dass sie komplett zugemacht werden. Dann gibt es Zulieferer ersten Ranges, die selber noch Kapital und Entwicklung haben, also auch nicht einfach austauschbar sind; und Zulieferer zweiten Ranges. Das sind eben die kleinen, mittelständischen Unternehmen, die Deutschland prägen, die aber – vor allem im Osten – oft nur noch einem oder wenigen Endherstellern zuliefern und damit enorm abhängig von deren Preispolitik sind. Das sind die, deren Existenz bedroht ist, wenn man davon spricht, dass bald viele Arbeitsplätze abgebaut werden könnten. Oder auch die, die in Zeiten der Corona-Krise plötzlich wegfallen können, wenn ein Endhersteller plötzlich seine ganze Produktion umstellt und die Lieferungen nicht mehr benötigt.

Das ist ein Problem auf der politischen Ebene: Was passiert denn hier im Osten, wenn die auch noch dran glauben müssen, dieses bisschen Industrie, das noch übriggeblieben ist, und die paar Autoendhersteller, die übrig sind? Was ist mit den Leuten? Das ist eine sehr politische Frage. Da wird es enorm wichtig sein, dass wir als IG Metall oder insgesamt als Gewerkschaften es schaffen, Beschäftigungssicherung und umfassende Qualifizierungen durchzukriegen. Dazu müssen die Leute verstehen, dass die Gewerkschaften sowas nur durchbekommen können, wenn sie sich in diesen auch organisieren. Nur dann wird aus Organisationsmacht plus Kämpfen auch institutionelle Macht, die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene einen politischen Gestaltungsanspruch formulieren kann und will. Wir müssen gut aufgestellt sein für diese Fragen. Wenn sie jetzt wirklich in den nächsten fünf Jahren nochmal massenhaft Leute entlassen oder es nicht gelingt, im Zuge des nötigen sozial-ökologischen Umbaus der Industrie und Wirtschaft neue zukunftsweisende Produktionsstandorte und Betriebe anzusiedeln, dann steigt das Potenzial für rechte Einstellungen noch weiter an.

Transformation beziehungsweise Industriepolitik ist deshalb immer ein politisches Thema. Das sehen wir aktuell auch in der Corona-Krise. Lebenswichtige Produkte, wie Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräte werden entweder gar nicht mehr oder nur noch zu geringen Stückzahlen in Deutschland oder Europa produziert. Dadurch wird uns die Abhängigkeit von globalen – oft auf einer Niedrigpreispolitik basierenden – Wertschöpfungsketten nochmal vor Augen geführt.

Zu diesen gehören prekäre Arbeitsplätze als elementarer Teil der neoliberalen Transformationsprozesse weltweit. Wie schätzt du die Gefahr weiterer Ausdehnung dieser Arbeitsverhältnisse ein, wie kann man dagegenwirken?

Globale Arbeitgeber*innen setzen gerne Leiharbeit ein. Sie brauchen und wollen eine austauschbare, „atmende“ Belegschaft, weil sie austauschbare Standorte wollen. Aber auch in Unternehmen, die nicht global und digitalisiert sind, ist Leiharbeit ein Problem, denn die ursprüngliche Idee der Leiharbeit, damit nämlich lediglich Auftragsspitzen abzufedern, wird nicht so gelebt. In einigen Betrieben übernehmen Leiharbeiter*innen Verantwortung für ganze Abteilungen und werden als Facharbeiter*innen eingesetzt. Das ist überall ein Problem, wird jedoch besonders in den riesigen Holdings deutlich, in denen die Standorte auch untereinander in Konkurrenz gesetzt werden. Oft werden auch Leiharbeiter*innen und feste Belegschaft gegeneinander ausgespielt. Wenn es dann zu konjunkturellen Schwankungen kommt, sind die Leiharbeiter*innen als erstes dran. Die werden dann einfach „abgemeldet“, weil sie als Sachmittel laufen und man nicht auf Kündigungsschutzrechte achten muss. Für die Betriebsräte ist es sehr schwer, diese zu vertreten. Aus Angst, abgemeldet zu werden, trauen sich Leiharbeiter*innen auch oft nicht, bei gewerkschaftlichen Aktionen mitzumachen.

Als Gewerkschaft sind wir immer wieder an dem Punkt, erst einmal in Deutschland über die Betriebe hinweg Solidarität aufzubauen und zu halten. Es gibt zwar Ressorts der IG Metall oder des DGB, die internationale Arbeit machen, und in der betrieblichen Realität ist es durchaus so, dass der Betriebsrat in Thüringen mit den Betriebsräten an den anderen Standorten in Deutschland über den Gesamtbetriebsrat vernetzt ist – allerdings ist es eher selten, dass der Betriebsrat in Königsee mal eben mit dem Betriebsrat in Malaysia redet, zumindest nicht hier in der Region. Aber der*die Manager*in aus Deutschland redet durchaus mit dem*der Manager*in aus Asien. Die sind uns damit natürlich voraus und haben weniger Hürden.

Oft wissen die Beschäftigten gar nicht mehr, gegen wen sie streiken sollen, oder wer der richtige Adressat für ihren Protest ist, weil die Struktur der globalen Unternehmen so komplex ist. Teil der Transformationen ist auch, dass vieles nur noch digital passiert. In globalen Konzernen wird der lokale Betriebsrat mal eben über Skype informiert und damit werden Mitbestimmungsrechte oft nicht beachtet. Das müssen wir uns dann mühsam vor Ort einklagen. Natürlich hat das jetzt in Corona-Zeiten nochmal eine verschärfte Dynamik, aber das war auch schon vorher so. Dann kriegst du über den Werksleiter irgendwann die Info: Das und das wurde jetzt entschieden. In Chicago. Oder sonst wo. Wenn wir lokal Öffentlichkeitsarbeit machen und Dinge skandalisieren, interessiert das die Unternehmensleitung oft einfach gar nicht. Der klassische Unternehmer, der etwas für die Region tun will– eine „Stütze der Gesellschaft“, wenn man das Bild von Henrik Ibsen bemühen will –, der ist nur noch selten vorhanden. Und das finde ich für meine Arbeit sehr schwer. Ich kann mich als Gewerkschaftssekretärin mit dem Werksleiter eine halbe Stunde streiten; dann sagt er: „Alles klar, ich nehme das mit!“ Und dann kommt nie wieder etwas. Wenn ich dann irgendwann nachfrage, bekomme ich zu hören: „Ja, das hängt noch beim oberen Management, bei Herrn Soundso, der hat mir noch kein Go gegeben“. Oft dann noch mit einem bedauernden: „Ich verstehe Ihr Anliegen, aber ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen“. Und an den oberen Herrn Soundso komme ich überhaupt nur ran, wenn der Druck in der Belegschaft hoch ist und die Leute stark in der Gewerkschaft organisiert sind. Deshalb ist auch die internationale, überbetriebliche Solidarität wirklich wichtig.

Katja Barthold ist IG Metall Gewerkschaftssekretärin in Ost-Thüringen und Autorin. Das Interview führte Johanna Bröse.

Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Das ist Klassenkampf, kein Ost-West-Kampf“. Erschienen in: Transformationen – Kapitalismus und Arbeit im Wandel. 55/ 2020. URL: https://kritisch-lesen.de/s/C5QxJ. Abgerufen am: 07. 12. 2024 09:12.