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Zwischen den Zeilen

Zwischen den Zeilen
Thema
Essay von Kathrin Gerlof

Wer in der DDR blieb, suchte nach dem, was nicht auf den ersten Blick sichtbar war. Doch was wurde gefunden? Und was bleibt davon?

Essay von Kathrin Gerlof

Vom Ende gedacht, haben wir uns arrangiert. Wir meint nicht alle. Die deutsche Sprache unterscheidet kein inklusives und exklusives Wir. Es bedarf der Erklärung, wer eingeschlossen ist und wer nicht. Wir zieht entweder einen Zaun oder nimmt alle in Haft. Die Wahrheit kann beides nicht sein.

Die Lesenden und die Schreibenden in der DDR, diesem untergegangen Teil Deutschlands, das von denen, die es regierten, sehr gern als Leseland bezeichnet wurde. Auch so ein Wir. Mit Zaun. Wir haben gelesen. Ja. Und andere haben für uns geschrieben. Da hören dann die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn wie wir gelesen haben und was geschrieben wurde, ließ sich durch alle noch so ausgeklügelte Gleichmacherei nicht bändigen.

Es gab bei vielen eine stille Übereinkunft darüber, was man mitzubringen hat, soll das Lesen zum Vergnügen werden und das Schreiben möglich bleiben. Auch das stimmte hinten und vorne nicht, aber als Behelf war es geeignet. Zwischen den Zeilen, so lautete die Übereinkunft, ist es nicht leer. Zwischen den Zeilen ist nicht nichts.

Die Unvereinbarkeit zwischen Realismus und Moderne

Jeder Text trägt die Möglichkeit der weiteren Ebene in sich, des Subtextes, des Verborgenen, das uns Genugtuung oder nur Vergnügen sein kann. Nein. Nicht jeder. Es war wohl zu unterscheiden zwischen denen, die geradeaus, ihr Herz auf der Zunge und die Vorgaben im Kopf, die von Johannes R. Becher beschworene affirmative Funktion des Geschriebenen erfüllten, und jenen, die sich quälten damit, dem Widerspruch, Unsagbaren und Unsäglichen Ausdruck zu verleihen. Große Literatur ist nur aus einem entstanden.

Das von Johannes R. Becher entworfene Planziel einer „gebildeten Nation“, nach dem jeder Mensch dazu berufen wäre, Dichtung auszuüben oder aufzunehmen, weil sie keine Sache von Auserwählten sei, war, wäre sie in der Folge frei von Zwang und Übergriff gewesen, keine schlechte Sache. Aber es kamen die Kampfbegriffe, von denen Dekadenz nur einer war.

Es wurde ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Realismus und Moderne konstruiert, woran auch Stephan Hermlins Bekenntnis zur Moderne auf dem VIII. Schriftstellerkongress 1978 nichts änderte, das sich auf die Bedeutung der bürgerlichen Literatur und Literatur des Spätbürgertums berief. Die Rehabilitierungsbemühungen für die Moderne, Volker Braun und Franz Fühmann zum Beispiel kämpften darum, trugen vorerst keine Früchte.

Spät, zu spät, wurde die These von der Unvereinbarkeit des Sozialistischen Realismus mit der Bürgerlichen Moderne zurückgenommen, wurde die Moderne einverleibt ins kulturelle Erbe. Wie auch das Preußische plötzlich seinen Kult fand, weil es, selektiv betrachtet, geeignet schien, uns eine heroische Geschichte zu verpassen, die vor 1945 anfing und nicht Geschichte der Arbeiterbewegung war.

Die Kunst der Hiergebliebenen

Da blieben noch vier Jahre bis zum Ende des Landes, das im Aufbruch schon den Zusammenbruch in sich trug. Da waren jene, die ihre Botschaften und ihre Verzweiflung nicht mehr zwischen die Zeilen packen wollten, längst fortgegangen oder vertrieben worden. Hatten das andere Wir, Uns, in unseren schrankbewandeten oder zusammengezimmerten Wohnstuben zurückgelassen oder zurücklassen müssen.

Und Wir waren Meisterinnen und Meister darin geworden, zwischen den Zeilen Ermutigung zu finden oder eben all das, was Wir gern gesagt hätten, aber nicht zu sagen wagten. Zumal es immer, bis ganz zum Schluss, diese Hiergebliebenen gab, deren Kunst zu groß, zu renommiert und nicht nur im eigenen Kosmos geblieben war, als dass sie hätte unterdrückt werden können. Heute ist der Kanon derer, die da genannt werden, Expertenwissen, bis auf eine stets wiederkehrende Namensreihe, die alphabetisch geordnet beim Buchstaben W wie Maxi Wander und Christa Wolf endet.

Die Verantwortung der Schreibenden

Und gerade Christa Wolf hatte sich, drei Jahre vor dem Aufbruch/Ende des Landes vielseitig und vielsagend zur „Dimension des Autors“ geäußert. In den frühen Texten des so geheißenen Sammelbandes noch mit jener Zuversicht, die vielen eigen war:

„Das große Thema unserer Zeit ist: Wie aus der alten eine neue Welt aufsteigt. Das kann kaum irgendwo deutlicher, erstaunlicher, schärfer und konfliktreicher vor sich gehen als in unserem Land. Als Schriftsteller muss man es ‚nur‘ sehen.“ (Wolf 1965)

Abgeklärter und zugleich möglicherweise schon verletzt nur acht Jahre später:

„Mit dem Wissen allein ist es ja nicht getan, und wie einfach wäre es doch, wenn nur die äußeren Umstände einen hindern könnten, ‚alles‘ zu sagen, was man weiß; denn wenn auch wahr ist, daß geschrieben wird, um bisher Unbekanntes auszusprechen, so kann man doch auch in jeglicher Literatur – selbst großer Autoren – nachweisen, daß sie dazu gebraucht wurde, manches zu verdecken.“ (Wolf 1973)

Ha! haben Wir zwischen den Zeilen Lesenden gerufen, nur um gleich im nächsten Absatz von der Autorin zurückgeholt zu werden:

„Und gerade diese Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst, die zwischen den Zeilen, hinter den Sätzen stattfindet: an die Grenze des ihm Sagbaren kommen und sie womöglich an einer unvorhergesehenen Stelle zu überschreiben, und es doch nicht zu können, nicht zu dürfen, weil er ein selbstgesetztes Tabu nicht ungestraft berühren kann, gegen das Verbot eines Zensors belanglos wird: und diese Hochspannung macht den Reiz des Schreibens aus und, wenn man sie erst entdeckt hat, den Reiz des Lesens…“ (Wolf 1973)

Meisterlich und meisterhaft, den Schreibenden fast alle Verantwortung aufzuerlegen, die Zensur nicht zu verschweigen, die Texte zwischen den Zeilen als das Eigentliche und im Zweifelsfall das wahre Lesevergnügen zu beschreiben. Und bleiben zu können, weil es dann doch immer in Zukunft schreiben war, was man tat und nebenan nicht als Alternative galt.

Zwischen Realität und dem Verkündeten

Es konnte noch als Glück gelten, dass jene, die gegangen waren oder worden sind, gleich nebenan und doch in einer völlig fremden Welt in ihrer Sprache schreiben konnten, um verstanden oder missverstanden zu werden. Denen wurde in der DDR offiziell keine Träne nachgeweint, jedenfalls nicht außerhalb unserer schrankbewanderten oder zusammengezimmerten Wohnzimmer. „Wem aber dient Biermann mit solchem Machwerk? Für die Brautnacht mit der neuen Zeit seien unsere Herz- und unsere Lendenkräfte noch zu schwach. Also spricht Biermann. Er soll doch seine eigenen persönlichen und politischen Schwächen nicht als den Aggregatzustand unserer Gesellschaft ausgeben. Er kommt mit unserer neuen Zeit nicht zurecht. Daran ist aber nicht die neue Zeit schuld.“ So las es sich im Zentralorgan Neues Deutschland, aufgeschrieben von einem Mann, der kurze Zeit später stellvertretender Kulturminister der DDR wurde.

Und Wir machten uns unsere sehr unterschiedlichen Reime darauf und lasen weiter zwischen den Zeilen. Wir hatten längst eine Umdeutung des Begriffs Dialektik vorgenommen, die darin bestand, dass wir im Abgleich des Verkündeten mit der Realität und der kosmisch großen Lücke, die zwischen beidem klaffte, grinsend davon sprachen, dies sei eben Dialektik. Das Gesagte müsse mit dem Getanen nicht übereinstimmen. So hatte es Hegel nicht gewollt und Marx nicht gemeint, aber Wir fanden, dem real Existierenden damit schon ausreichend vom Kopf auf die Füße geholfen zu haben.

Und Wir lasen, was die Schreibenden darüber dachten, und fanden unser Vergnügen dabei. Oft auch Ermutigung, die jedoch nicht zwingend ins eigene Tun und Sagen mündete.

Das andere Wir bestand aus kleinen Gruppen Menschen, die sich in abendlichen Runden – man könnte es etwas hochtrabend Salons nennen – darüber verrückt redeten, was nun mit diesem Buch, jenem Text und der darauffolgenden Reaktion in den Feuilletons, von denen Wir wussten, dass die noch am stärksten den Anweisungen höherer Mächte folgten, wirklich und wahrhaftig gemeint war. Den Zeiten nachzuweinen, in denen Wir davon ausgehen konnten, dass der oder die Gegenüber das gleiche Buch gelesen hat, weil es dann doch so wahnsinnig viele nicht gegeben hatte, der Kanon der Autorinnen und Autoren immer überschaubar blieb und sowieso galt, dass was als Lizenz aus westlichen Ländern in die Buchläden fand, gelesen werden musste, ist nicht angebracht. Denn es waren zugleich auch jene Zeiten, in denen vieles, was geschrieben werden wollte oder geschrieben worden war, nicht zu uns fand, und dies nicht, weil es schlecht, stattdessen oft, weil es zu gut war. Aber es ist schwer, zu vermissen, was man gar nicht kennt.

Stattdessen an einem wie Volker Braun festhalten, von dem Manfred Jäger 1977 schrieb: „Das prekäre Verhältnis von Wort und Tat stehen im Zentrum von Brauns Überlegungen. Dabei stößt er rasch auf die Schwierigkeiten, die aus der eingeschränkten Öffentlichkeit in seinem Land herrühren.“ (Jäger 1977) Und stellt fest:

„Brauns philosophischer Denkstil und seine damit einhergehende anspruchsvolle Diktion führen nicht gerade dazu, daß die Interessenten in hellen Scharen herbeiströmen. In gewissem Sinne bedeutet gerade diese Eigenart, die Stärke und Schwäche dieses außerordentlichen Schriftstellers ausmacht, eine Schutzzone für ihn. Das Ausmaß seiner möglichen Wirkungen erscheint den Herrschenden doch einigermaßen kalkulierbar.“ (Jäger 1977)

Die böse Mutter Partei

Auch das wussten oder ahnten Wir, wenn Wir zwischen den Zeilen suchten und erklärten es uns oft damit, dass die da oben zu ungebildet seien, den Sprengstoff zu erkennen, den Wir zu finden geglaubt oder wirklich gefunden hatten.

So in der Novelle „Der fremde Freund“ von Christoph Hein, dessen Protagonistin auf eine lähmend stille Art wie viele leidet und doch irgendwie nach vorn lebt, ohne dass erkennbar wird, was denn vorn Begehrenswertes sein könnte. Aber was wussten Wir schon von jenen, die gar nicht erst zum Schreiben gekommen waren in diesem Wir-Land. So einer wie Gerhard Zwerenz, den wir vielleicht auch gar nicht – oder doch? – gut gefunden hätten und der 1977 in einem Interview mit Michael Günther für die linke West-Literaturzeitschrift alternative auf die Frage, warum ihm in der BRD – er ist 1956 aus der SED ausgeschlossen worden und hat 1957 in der BRD angefangen, zu publizieren – die Partei eine Zeit lang gefehlt habe:

„Ja. Das ist der Mechanismus, der uns damals nicht ganz klar geworden ist, der wohl erst durch Biermann jetzt ganz deutlich geworden ist: man fühlt sich drüben in der Partei in einem Kollektiv, man hat ein idyllisches Gefühl der Geborgenheit. Aber in dem Moment, in dem das in Disziplinierung umschlägt, wird aus der guten Mutter Partei die sehr strenge, die böse Mutter Partei. Man ist in diesen Familienbanden gefangen und man gewöhnt sich dran, immerzu gegen diese Mutter anzuschreiben.“ (Zwerenz 1977)

Und ihm sei, sagt Zwerenz noch, bei Biermann klargeworden, dass der immer gegen diese böse Mutter angemotzt habe, die ihm nun in der BRD fehle als böse Figur, weswegen er nicht mehr wüsste, wogegen anschreiben.

Mit was Wir uns auseinandersetzen müssen

Mit dieser Art des Einverständnisses, des stillen, das sich im Privaten traute, gebrochen zu werden, haben Wir uns im Nachhinein auseinanderzusetzen, auch wenn es – ehrlich geschrieben – heute kaum noch jemanden interessiert. Es kann nur noch für uns wichtig sein. Um eine gewisse Immunisierung gehen, gegen andere Verlockungen, die nun der Markt und nicht die Familie Partei bereithält. Die Billigung der Verhältnisse, wenn sie denn genügend Raum zwischen den Zeilen oder eben ausreichend Masse bereitstellt, in der das Hervorragende genauso verschwinden kann, wie der Schrott seine Bedrohlichkeit verliert, ist doch recht einfach zu haben.

„Angestrengte Selbstkontrolle vorausgesetzt, sind Unbestechlichkeit und taktisches Verhalten durchaus miteinander vereinbar“, schrieb Manfred Jäger über Volker Braun in TEXT+KRITIK. Braun prüfe, wenn er mit dem Kopf durch die Wand wolle, an welcher Stelle dies vielleicht möglich sei, „anstatt blind draufloszurennen“. Braun, der das Wort „vorläufig“ so mochte – für uns Dialektikerinnen und Dialektiker des gehobenen Stammtisches ein schönes Wort: Es könnte ja noch was Anderes kommen. Christa Wolf, die nie aufhörte, zu glauben: „Die Literatur einer neuen Gesellschaft hat schon immer versucht, eben dieser ihrer Gesellschaft zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen.“ (Wolf 1964)

Und 17 Jahre später:

„So zu schreiben, daß die Gesellschaft, in der man lebt, den größten Nutzen davon hat. Das bedeutet: kritisch. Die Gesellschaft durch Kritik auf das aufmerksam machen, was ihr helfen könnte, zu leben und zu überleben. Davon kann ich mich auf keinen Fall abhalten lassen.“ (Wolf 1981)

Wir, die zwischen den Zeilen lasen, auch dann noch, als längst klar war, dass es ganz und gar schiefläuft.

Und da hilft auch nicht, was Gerhard Wolf im November 1989 in einem Sonderband TEXT+KRITIK zur DDR-Literatur noch einmal festhielt: „Literatur spricht die Sprache lebendiger Autoren zu jeder Zeit, mit ihr geboren und gegen sie gerichtet.“ Weil es ja doch sein kann, dass ihnen verwehrt bleibt, das einzulösen.

Unbeantwortet bis heute die Frage, ob trotz oder wegen der „verheerenden Folge mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie“ (Volker Braun) so gute und über das Untergegangene hinausreichende Literatur entstanden ist. Wird beides stimmen. Ist das schon Dialektik?

Verwendete Literatur

Christa Wolf: Die Dimension des Autors, Aufsätze, Essays, Gespräche, Rede. Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1986 Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Band III 1977-1990, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2018 Manfred Jäger: Text+Kritik Zeitschrift für Literatur, Ausgabe 55, edition text+kritik gmbh, 1977 Michael Günther: alternative Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Interview mit Gerhard Zwerenz, Ausgabe 113 Schriftsteller der DDR BRD geben zu Protokoll, Alternative Verlag GmbH, 1977 Gerhard Wolf: alternative Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Ausgabe 113, Schriftsteller DDR BRD geben zu Protokoll

Zitathinweis: Kathrin Gerlof: Zwischen den Zeilen. Erschienen in: DDR - Innenansichten in der Literatur. 53/ 2019. URL: https://kritisch-lesen.de/s/q35wH. Abgerufen am: 08. 12. 2024 23:45.