Kein Liebesdienst!
- Thema
- Essay von Madhurima Majumder und Sara Morais dos Santos Bruss
2019 wurde in Indien großflächig gegen eine Gesetzeserneuerung protestiert. Aus Angst vor der Benachteiligung bereits marginalisierter Bevölkerungsgruppen gingen vor allem Frauen* auf die Straße. Die Proteste zeigen, Sorgearbeit ist ein revolutionärer Akt.
In Indien drohen zwei neue Staatsbürgerschaftsreformen, die Bürgerrechte von Muslim*innen und Arbeiter*innen immer weiter einzuschränken. Zu den energischsten Gegner*innen der Gesetzesänderungen gehören Frauen*. Das ist ungewöhnlich, denn das Land ist geprägt von seinen religiös-patriarchalen Verhältnissen: Frauen, die ohne ersichtlichen Grund in der Öffentlichkeit verweilen, sind im Großteil des Landes so unüblich, dass die Bewegung „Why Loiter“ das „Herumlungern“ für Frauen* zur politischen Praxis erhoben hat. Andererseits: Historisch gesehen sind in Indien Frauen* oft an der Vorfront intersektional-materialistischer Kämpfe gewesen, und führten schon immer Bewegungen gegen interne und externe Ausbeutungsmaßnahmen an. Wie also lassen sich die Proteste gegen die Staatsbürgerschaftsreformen feministisch historisieren? Und was kann ein vermeintlich globaler Feminismus von denjenigen lernen, die oftmals noch nicht mitgedacht werden?
Der Citizenship Amendment Act (CAA, Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz), der im Dezember 2019 verabschiedet wurde, gewährt undokumentierten Geflüchteten aus Bangladesch, Afghanistan und Pakistan potenziell die Staatsbürgerschaft – aber nur denjenigen Hindus, Sikhs, Buddhist*innen, Jains und Christ*innen, die vor 2014 ein Langzeitvisum ausgestellt bekommen haben und zusätzlich religiöse Verfolgung nachweisen können. Muslimische Minderheiten wie Rohingyas, Ahmadiyyas und Uighuren, wie auch Tamilen aus Sri Lanka sind davon systematisch ausgeschlossen. Das National Register of Citizens (NRC, Nationale Register der Staatsbürgerschaft), das in Indien eingeführt wurde und noch landesweit bekannt gegeben werden muss, verlangt außerdem von in Indien ansässigen Personen die Vorlage umfangreicher rechtlicher Unterlagen zum Nachweis ihrer Staatsbürgerschaft. Diese beiden Regelungen gliedern sich in die hindu-nationalistische Politik der derzeitigen Regierungspartei, der Bharatiya Janata Party (BJP) ein: Die Partei stellt das ideale indische Subjekt als Brahmane oder Kastenhindu dar und hat so in den letzten Jahren zur weiteren Entfremdung von Nicht-Hindus, Arbeiter*innen und informell organisierten Gemeinschaften beigetragen.
Die anstehenden Gesetzesänderungen bedrohen bereits prekäre Gruppen wie Muslim*innen, sogenannte Adivasis (nicht-hinduistische nomadische oder ländliche Gemeinschaften) und Dalits. In den Protesten, die sich in ganz Indien erhoben, waren es überwiegend Frauen*, insbesondere arme muslimische Frauen*, die sich lautstark zu Wort meldeten. Sie gaben den Protesten eine Richtung, erschufen einen Raum für die Annäherung verschiedener Gruppen und konsolidierten diese zu einer Bewegung.
Bunte, widerständige Öffentlichkeit
Im November 2019 begannen in ganz Indien die Proteste gegen den Citizenship Amendment Act und die National Populations Registry. Der Ursprung der Proteste und deren späteres Zentrum war der muslimisch geprägte Vorort Shaheen Bagh im Süden Neu-Delhis. Es ist einer der ärmeren Bezirke der monströsen Stadt, die Wohlhabende oft in den Bann zieht, aber gerade die ärmeren Bewohner*innen gern vernachlässigt. Neu Delhi – das politische „Zentrum“ Indiens, 2012 durch eine brutale Massenvergewaltigung mit Todesfolge zu unliebsamen Ruhm gekommen. Von der radikalen feministischen Arbeit, die darauf folgte, wurde in Europa wenig berichtet. Auch Shaheen Bagh fällt aus großen Berichterstattungen oft heraus: Es beheimatet überwiegend prekär lebende Inder*innen und ist stark muslimisch geprägt. Als die Bewohner*innen des Viertels so manche häusliche Aufgabe – kochen, waschen, Kindeserziehung – in die Öffentlichkeit der Straßen verlagerten, wurden Passant*innen und Nachbar*innen mehr oder weniger zufällig in die Proteste hineingezogen. Folgte man einer Einladung zum Chai (Tee), hörte man bald von den Sorgen der Frauen* und ihren Plänen, zeigte man Sympathie, wurde man gefragt, ob man beim herrichten der Bühne, beim Kochen, oder herstellen von Informationsbroschüren helfen könne. Die Frauen versorgten Passant*innen mit Essen und Trinken, welches die Männer des Viertels am Rande des Protests zubereiteten. Die Szenen, die einem dort in den Straßen begegneten, widersprachen diametral den Darstellungen, die über öffentliche Medien und halb-öffentliche WhatsApp-Gruppen weite Teile der Bevölkerung erreichten: Denn dort verbreiteten sich Nachrichten terroristischer Übergriffe muslimischer Gruppierungen und gewaltsamer Studierender, die angeblich eine Gefahr für die Nation darstellten.
Entgegen des Narrativs der gewaltbereiten (muslimischen) Aufständischen waren die Straßen geprägt von einem friedvollen Miteinander, welches sich auf die Rolle der Reproduktionsarbeit zum Erhalt von Gemeinschaften zu fokussieren schien. Noch bevor Besucher*innen den Ort des Protests erreichten, kündigte dieser sich durch große Wandmalereien, buntes Licht und Kunstinstallationen auf beiden Seiten einer Straßenüberführung an. Eine nah gelegene Bushaltestelle war in eine behelfsmäßige Bibliothek verwandelt worden, in der Kinder saßen, um zu lesen, schreiben und zu zeichnen. Auf dem Protestgelände selbst befanden sich eine überwältigende Menge an Frauen*, die zusammensaßen, redeten, jubelten und das Treiben auf der errichteten Bühne beobachteten.
Tausende von Frauen* versammelten sich jeden Tag mit Plakaten und Postern – und oftmals mit ihren Kindern – in der beißenden Kälte Delhis. Um sie herum standen die Männer von Shaheen Bagh; diejenigen, die gekommen waren, um ihre Solidarität zu zeigen, aber auch Student*innen der nahe gelegenen Universität. Trotz der zentralen Bühne, auf der sich Aktivist*innen und Künstler*innen das Mikrofon herumreichten, waren die unbestrittenen Anführer*innen der Proteste die Frauen*, die das Gelände instand hielten. Auf dem Gelände verschmolzen Besucher*innen und Bewohner*innen zu einer bunten Menge – unüblich in einem sonst so segregierten Viertel. Frauen*, die plauderten, Kinder, die spielten: Es schien, als sei die sonst männlich dominierte Öffentlichkeit plötzlich feminisiert worden. Der Protest zeichnete sich dadurch aus, dass er die Fürsorge als eine Form des Widerstands gegen eine Regierung nutzte, die ihren Bürger*innen systematisch die Fürsorge verweigerte. Nabiya Khan, eine Universitätsstudentin, schrieb zu diesem Protest „pehenke chudiyan, bindi, burqa aur hijaab, aayega inquilab“ - die Revolution wird kommen, mit Armreifen, Bindi, Burka und Hijab.
Alltägliche Erfahrungen der Gewalt
Um den Protest zu verstehen, ist es wichtig, den Ort zu verstehen, an dem er sich zentralisierte. Shaheen Bagh ist ein armer muslimischer Stadtteil mit spärlicher Versorgungsinfrastruktur. Die Bewohner*innen haben nur begrenzten Zugang zu sauberem Wasser, subventionierter Elektrizität oder ausgebauten Straßen. Nördlich am Stadtteil angrenzend liegt die Jamia Millia Islamia, eine zentrale öffentliche Universität, welche in den 1920er-Jahren gegründet wurde. Die Universität steht im Mittelpunkt des Strebens vieler Menschen nach einem besseren Leben in diesem Viertel.
Am 15. Dezember drangen Polizei und RPF (Reservepolizei) aus Delhi unter dem Vorwand, gewalttätige Protestierende zu suchen, gewaltsam in den Campus der Universität ein. Handyaufnahmen zeigen, dass die Polizei Student*innen in Bibliotheken attackierte, scheinbar ohne Grund, und ahnungslose Campusbewohner*innen niederschlug. Doch das Mediennarrativ behauptete das Gegenteil, und so sprach auch der Staat von dem rechtmäßigen Vorgehen gegenüber aggressiven Jugendlichen, die gezüchtigt gehörten, und bezeichnete das Eindringen in die Institution mit überwiegend muslimischen Studierenden als gerechtfertigt. Dies war lediglich die jüngste einer Reihe an Maßnahmen, welche die hindu-nationalistische Regierung unter Premier Modi scheinbar gezielt gegen Muslim*innen unternommen hatte. Seit er an der Spitze seiner rechts-nationalistische Partei 2014 zum Premierminister gewählt wurde, hat die Regierung unter Modi beständig Reformen an der ursprünglich säkularen Verfassung unternommen, die zunehmend zu Ungunsten der nicht-hinduistischen Minderheiten ausfallen. So hat seine Regierung unter anderem den Sonderstatus des umstrittenen Gebietes in Jammu und Kashmir aufgelöst, wo es schon seit der Gründung Indiens Unabhängigkeitsbestrebungen gibt. Hier leben überwiegend Muslim*innen seit jeher unter militarisierter Aufsicht des indischen Staates, die nun weiter verstärkt wird. Der „beef ban“, das Verbot, Rindfleisch zu verkaufen, trifft die überwiegend muslimischen Schlachthäuser im Land, die das Fleisch exportieren, aber auch die Armen, die das unter Hindus verpönte Fleisch als günstige Proteinquelle einkaufen. Unter Modi hat es einen Zuwachs an gewaltsamen Übergriffen gegen Muslim*innen und Frauen* gegeben, die meist öffentlich angekündigt, aber selten rechtlich geahndet werden. In Modis Kabinett sitzen viele, die keinen Hehl daraus machen, Mitglied des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) zu sein, der rechtsradikalen Gruppierung, die lange als bewaffneter Kader der BJP galt und weiterhin militarisierte Ausbildungslager im ganzen Land hat.
Die Übergriffe auf dem Campus in Kombination mit den als widersprüchlich wahrgenommenen Nachrichtenmeldungen repräsentierten so für viele Muslim*innen ein weiteres Vorrücken im Zeichen des Hindu-Nationalismus. Als Reaktion auf diese jüngsten Vorfälle expliziter Polizeigewalt beschlossen Frauen* aus der benachbarten Wohnkolonie, durch einen unbefristeten Sitzstreik ihren Protest auszudrücken. Es begann mit wenigen Frauen* unterschiedlichen Alters und ihren Kindern, einem kleinen Zelt, ein paar Matratzen und wenigen Männern, die eine Kette um sie bildeten. Bald wuchs das Zeltlager und damit auch die Anzahl der Matratzen. Auch andere Gegner*innen des CAA, die von außerhalb der Nachbarschaft kamen, begannen sich hier zu versammeln. Was anfangs wie ein kleiner Sitzstreik einiger weniger besorgter Mütter* aussah, gewann schnell an Zuspruch und wurde zum Anker der landesweiten Proteste. Shaheen Bagh wurde so zum neuen Schauplatz, an den sich alle Anti-CAA-Proteste wendeten. Ähnliche, von Shaheen Bagh inspirierte Sitzstreiks entstanden in mehreren Städten und Ortschaften im ganzen Land, meist ebenfalls in muslimischen Arbeiter*innenvierteln.
Sorge, Reproduktion, Arbeit
Entschlossen, dem hindu-nationalistischen Entwurf von Staatsbürgerschaft etwas entgegenzusetzen, saßen die Frauen* Tag und Nacht draußen, verharrten in diesen harten Monaten des Winters vor ihren Haustüren. Was heute oft – wenn überhaupt – als Student*innenprotest rezipiert wird, hat seine Wurzeln in einem historischen Kampf, dessen Politik seit der Kolonialisierung das Land durchzieht: Hier wird die Frage nach dem legitimen indischen Subjekt gestellt. Ein Subjekt, das spätestens seit 2015 durch Landbesitz, Pässe, Bankdaten und Universitätsabschlüsse definiert werden soll. Wie bereits erwähnt, führte dieser Prozess zu einer Zunahme der Ungleichheiten, sowohl in identitätspolitischer als auch in materieller Hinsicht. Denn die Dokumente, die als Identitätsnachweis vorgelegt werden können, suggerieren eine Aura bürgerlicher Seriosität:
„Für den Fall, dass eine Person nicht in der Lage war, ihren/seinen Namen in den Stammdatenregistern zu finden, erlaubte die Verwaltung 12 weitere Dokumente, die als Beweismittel vorgelegt werden konnten, sofern sie vor dem 24. März 1971 bewilligt wurden. Diese waren: (i) Grundbesitzurkunden, (ii) Staatsbürgerschaftsbescheinigung, (iii) Daueraufenthaltsbescheinigung, (iv) Flüchtlingsregistrierungsbescheinigung, (v) Reisepass, (vi) Lebensversicherungspolice, (vii) von der Regierung ausgestellte Lizenz/Zertifikat, (viii) Bescheinigung über eine Anstellung im öffentlichen Dienst/Beschäftigungsnachweis, (ix) Bank-/Postkonten, (x) Geburtsurkunde, (xi) Bildungszertifikat des Vorstands/der Universität und (xii) Gerichtsakten/-prozesse.“ (Barbosa 2019, übers. SM)
Somit hat die jetzige Regierung mit ihren politischen Änderungen eine ordnungsgemäße Dokumentation von Besitz und Identitätspapieren zur Grundlage für den Zugang zu Bürgerrechten gemacht. Dies mag selbstverständlich klingen, entspricht jedoch nicht der Lebensrealität einer Mehrheit marginalisierter Inder*innen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen größtenteils informell sind. Eine unverhältnismäßig große Anzahl von Frauen* war und wird von diesen steigenden Anforderungen der Regierung nach „ordnungsgemäßen Dokumenten" betroffen sein, da sie angesichts der patriarchalischen Familienordnung weitgehend von solcher Dokumentation ausgeschlossen sind. Frauen* und Queers besitzen in Indien selten Land – das gilt für alle Kasten und Religionen –, sie haben seltener Identitätspapiere, Bankkonten oder Universitätsdokumente. So binden NRC und CAA vor allem Frauen* weiter an heteropatriarchale Beziehungen, an die oft gewalttätigen Auswirkungen von arrangierten und endogamen Ehen, in denen sie isoliert und von Kapitalerträgen beider Familien (der biologischen und der angeheirateten) abgeschnitten werden können.
Dass diese Beziehungen die Frau* nicht nur an Häuslichkeit binden, sondern auch an eine bestimmte unterwürfige Klassenposition, ist eine der stärksten Analysen, die der Dalit-Fürsprecher und Anwalt B.R. Ambedkar bereits 1917 erstellte, als er die Notlage der Frauen* mit Repressionen durch das Kastensystem unter dem Begriff des brahminischen Patriarchats verband (Rege 2016). Für Ambedkar war das Kastensystem das zentrale Problem, welches die ökonomische Unterdrückung der Frau* hervorbrachte und sakralisierte – also unhinterfragbar machte. Während er also stark für eine Rekonfiguration der gesellschaftlichen Strukturen plädierte, und nach der indischen Unabhängigkeit selbst erheblich zur Verfassung beitrug, blieben viele der Kolonialverordnungen der Briten rudimentär in Recht und Realität verankert. Trotz einer vermeintlich säkularen Verfassung, die den indischen Staat 1947 gründete, haben die Ungleichheiten auf Grundlage des Kastensystems also bis heute Bestand. Diese betreffen allerdings auch marginalisierte Gruppen wie Adivasis (die als „indigen“ verstandene Landbevölkerung), Dalits, Landlose, Umweltmigrant*innen, Waisen, Menschen mit Behinderungen, Queers und Transsexuelle, sogenannte hijras. Tatsächlich fällt ein großer Teil der Bevölkerung durch die Löcher der staatlichen Identifikations- und Dokumentationsregister, da die meisten politischen Maßnahmen das nichtlineare und oft informell dokumentierte Leben armer Menschen aus der Arbeiter*innenklasse nicht berücksichtigen.
Auch aus infrastruktureller Sicht ist der Ort des Protests von großer Bedeutung: eine Autobahn, die Süd-Delhi mit der Planstadt Noida verbindet, ein Transportweg für Güter und Menschen. Ein reibungsloser Verkehrsfluss auf dieser Strecke ist sowohl buchstäblich als auch metaphorisch die Ader, die die neoliberale Produktivität der Region speist. Daher bedroht jede Unterbrechung des Verkehrsflusses den reibungslosen Ablauf industrieller Prozesse – und wurde demnach mit äußerster Ernsthaftigkeit behandelt, wie aus einer Antwort des Obersten Gerichtshofs auf Anfrage des Menschenrechtsanwalts Amit Sahni hervorging. Im Antwortschreiben hieß es, dass Proteste zwar ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie seien, Shaeen Bagh jedoch eine Grenze überschritten habe, da die Proteste den reibungslosen Verkehrsfluss stören und Menschen wirtschaftlich belästigen würden.
Die Individualität universalisieren
Die Shaheen Bagh-Proteste sind somit die Wiederholung eines alten Motivs: Die am meisten unterdrückten Frauen* und die am meisten ausgebeuteten Arbeiter*innen machen gemeinsame Sache gegen ihre Unterdrücker, da diese Identitäten sich oftmals überlappen. Dies geschieht nicht wegen eines explizit „feministischen“ Verständnisses von Weiblichkeit, das sie in einer essentialisierten Identität zusammenfasst, sondern weil die systemische Ungerechtigkeit sie auf verschiedenen Ebenen am härtesten trifft. Oft als verflacht wahrgenommene „Identitätspolitik“ ist hier (wie sonstwo) unmittelbar mit ökonomischer Ungleichheit verbunden. In diesem Sinne kann Shaheen Bagh nicht nur im Spiegel der Arbeiter*innenproteste von 1917 in Indien oder Russland historisiert, sondern auch mit den politischen Kämpfen im Laufe der Zeit in Verbindung gebracht werden, bei denen die reproduktive Rolle der Frauen* im Mittelpunkt eines Aufbegehrens gegen ökonomische Ungleichheit steht. Bei historischen Strategien wie dem politischen Lesbentum in den 1970er-Jahren zum Beispiel, ging es nicht nur um persönliche (sexuelle) Entscheidungen und die Ablehnung von (bestimmten) Männern, sondern auch um das Verständnis, dass reproduktive Arbeit ein systematischer Aspekt der Frauenunterdrückung, wie auch der Aufrechterhaltung des kapitalistischen und bürokratischen Staates ist.
Dass diese Form der Unterdrückung sich nicht nur materiell ereignet, sondern auch psychologisch und affektiv, findet oftmals zusätzlichen Ausdruck in Form sexualisierter Gewalt. Die Allgegenwart des Protests „Un Violador en tu camino" (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) der Gruppe LasTesis im Sommer 2019 zeigte, wie patriarchalischer Staat und systematische Unterdrückung auf der Grundlage des Individuums zusammenwirken – der Protest bezog sich nicht nur auf sexuelle Übergriffe als anekdotische Einzelfälle, sondern kritisierte ein System, das Frauen* und Queers gewaltsam aus Lohnarbeitsverhältnissen heraushält, die ein gemeinsames Klassenbewusstsein ermöglichen könnten, und sie in ihrer Scham isoliert und entfremdet zurücklässt – übrigens auch eine der Lesarten, die der Allgegenwart von #metoo ökonomische Bedeutung zuschreibt. Wenn sexuelle Gewalt stattfindet, sind Frauen* und Queers unverhältnismäßig stark betroffen und ebenso ungeschützt, weil – immer noch – staatliche Behörden nicht transformativ, sondern strafend, autoritativ oder ungläubig angesichts der Erfahrungsberichte agieren. Aber auch die Linke lagert „die Frauenfrage" (als wäre es eine reine Frauen*frage) gerne oftmals als Nebenwiderspruch aus.
Feministische Protestbewegungen, letztes Jahr noch omnipräsent, haben sich derzeit – angesichts der Covid-19-Pandemie – aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie hatten sich jedoch an den verschiedensten Orten der Welt reproduziert und so Menschen – vor allem Frauen* - miteinander verbunden, in dem Wissen, dass patriarchale Gewalt auch die materiellen Lebensgrundlagen direkt betrifft und sie in ihren Möglichkeiten einschränkt. Obwohl er nicht speziell auf sexuelle Übergriffe ausgerichtet war, wurde auch Shaheen Bagh zu einem Raum, in dem Fürsorge, Beziehungen und verwandtschaftliche Bindungen neu ausgehandelt wurden und performativ im Zentrum einer größeren Frage der Organisation und der Funktion des Staates gestellt wurden.
Mehrdeutiger Klassenkampf
„Es ist eine Sache, gemeinsam zu organisieren, wie wir essen wollen (allein, in Gruppen usw.), und dann den Staat zu bitten, dafür zu bezahlen, und es ist das Gegenteil, den Staat zu bitten, unsere Mahlzeiten zu organisieren. In dem einen Fall gewinnen wir eine gewisse Kontrolle über unser Leben zurück, im anderen Fall erweitern wir die Kontrolle des Staates über uns.“ (Federici 1975, übers. SM)
Wie Silvia Federici in „Lohn gegen Hausarbeit" (Wages against Housework) (1975) feststellte, muss die öffentliche Performance von Fürsorge und Reproduktionsarbeit als eine explizit feminisierte Variante des Streiks oder Protests gesehen werden, die dessen Geschlechtlichkeit denaturalisiert, so wie sie die Zentralität der Sorge-Arbeit innerhalb des existierenden Systems hervorhebt. Spätestens seit der Corona-Krise ist für alle sichtbar geworden, dass Frauen* den Großteil der sogenannten systemrelevanten Arbeit leisten, aber nur einen Bruchteil der Löhne erhalten. Studien über Pflegekapazitäten werden nach wie vor von Männern durchgeführt, während Frauen* und Queers weiterhin die eigentliche Sorgearbeit übernehmen und nur wenig Zeit haben, Studien zu erstellen. Diese Ungleichheit reproduziert sich in lokalen Variationen überall auf der Welt.
Die aktuellen und historischen Kämpfe dagegen lassen sich nicht auf einzelne Entscheidungen oder Fragen des „falschen“ Verhaltens reduzieren, sondern spiegeln systematische Ungleichheiten wider – jenseits einer spezifischen Identität „Frau", aber mit Verweis auf den nicht ganz zufälligen Umstand, dass die prekärste Arbeiter*innenschaft nun mal überwiegend aus Frauen* und Queers besteht. Während ein bürgerlicher Feminismus rechten und autoritären Regimes einen progressiven Anstrich verpassen kann, verharren gerade die prekärsten Gruppen nach wie vor in Abhängigkeitsverhältnissen, die nicht nur schlecht vergütet, sondern auch gesundheitlich gefährlich sind. Es darf nicht vergessen werden, dass auch die westliche Frauen*bewegung zunächst Women* of Color ausschloss und damit die Beteiligung der (Sorge-)Arbeiter*innen negierte, auf deren Rücken die Befreiung der weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Frau* als eine große Fortschrittsgeschichte dargestellt werden konnte.
Bei der Sicht auf Proteste wie in Shaheen Bagh geht es also nicht um die singuläre Spezifität von Individuen, sondern um ein Verständnis dafür, wie Identitätspolitik und Ökonomie zusammenwirken. Es geht darum, wie Frauen* und Queers nicht nur wegen ihrer Körperlichkeit, die als geschlechtsspezifisch, also identitätspolitisch gelesen wird, sondern auch aus der daraus resultierenden sozialen Position als informelle, sorgende – also klassenpolitisch unterdrückt und marginalisiert werden. Die feministische Forscherin Alka Kurian hat diese Perspektive als „Feminismus der vierten Welle“ (Kurian 2020) beschrieben. Aber sich an Feministinnen wie Audre Lorde, Angela Davis, Sharmila Rege oder auch an die marxistische Feministin Silvia Federici zu erinnern, bedeutet, diesen Kampf in eine Linie mit historischen Feminismen zu stellen, die immer für Intersektionalität, Klassenkampf und die Mehrdeutigkeit einer globalen Kategorie von Weiblichkeit eingetreten sind.
Verwendete Literatur
Barbora, Sanjay 2019: Essential But Not So Short Guide to the Crisis of Citizenship in Assam, Raiot. Online hier. Federici, Silvia 1975: Wages Against Housework, Montpelier/Bristol: Falling Wall Press. Rege, Sharmila (Hg.) 2016: Against the Madness of Manu. B.R. Ambedkar’s Writing on Brahmanical Patriarchy. Delhi: Navayana, 3. Ed.