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„Die“ 68er gibt es nicht

„Die“ 68er gibt es nicht
Thema
Essay von Jens Renner

Welche Lehren für eine Neue Klassenpolitik lassen sich aus der Revolte vor fünfzig Jahren ziehen, wenn wir ihre Vorgeschichte und ihre verschiedenen Akteure nicht vergessen?

Essay von Jens Renner

Das Jubiläumsjahr der Revolte begann mit Kulturkampf von rechts. Den Anfang machte Bayerns politisches Ausnahmetalent Alexander Dobrindt (CSU). In einem Gastbeitrag für die konservative Tageszeitung Die Welt forderte er nichts anderes als die Rücknahme von 1968: „Wir brauchen den Aufbruch in eine neue konservative Bürgerlichkeit, die unser Land zusammenführt, unsere Wertegemeinschaft stärkt und unsere Freiheit verteidigt“ – gegen „die linke Revolution der Eliten“, die 1968 erfolgreich gewesen sei. Ob das die Wähler_innen der AfD überzeugt? Noch sind deren Hetzer_innen deutlich einfacher bei ihrer Feindmarkierung. Auf dem AfD-Bundesparteitag im April 2016 in Stuttgart wurde Bundessprecher Jörg Meuthen von den Delegierten mit Standing Ovations gefeiert, als er ausrief: „Wir wollen weg von einem links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland, von dem wir die Nase voll haben.“

Die hegemonialen Interpretationen der Revolte schwanken seit jeher. 1990, mit der „Wiedervereinigung“, schien ein unhintergehbarer Konsens erreicht. In seiner Rede zum ersten Tag der deutschen Einheit sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU): „Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei.“ Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) dagegen verkündete noch 2001: „Es hat sich ja bei den Achtundsechzigern um eine weit ausgreifende Massenpsychose gehandelt.“ Allerdings fügte er hinzu: „Wichtig ist nur, was die damals Verirrten heute tun.“ Das war die Absolution für Leute wie Joschka Fischer, der es 1998 als ehemaliger militanter Streetfighter zum Vizekanzler und Außenminister im rotgrünen Kriegskabinett gebracht hatte.

Die politische Debatte des Jubiläumsjahrs 2018 hat diverse Facetten: schroffe Abgrenzung, Warnung vor Gewalt und „Extremismus“, Selbstbezichtigung einstiger Aktivist_innen, aber aus der Mitte der Gesellschaft auch Lob für die mit der Revolte einhergehende Modernisierung, alltagskulturelle Errungenschaften vorneweg: Akzeptabel scheint, was sich als integrierbar erwies. Erste Veröffentlichungen lassen darauf schließen, dass auch Linke des Jahres 2018 eher darauf aus sind, die Geschichte an eigene gegenwärtige Positionen anzupassen. So sieht Rainer Trampert in der 68er-Bewegung eine „Modewelle mit befreienden Aspekten“ und findet „manches richtig, vieles falsch“: „Die politischen Achtundsechziger teilten die Welt in gut und böse. Wer gegen die USA und Israel war, zählte zu den Guten, einschließlich des Massenmörders Pol Pot“. Dessen Regime – hier versagt das Gedächtnis des Veteranen – etablierte sich allerdings erst 1975. Lange vor 1968 erledigt war dagegen die „Liebe zu den USA“, von der Trampert zu wissen meint: „Wer seine Liebe zu den USA und der Kibbuz-Bewegung noch nicht abgelegt hatte, wurde nun [1968] umerzogen.“ (Jungle World #51-52/2017) Bei allem Dogmatismus – von Umerziehung kann keine Rede sein, und der Protest richtete sich nicht gegen „die USA“, sondern den „US-Imperialismus“ und seinen massenmörderischen Krieg in Vietnam.

Auch in anderen Teilen der deutschen Linken scheint sich ein verzerrtes Bild der Revolte durchzusetzen. So schreibt Matthias Ubl: „Die Revolutionär_innen von 1968 setzten demgegenüber [gemeint ist die „auf die Machteroberung“ ausgerichtete Politik der Bolschewiki; Anm. J.R.] bei den zwischenmenschlichen Beziehungen an. Sie gingen davon aus, die Gesellschaft durch die Subversion der ‚privaten Sphäre‘ verändern zu können. Die Gründung von Kommunen, das Experimentieren mit neuen Liebesmodellen und die Ablehnung der bürgerlichen Kleinfamilie fallen in diese Epoche“ (analyse & kritik #633/2017). Das ist deutlich weniger als die halbe Wahrheit. Die These vom Ansetzen an den „zwischenmenschlichen Beziehungen“ als gemeinsamem Ausgangspunkt der „Revolutionär_innen von 1968“ führt in die Irre. Das zeigen Vorgeschichte, Verlauf und Akteure der Revolte.

Politisierung lange vor '68

In Westdeutschland inklusive Westberlin, der Hochburg der Revolte, begann deren Vorgeschichte schon unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers (1949 bis 1963). Die wichtigste innenpolitische Kontroverse betraf die sogenannte Wiederbewaffnung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Aufstellung einer bundesdeutschen Armee. Diese Pläne stießen in der Linken, SPD und DGB eingeschlossen, auf scharfe Ablehnung. 1952 wurde bei einer antimilitaristischen Demonstration in Essen der junge Kommunist Philipp Müller von der Polizei erschossen. 1955 trat die BRD der NATO bei, während bei einer Kundgebung in der Frankfurter Paulskirche das antimilitaristische Deutsche Manifest beschlossen wurde. Nach dem Umschwenken der SPD, die 1956 der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zustimmte, war es eine weitgehend außerparlamentarische Opposition, die gegen die Bundeswehr und den NATO-Beitritt protestierte. 1957/58 ging der Streit vor allem um die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Die Aktion Kampf dem Atomtod wurde zwar von der SPD initiiert, aber dann gebremst als sie Massen mobilisierte. 1960 fand dann erstmals der Ostermarsch der Atomwaffengegner statt – eine Aktionseinheit von (nach dem KPD-Verbot 1956 illegalen) Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, Christ_innen und Pazifist_innen.

Auf ihrem Godesberger Parteitag 1959 wandelte sich die SPD endgültig von der Arbeiter- zur „Volkspartei“, bekannte sich zum Privateigentum an den Produktionsmitteln und zur Landesverteidigung. Die damit vollzogene Absage an den Marxismus führte zwei Jahre später zum Bruch mit der Studentenorganisation der Partei, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Dem SDS wurde die finanzielle Unterstützung entzogen; die Doppelmitgliedschaft in SDS und SPD wurde verboten.

Um die bundesdeutschen Streitkräfte und die NATO ging es auch in der Spiegel-Affäre von 1962. Gegen einen NATO-kritischen Artikel mobilisierte Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) die Polizei im In-und Ausland. Adenauer sprach im Bundestag von einem „Abgrund von Landesverrat“. Die maßlose und teilweise illegale Polizeiaktion allerdings provozierte Proteste, durch die auch das „autoritäre Kanzlerregime“ (Dietrich Thränhard) erschüttert wurde.

1963 übergab Adenauer das Amt des Regierungschefs an seinen Wirtschaftsminister Erhard, der als „Vater des Wirtschaftswunders“ und „Erfinder der sozialen Marktwirtschaft“ hohes Ansehen genoss. Unter Erhard konnte die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1965 Stimmen gewinnen. Neben Erhard, der kritische Schriftsteller als „Pinscher“ bezeichnete, stand schon seit 1959 ein ausgemachter Reaktionär an der Spitze des Staates: Bundespräsident Heinrich Lübke, der vor 1945 den Einsatz von KZ-Häftlingen in Peenemünde organisiert hatte. In seiner zweiten Amtsperiode wurde Lübke immer seniler. Seine viel belachten sprachlichen Fehlleistungen passten in eine Zeit, in der die politische Elite zunehmend überfordert schien. Auch Erhard, der strahlende Wahlsieger von 1965, hatte für die Probleme der bundesdeutschen Politik keine Lösungen. Als sich 1966 das wirtschaftliche Wachstum abschwächte, musste er gehen. Im Dezember 1966 wurde – gegen den Widerstand von Teilen der sozialdemokratischen Basis – eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet. Kanzler wurde der Altnazi Kurt-Georg Kiesinger (CDU), der in Goebbels’ Propagandaministerium gearbeitet hatte. Das wichtigste innenpolitische Projekt von Schwarzrot war ausgerechnet die Verabschiedung der Notstandsgesetze – eine Kampfansage an alle, die aus Sicht der Herrschenden die innere „Ordnung“ zu gefährden drohten. Der Aufschwung der neofaschistischen NPD war für die sich formierende Außerparlamentarische Opposition (APO) ein weiteres Alarmzeichen, nachdem die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963 ebenfalls zur Politisierung beigetragen hatten. Schon zwischen 1959 und 1962 hatte der Student Reinhard Strecker im Auftrag des SDS die Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ organisiert.

Imperialistische Kriege und antikoloniale Bewegungen

Neben innenpolitischen Themen – Notstandsgesetze, Bildungsreform, alte und neue Nazis – waren es die imperialistischen Kriege und die antikolonialen Bewegungen, die mobilisierend wirkten. Die Frontstellung im Kalten Krieg – der „freie Westen“ mit den USA an der Spitze gegen den „totalitären Ostblock“ – wurde, trotz entsprechender Indoktrination durch Schule, Uni, Politik und Medien, immer mehr infrage gestellt. Dazu trug vor allem der Krieg in Vietnam bei. 1965 gründete sich im SDS der Arbeitskreis Südvietnam, im Winter 1965/66 veranstaltete der Westberliner SDS ein „Vietnam-Semester“. Das Buch „Vietnam. Genesis eines Konflikts“ von Jürgen Horlemann und Peter Gäng, erschien 1966 bei Suhrkamp und wurde zum Bestseller. Die Solidaritätsbewegung forderte nun auch nicht mehr länger nur Frieden für Vietnam, sondern übernahm – zumindest verbal – Che Guevaras Position „Schafft zwei, drei, viele Vietnam“ als Modell für die Befreiung vom Imperialismus.

Auch die Situation im Iran beschäftigte immer mehr junge Menschen. Über die sozialen und politischen Zustände unter der kaiserlichen Diktatur informierten der iranische Schriftsteller Bahman Nirumand („Persien – Modell eines Entwicklungslandes“), die Konföderation Iranischer Studenten, der SDS und westdeutsche studentische Vertretungen. Als Schah Resa Pahlewi und seine Frau Farah Diba im Juni 1967 zum Staatsbesuch in Westdeutschland und Westberlin eintrafen, war klar, dass es massive Proteste geben würde. Die Ereignisse am 2. Juni 1967 in Westberlin sind allgemein bekannt: Die Polizei und iranische Agenten prügelten auf Demonstrant_innen ein, Kriminalkommissar Kurras erschoss den Studenten Benno Ohnesorg. Schuld waren – so der einhellige Tenor aus Politik und Medien – die Demonstrant_innen. „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen“, schrieb Springers BZ am Tag danach.

Spätestens jetzt war klar, mit welchem Gegner es die Protestbewegung zu tun hatte. Die bisher vorwiegend abstrakt geführte Diskussion um Gewalt und Gegengewalt wurde konkreter. Die Aktivist_innen sahen sich nun als Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung. Besonders deutlich wurde das im Februar 1968 auf dem Internationalen Vietnam-Kongress in Westberlin, der zeitgleich mit der Tet-Offensive des Vietcong stattfand. In der Schlussresolution des Kongresses hieß es:

„Der Kampf gegen die US-Aggression in Vietnam muss zugleich ein Kampf gegen die imperialistische Politik der kapitalistischen Länder Westeuropas sein. Eine zweite revolutionäre Front gegen den Kapitalismus in dessen Metropolen kann nur dann aufgebaut werden, wenn die antiimperialistische Oppositionsbewegung lernt, die spätkapitalistischen Widersprüche politisch zu artikulieren und den Kampf um revolutionäre Lösungen in Betrieben, Büros, Universitäten und Schulen aufzunehmen.“

Kulturrevolutionäre Errungenschaften

Dieses internationalistische Grundverständnis und der – heute naiv anmutende – revolutionäre Voluntarismus waren die wesentlichsten Gemeinsamkeiten der APO, zumindest in der „heißen Phase“ zwischen Juni 1967 und Dezember 1968. Natürlich sollte sich im Verlaufe des Kampfes auch das Individuum revolutionieren, bürgerliches Denken und Fühlen ablegen – kurzum: sich selbst befreien. Dazu gehörten Kommunen und Kinderläden und, anknüpfend an Wilhelm Reich, Versuche einer „sexuellen Revolution“. Die erotische Ausstrahlung der Revolte wurde vom bürgerlichen Mainstream voyeuristisch aufgegriffen, Bilder nackter Kommunard_innen wurden und werden immer wieder reproduziert. Vielleicht ist das ein Grund, warum sich die These von der sexuellen Befreiung bis heute gehalten hat. Für die Beteiligten war das Kommunenleben dagegen viel weniger spektakulär: „Sexuelle Befreiung gab es bei uns nicht, das war wieder so ein großes Gerücht“, erinnerte sich später Antje Krüger, 1967 Mitglied der Kommune I.

Wie weit die APO von ihrem Ziel der „Schaffung eines neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft“ (Kommune 2) entfernt war, zeigten die Reaktionen der meisten männlichen Genossen auf den später so genannten „Aufstand der Frauen im SDS“, der heute als Beginn der Neuen Frauenbewegung gilt. Die auf den SDS-Delegiertenkonferenzen im September und November 1968 von den Genossinnen geforderte Diskussion über die Frauenunterdrückung im SDS und über die Revolutionierung des Privatlebens kam nicht zustande. Christian Semler, später Vorsitzender der KPD/AO, kritisierte den „kleinbürgerlichen feministischen Aktionswahn“; Joscha Schmierer, ab 1973 Sekretär des KBW, verwies die Genossinnen auf Betätigungsfelder außerhalb des SDS. Nur wenige Männer unterstützten die Kritik der Frauen.

Erst mit großem Abstand betrachtet wird deutlich, dass die wichtigsten Errungenschaften von ’68 tatsächlich im „kulturrevolutionären“ Alltagsbereich liegen: Es gab nun mehr individuelle Freiheiten, mehr (wenn auch immer noch nicht gleiche) Rechte für Frauen; alternative Lebensweisen, etwa in Wohngemeinschaften, wurden zumindest geduldet, Minderheiten weniger verfolgt. Das alles war zwar mit dem Kapitalismus kompatibel, aber zweifelsfrei „fortschrittlich“, und wir profitieren heute davon – vom Adenauer-Deutschland der alten Nazis trennen uns Welten. Kein Wunder, dass die Dobrindts, Seehofers und Meuthens das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen.

Die Revolte als Klassenkampf

Als politische Bewegung dagegen ist die Revolte gescheitert – zumindest wenn man ihren weltrevolutionären Anspruch zum Maßstab nimmt. Deutet man sie als Klassenkampf, dann konnte das angesichts der herrschenden Kräfteverhältnisse auch gar nicht anders sein. Was war klassenkämpferisch an '68? In den 1970er Jahren, als sich nach der viel zu kurzen „antiautoritären Phase“ – zumindest in den K-Gruppen – die „proletarische Linie“ durchgesetzt hatte, wurde mitunter der berufsständische Charakter der „Studentenbewegung“ (so der damals meist verwendete Begriff) betont, nämlich als Kampf kleinbürgerlicher Intellektueller um Privilegien: bessere Studienbedingungen und Zugang zu lukrativen Jobs.

Dabei wird oft wird übersehen, dass die APO spätestens seit April 1968 keine reine Studentenrevolte mehr war, sondern auch andere soziale Gruppen anzog. Den Regierenden bereitete das zunehmend Sorgen. In seiner Rede über die „Osterunruhen“ nach dem Attentat auf Rudi Dutschke sagte Innenminister Ernst Benda (CDU) am 30. April 1968:

„Nach den von den Herren Innenministern der Länder mitgeteilten Zahlen ist inzwischen gegen 827 Beschuldigte ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Nach Berufen aufgegliedert, ergibt sich folgendes Bild: 92 sind Schüler, 286 Studenten, 185 Angestellte, 150 Arbeiter, 31 sonstige Berufe [...] Meine Damen und Herren, diese Aufgliederung scheint mir zu zeigen, wie falsch es wäre, die Gewaltaktionen als Studentenunruhen zu bezeichnen“.

Was die Herrschenden beunruhigte, war für die studentische Avantgarde Anlass zur Hoffnung. Ausgestattet mit der richtigen „Klassenanalyse“ (die allerdings nie fertig wurde) sollte es gelingen, aus der Isolation zu kommen. Mehr und mehr angezweifelt wurde Herbert Marcuses pessimistische Diagnose von der durch Konsum und Manipulation in das kapitalistische System integrierten Arbeiterklasse. Aber erst die „wilden“ Septemberstreiks 1969 lösten bei den revolutionären Intellektuellen eine regelrechte Begeisterung aus: Als zeitgleich nordrhein-westfälische Metaller und Kieler Werftarbeiter streikten, schien das „revolutionäre Subjekt“, mit dem Industrieproletariat als Kern, aus seinem Schlaf erwacht. Diverse Arbeiterbünde und -parteien gründeten sich. Dass man, um die Revolution voranzubringen, „hinein in die Betriebe“ musste, war bald Allgemeingut. Nicht nur die „MLer“, auch Trotzkist_innen und Spontis heuerten in industriellen Großbetrieben an – siehe die Betriebsarbeit der Gruppe Revolutionärer Kampf (RK) im Rhein-Main-Gebiet. Arbeitertümelei wurde zur Mode. Mit „neuer“ Klassenpolitik hatte das wenig zu tun. Vorbild für viele war die Politik der KPD vor 1933: Betriebszellen als Grundeinheit der Organisation, Agitation gegen die „Arbeiterverräter“ in den Gewerkschaften, Aufbau einer „Revolutionären Gewerkschaftsopposition“ (RGO). Das führte zu schnellen Erfolgen bei Betriebsratswahlen, aber auch zu Gewerkschaftsausschlüssen von Kandidat_innen oppositioneller Listen, die teilweise regelrechte Berufsverbote auch für Arbeiter_innen nach sich zogen.

Lehren für eine Neue Klassenpolitik?

Zumindest waren das die spektakulärsten Auswirkungen der Hinwendung zur Arbeiterklasse. Die „Massenorientierung“ der allermeisten Aktiven und Sympathisant_innen der APO allerdings sah anders aus: Zehntausende gingen in den 1970er Jahren zu den Jungsozialisten (Jusos) in der SPD oder zur DKP und ihren Bündnisorganisationen, dem MSB Spartakus und der SDAJ. Dort lockten fertige Parteistrukturen und Verbindung zu den Gewerkschaftsmitgliedern. „Gewerkschaftliche Orientierung“ (GO) war der Slogan, mit dem der MSB Spartakus Tausende Studierende ansprechen konnte – in Abgrenzung zu den „Linkssektierern“ in den K-Gruppen.

Lernen lässt sich aus diesen Erfahrungen von 1968ff. aus heutiger Sicht vor allem aus den Fehlern. Vorbilder, die man kopieren könnte, gibt es nicht. Die „Lehren“, die für eine Neue Klassenpolitik aus der linken Bewegungsgeschichte der Jahre 1968ff. zu ziehen wären, sind eher allgemeiner Art. Jean-Paul Sartre, prominenter Bündnispartner der radikalen Linken, sah „das Verlangen nach Selbstbestimmung“ als Motiv, das die studentische Avantgarde in die Gesellschaft getragen habe. Nachdem die Arbeiter_innen Ziele und Aktionsformen von den Student_innen übernommen hätten, seien zwischen beiden Gruppen „wirkliche Beziehungen“ möglich, „wenn sie zusammenarbeiten, in den Universitäten wie in den Betrieben“ (Sartre 1974).

Längst wissen wir, dass es weitaus mehr Kampfplätze für Linke gibt, aber in den 1970er Jahren war der Pendelschlag vom antiautoritären Avantgardismus zur Arbeitertümelei wahrscheinlich unvermeidlich. Statt besserwisserisch die Dummheiten der Bewegung zu betonen, sollten wir den Aktiven von damals dankbar sein: Sie haben buchstäblich die Köpfe hingehalten und in teilweise extrem feindlicher Umgebung bewiesen, dass auch kleine, radikale Minderheiten wichtige Veränderungen anstoßen können. Dauerhaft zu verteidigen sind diese allerdings nur durch Verankerung in allen Teilen der Gesellschaft.

Zusätzlich verwendete Literatur

Sartre, Jean-Paul (1974): Mai 68 und die Folgen. Reinbek, Hamburg.

Zitathinweis: Jens Renner: „Die“ 68er gibt es nicht. Erschienen in: Neue Klassenpolitik. 47/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/s/snpFt. Abgerufen am: 30. 10. 2024 22:23.