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Wir relativieren uns zu Tode

Buchautor_innen
Bernd Stegemann
Buchtitel
Kritik des Theaters

Bernd Stegemann legt einen inhaltlich wie sprachlich ebenso furiosen wie herrlich einseitigen Zornanfall gegen das postmoderne Theater vor.

Ein Gespenst geht um in der Linken – das Gespenst der Postmoderne. Keinerlei Mächte des Antikapitalismus haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet. Wo ist der Marxist, der nicht von seinen postmodernen Gegnern als geschichtsgläubig verschrien worden wäre, wo die Derrida-Schülerin, die den fortgeschritteneren Feministinnen sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Ökonomismus nicht zurückgeschleudert hätte? Doch die Hegemonie der Postmodernen in der breiten linken Kultur-Öffentlichkeit bröckelt. Wenn auch nur ganz allmählich. In kurzer Abfolge erschienen in den vergangenen Monaten zwei breit rezipierte Schriften, die sich erfrischend polemisch gegen den voluntaristischen Zeitgeist des postmodernen Moralismus wenden. Ihre Autoren entstammen beide dem deutschsprachigen Theaterbetrieb. Überraschend ist dies vor allem deshalb, weil das Theater innerhalb der Linken aktuell überhaupt keinen guten Stand hat.

Von der Gesamtbevölkerung in Deutschland gehen lediglich zwei Prozent regelmäßig ins Theater. Der Anteil an Linken innerhalb dieser verschwindend geringen Gruppe dürfte wiederum nicht mal einen zaghaften Ausschlag auf der Amplitude der Publikumsstatistiken verursachen. Doch es gibt sie, die überzeugten Marxist_innen auf und hinter den Bühnen dieser Republik. Mit Bernd Stegemann meldet sich nun einer der profiliertesten Dramaturgen des Kulturbetriebs mit seiner furiosen „Kritik des Theaters“ zu Wort.

Die Kritik des Professors für Theatergeschichte und Dramaturgie an der „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch“ zielt auf die Dominanz des postmodernen Denkens im Theater der Gegenwart. Alles verlaufe hier nach der Prämisse: „Das Ganze ist nicht mehr zu überblicken und auch nicht mehr zu denken. Von daher muss die Arbeit an der Darstellung der Widersprüche auch niemand mehr übernehmen“ (S. 19). In dieser Logik erweise die Lektüre eines Textes, dass sein Sinn darin bestehe, das Erkennen eines Sinns aufzuschieben. Klar, wie sehr die Marxsche Dialektik, „die den Kapitalismus als Fortschritt und Katastrophe zugleich denkt“ (S. 16), von diesem Standpunkt aus abzulehnen sei.

„Man kann nichts mehr aussagen, aber das sieht sehr schön aus“

Woraus resultiere, dass man sich als Theatermensch radikal geben könne, ohne ein wirkliches Risiko eingehen zu müssen. Eine bequeme Haltung, die die Nicht-Haltung zum Prinzip erkläre und die der Theatermacher Milo Rau wunderbar pointiert:

„In Wahrheit wollen wir Pseudo-Kritiker der Macht gar nichts ändern, in Wahrheit wollen wir niemanden festnageln, und wir brauchen die bewusstlos in ihren exotischen Milieus verharrenden Betroffenen und die ‚dummen Zuschauer‛ genauso wie die Revisionisten das entfremdete Bewusstsein des Proletariats: damit wir immer weiter auf der Stelle treten und unser impotentes Utopie-Scrabble am Laufen halten können“ (Rau 2013, S. 55).

Rau ist der zweite im Bunde der sich in jüngerer Zeit zunehmend Gehör verschaffenden Theater-Marxisten. Einen Namen gemacht hat er sich mit seinen Reenactments, in denen historische Ereignisse authentisch nachgespielt werden – besonders kontrovers diskutiert wurde etwa Raus Reenactment der Erklärung des extrem rechten Massenmörders Anders Breivik vor Gericht (siehe Baron 2012). Wie Stegemann arbeitet Rau sich in seinem Pamphlet „Was tun?“ am postmodernen Zeitgeist ab. Somit dürfte er Stegemann auch zustimmen, wenn dieser diagnostiziert: „Die wesentliche Ursache für das quälend langsame Erwachen aus dem Dämmer der Postmoderne liegt in der inzwischen ‚toten Option‛ kommunistischer Theorien“ (S. 158).

Von den Pulten des permanenten politischen Aschermittwochs über die bürgerlichen Feuilletons bis hinein in die sich ach so widerständig gebenden deutschen Theaterhäuser gehöre die Stigmatisierung fundmentaler Opposition zum guten intellektuellen Ton. Wer in der klandestinen Komplexität der Welt offensiv für den Umsturz aller kapitalistischen Verhältnisse trommle, mache sich bestenfalls lächerlich: „Wessen Ausdruck zu ernst ist, wirkt unbeholfen in seinem Versuch, ehrlich zu sein. Jede Betonung eines existenziellen Grundes provoziert den Argwohn ästhetischer Vorbehalte“ (S. 38f.). Stegemann kritisiert diese feige Denke als Kapitulation vor der kapitalistischen Logik, die nach dem Motto verfahre: „Man kann nichts mehr aussagen, aber das sieht sehr schön aus“ (S. 150). Ironie, die dereinst gedacht gewesen sei als Florett im Kampf gegen gesellschaftliche Verhältnisse, diene heute nur noch „der Absicherung des eigenen Auftretens, das im Bewusstsein der Kontingenz nicht dumm wirken will“ (S. 196). Das ironische Sprechen sei zu einer Variante der Selbstreferenz verkommen, es sei lediglich „eine Immunisierungsstrategie, die Sprechende wie Hörende in die Offenheit des Unverständlichen, aber Lustigen versetzt“ (ebd.). Prototypisch dafür stehe am Theater die Tendenz zur Postdramatik.

Das Elend der Postdramatik

Bei der Postdramatik handelt es sich um einen von dem Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann kreierten Begriff, der ein Theater beschreibt, für das „weniger der Sinn der Handlung, erkennbare Figurenidentitäten oder -psychologien, sondern mehr und mehr der unmittelbare Ausdruck […], die Anmutung, Präsenz, Atmosphäre oder das Erhabene im Vordergrund“ (Englhart 2013, S. 71) steht. Postdramatische Inszenierungen setzen dementsprechend „an die Stelle des Dialogs den Diskurs, an die der Figuren die Figuration als Prozess der ständigen Herstellung und Auslöschung von statischer Figurenidentität, und an die Stelle der Handlung letztlich das Ereignis“ (ebd.).

Oder, wie Stegemann es treffender ausdrückt: „Das postmoderne Kunstwerk ersetzt das Verstehen durch das Erleben, die Dialektik durch die Performativität der Selbstreferenz“ (S. 69). Jene Selbstreferenz, die das postmoderne Theater auszeichne, führe jedoch nicht zu einem besseren Verständnis der Funktion von Ereignissen in der Realität, sondern „endet in einer Selbstbespiegelung der Theatermittel“ (S. 115). In der Konsequenz mache eine postdramatische Inszenierung primär die eigene Realität zum Thema auf der Bühne und beraube die Tätigkeit des Schauspielens ihrer mimetischen Kraft als spielerischer Darstellung der Welt:

„Es ist, als würden sie die ganze Zeit über sagen wollen: Ja, wir wissen, dass wir hier oben stehen und Quatsch machen, und wir wissen, dass ihr euch das anschaut und denkt, was machen die denn da für einen Quatsch“ (S. 208f.).

Wer ein solches Theaterverständnis habe, folge unweigerlich dem relativistischen Diktat, nach dem „jede Behauptung als kontingent und jede Entscheidung als falsche Vereinfachung reflektiert wird“ (S. 277). Mit fatalen Folgen, denn mittlerweile habe sich „die Abgeklärtheit des postmodernen Lebensgefühls in einen permanenten Zwang zur Flexibilität der Arbeitskraft verwandelt und die vollständige Erosion einer daran möglichen Kritik herbeigeführt“ (S. 13). Theaterarbeit sei heute in erster Linie formal projektbasiert, existenziell prekär und inhaltlich austauschbar und füge sich daher brav ein in jene Arbeitswelt, in der „das erschöpfte Selbst sich gerade aufgrund seiner Erschöpfung anerkannt fühlt und darum meint, keinen Grund mehr für Kritik zu haben“ (S. 143).

Stegemann weist in diesem Zusammenhang auf ein wichtiges Detail hin. Nebenbei nämlich schmeichele das so Dargebotene „dem narzisstischen Bedürfnis der Zuschauenden, ihre eigene Intelligenz in der Rezeption bestätigt zu finden. Und zu sehr entspricht er dem Selbstverständnis der Produzenten, als ebenso intelligent erkannt werden zu wollen“ (S. 260). Wer eine Theateraufführung als unverständlich kritisiert, der sieht sich sofort dem barschen Vorwurf ausgesetzt, nicht intelligent oder ästhetisch sensibel genug zu sein für die anspruchsvolle Inszenierung – davon weiß nicht zuletzt der Autor dieser Zeilen als Theaterkritiker ein Liedchen zu singen.

Endlich wieder kritisches Theater!

Wer auf der Bühne, wie derzeit so oft zu beobachten, eine unselige Melange aus verworrener Effekthascherei (besonders beliebt: nackig umherrennen) und inhaltsleerem Textquark (besonders beliebt: diffuse Diskursfetzen wahllos aneinanderreihen) abliefert, die das herrschende Falsche als Ohnmacht erzeugendes Drecksystem entlarven soll, offenbart sich als pseudokritisches Feigenblatt. Letztlich nämlich, findet Stegemann, stellt diese Haltung „die raffinierte Selbstimmunisierung dar, die dem neuen Kapitalismus seine Tarnung verschafft, um weiterhin behaupten zu können, die effizienteste Lebensform für den natürlichen Egoismus der Menschen zu sein“ (S. 11).

Wie aber will Stegemann das Theater wieder zu einer kritischen Instanz machen? Seine Antwort beginnt mit einer simplen Erkenntnis: „Die Sichtbarmachung eines Missstands ist der erste Schritt zu seiner Beseitigung“ (S. 226). Was schlüssig klingen mag, ist am Theater gänzlich verpönt. Viel zu unterkomplex und wenig abstrakt wäre eine solche Ästhetik, so würde allüberall vom Regiestuhl aus herübergepöbelt. Was man bereits als natürliche Aufgabe der kritischen Wissenschaften kennt, würde der Dramaturg nichtsdestotrotz gerne auf das Theater übertragen sehen:

„Die Gesellschaft kann durch das Theater vielleicht nicht spürbar verändert werden, aber die Theatermacher können die Einflüsse des gesellschaftlichen Treibens auf sich selbst erkennen. Sie können wissen, welche Argumentationsmuster dazu dienen, um die Ungerechtigkeiten zu verschleiern, welche Theorien aufgebaut werden, um die Mechanik des Marktes zu ermöglichen und welcher ideologische Aufwand betrieben wird, um die Realität der Widersprüche als natürliche Ungleichheit der Welt erscheinen zu lassen. Wer heute Theater macht, kann und muss wissen, wie die Wirtschaftsform das Denken und Erleben strukturiert“ (S. 286).

Denn, so wäre Stegemann zu ergänzen, Antikapitalisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einem wirklich kritischen Theater zittern. Die linken Theatermacher haben nichts zu verlieren als ihre Scheuklappen. Sie haben eine Revolution vorzubereiten. Antikapitalistisch gesinnte Theaterschaffende aller Länder, vereinigt euch!

Zusätzlich verwendete Literatur

Baron, Christian (2012): Europäischer Common Sense. Breiviks Erklärung (UA) – Milo Rau konfrontiert das Theatervolk mit Weltverbesserungsthesen eines Massenmörders. In: nachtkritik.de vom 19.10.2012. Online einsehbar hier. Englhart, Andreas (2013): Das Theater der Gegenwart. C.H.Beck, München. Rau, Milo (2013): Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Kein & Aber, Zürich/Berlin.

Bernd Stegemann 2013:
Kritik des Theaters.
Theater der Zeit, Berlin.
ISBN: 978-3-943881-02-8.
338 Seiten. 24,50 Euro.
Zitathinweis: Christian Baron: Wir relativieren uns zu Tode. Erschienen in: Kunst in Ketten. 31/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/s/pt6h8. Abgerufen am: 21. 12. 2024 17:06.

Zum Buch
Bernd Stegemann 2013:
Kritik des Theaters.
Theater der Zeit, Berlin.
ISBN: 978-3-943881-02-8.
338 Seiten. 24,50 Euro.