Moderne Gewaltlust
- Buchautor_innen
- Iris Därmann
- Buchtitel
- Sadismus mit und ohne Sade
Ausgehend von transatlantischer Versklavung untersucht diese literatur- und kulturwissenschaftliche Studie das Begehren und die westliche Lust nach Gewalt.
Die Lektüre dieses Buches hat einige Zeit gedauert. Der kurze Text über das Buch dauerte noch länger. Das hat mit der im Buch beschriebenen Gewalt zu tun und mit der Gewalt, die unsere Gegenwart prägt. Wenn Lektüre und Nachrichtenbild sich zu vermischen drohten, habe ich unterbrochen, ließ zeitliche Distanz einziehen. Denn so lang es geht, ist Distanz ein praktikabler Weg, um mit Gewalt umzugehen. Jedoch bedeutet Distanz keine Abwesenheit von Gewalt, sondern erlaubt nur die mittelbare Aussetzung dieser. (Davon, dass Distanz kein Mittel ist, das allen erlaubt wird, handelt das Buch und eben auch die Gegenwart.)
„Sadismus mit und ohne Sade“ erinnert immer wieder daran, dass es eine Geschichte zur Gegenwart gibt, die zumindest Kontext bietet und damit einer Aufklärung näherkommt. Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann nimmt darin westliche Gewaltlust in den Blick, die ihre Ausprägung in den Kolonien und dem transatlantischen Handel mit versklavten Menschen gefunden hat. Diese Lust zeigt sich in der europäischen Literaturgeschichte erstmals im 18. Jahrhundert in den pornografischen Erzählungen von de Sade, die später als literarische Vorlage für den Begriff des Sadismus dienten. Mit Sade beginnt das in 18 Kapiteln angelegte Buch. Jedes Kapitel fokussiert je für sich auf historische Situationen, gewaltvolle Körperpraktiken oder Theorieaspekte und erzählt in der Gesamtschau eine literatur- und kulturwissenschaftliche Geschichte von Gewaltlust und Gewaltbegehren.
Es geht in Därmanns Buch um Gewalt und die Lust an ihr, und zu einigen Stellen hätte sich die Leserin eine content note ersehnt, wobei der Titel vielleicht genau diese leisten soll. Es handelt von Sadismus, vom selbstzentrierten Lustgewinn durch die Schmerzzufügung und Erniedrigung anderer Menschen. Die Leser:innen werden mit gewaltsamen und pornografischen Szenen konfrontiert, mit historischem Material, das die grausamsten Kapitel der Neuzeit und der jüngeren Vergangenheit aufruft. Das Buch steht damit in dem Spagat, der die Auseinandersetzung mit kolonialer Gewaltgeschichte häufig begleitet: Einerseits scheint die Aufrufung kolonialer Gewalt für ihre kritische Aufarbeitung notwendig, andererseits wird sie in der erneuten Aufrufung eben auch reproduziert. Diese Zweischneidigkeit begleitet die Lektüre noch schmerzhafter, weil nicht nur gesellschaftliche Gewaltstrukturen, sondern eben auch persönliches Lustempfinden adressiert werden.
Lange Jahre der Gewaltlust
Die Grundprämisse des Buches ist, dass Lust sich an den Grenzen des Erlaubten (und ihrer Überschreitung) abspielt und daher immer historisch-kulturell situiert ist. Die ersten Kapitel spielen in den afrikanischen Kolonien, auf den amerikanischen Plantagen und atlantischen Inseln, in denen versklavte Menschen den Kolonialherren und Plantagenbesitzern ungeschützt ausgeliefert sind. Obwohl auch die kolonialen Gewalträume im formalen Sinne nicht rechtsfrei waren, und daher Grenzen der Gewalt markiert wurden (an denen sich die Lust an der Überschreitung orientierte), wurde Straf- und Gewaltlust ungezügelt ausgeübt, eben auch weil kein einhaltgebietender Gegenpart vorhanden war. Gewaltexzesse an Schwarzen Körpern wurden sanktionslos zur Kenntnis genommen.
Das Buch fügt sich in eine Literaturlandschaft ein, die sich mit der kolonialen Gewaltgeschichte über die Engführung historischer Quellen und moderner Theoriegeschichte auseinandersetzt. Zur etwa gleichen Zeit erschien im letzten Jahr auch die Neuauflage von Sven Lindqvists „Rottet die Bestien aus!“, das ich kurz vorher lese und das meinen Leseeindruck von Därmanns „Sadismus mit und ohne Sade“ verstärkt. Das Buch, das der schwedische Journalist in den frühen 1990er Jahren schrieb, liest sich als persönlicher Reisebericht durch Südwestafrika und zeigt über eine Dichte literarischer Quellen die ideologischen Abgründe der Kolonialzeit und ihrer Verbrechen auf. Gemein ist beiden Büchern, dass sie in den kolonialen Gewalträumen beginnen und die Gewalt bis ins 20. Jahrhundert (und weiter) verfolgen. Beide Büchern erzählen entlang einer dichten historischen Quellenlage und deren Engführung mit moderner Theorie eine Geschichte von Gewalt, mit deren Aufarbeitung und immer wiederkehrenden Aufflammen wir heute konfrontiert sind.
Die über Jahrhunderte praktizierte Gewalt findet in der „sadistischen Organisation“ der Vernichtungs- und Konzentrationslager der Nazis ihre äußerste Form. Was immer schon Perversion war (um im psychoanalytischen Jargon zu bleiben), pervertiert maximal. Därmann beschreibt die erbarmungslose Foltergewalt und individuelle Gewaltlust in den Lagern, von der u.a. Jean Améry nach Kriegsende berichtet. Sie setzt damit auch einen differenzierenden Kontrapunkt zu der Erzählung einer allein klinischen und kalten Vernichtungsmaschinerie. Im Aufrufen der Verbrechen der Shoah geht es Därmann nicht um historische Kontinuitäten oder gar Kausalität; es wird Rassismus nicht gegen Antisemitismus gehalten, sondern ein lange gewachsener und ausgefeilter Katalog von Gewaltpraktiken wird in den Fokus gestellt. Wenn gegenwärtig über die politischen Implikationen einer Verflechtungsgeschichte gestritten wird, zeigen Bücher wie die von Därmann und auch Lindqvist auf, dass es gefährlich ist, Gewalt gegen Gewalt auszuspielen, genauso wie es gefährlich ist, Differenzen zu übergehen. Därmanns Argumentation ist nachvollziehbar, und doch ist das Quellenmaterial so dicht, die historische Gewalt unermesslich und die Brisanz des Themas derart entzündlich, dass die Leserin dankbar wäre, wenn die Ausführungen mehr Raum hätten, als sie in den kurzen Kapiteln finden. Es stecken in diesem einem Buch viele weitere Geschichten, die erzählt gehören.
Ästhetik ist keine Rettung
Dass das Buch nicht allein von einem historischen und hermetisch abgeschlossenen Gegenstand, der kolonialen Gewaltlust, handelt, sondern immer auch von heutigem Begehren und Gewaltlust, offenbart sich der Leserin in ihren affektiven Regungen beim Lesen und auf Buchebene zu dessen Ende. Hier sucht Därmann nach dekolonialen Strategien, um Lust von ihrem kolonialen Erbe zu befreien. Auch ihr bleibt nur der Weg in die Ästhetik. Wobei sie eigentlich – mit Sade – in der Ästhetik, genauer in der Literatur beginnt und festhält, dass dieser mit seinen pornografischen Gewaltfantasien, die er an weißen Körper ausspielt, für eine weiße Leser:innenschaft überhaupt erst begreifbar gemacht hat, was an Schwarzen Körpern Praxis war.
Das titelgebende Wortspiel „mit/ohne“ weist also daraufhin, dass in Kunst, Literatur, ja, im ästhetischen Verfahren allein keine Rettung liegt: „Sades pornografische Verfahren verhindern vielmehr konsequent, dass sich Begehren von Gewaltlust trennen, sich für Zärtliches und gar für eine neue ‚Empfindsamkeit‘ öffnen könnte.“ (S. 228) Doch bleibt in der Ästhetik ein Rest an Potenzial, das einem psychoanalytischen Durcharbeiten durch die koloniale Gewaltlust gleicht. Därmann verweist auf Texte und Theoretiker:innen, die im Feld der Ästhetik arbeiten, das Anteil an Täter:innenschaft hat, gleichzeitig aber auch von Beginn kleine Formen des Widerstands bereitstellen konnte. Ästhetik als Widerstand bleibt also ein uneingelöstes Versprechen. Dieses Versprechen aber ist vertrauensvoller als das Einräumen von Distanz, in dem Literatur zur Seite gelegt und über Gewalt nicht gesprochen wird.
Zusätzlich verwendete Literatur
Lindqvist, Sven (2023): Rottet die Bestien aus! Eine Reise auf den Spuren des europäischen Völkermords. Aus dem Schwedischen von Sandra Nalepka. Mit einem Vorwort von Raoul Peck. Alexander Verlag, Berlin.
Sadismus mit und ohne Sade.
Matthes & Seitz Berlin, Berlin.
ISBN: 978-3-7518-2007-3.
350 Seiten. 32,00 Euro.