Vermessener Rassismus
- Buchautor_innen
- Linda Supik
- Buchtitel
- Statistik und Rassismus
- Buchuntertitel
- Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität
Die Studie zeigt, dass das Sammeln von Daten über Ethnizität beim Versuch, rassistische Diskriminierung kenntlich zu machen, rassistische Grenzziehungen zementiert.
In ihrem Buch „Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität“ analysiert die Soziologin Linda Supik ein Dilemma von Antidiskriminierungspolitik: Die Nutzung von Statistiken zur ethnischen Zugehörigkeit soll die Ungleichverteilung von Ressourcen messen und auf diese Weise dazu dienen, rassistische Ausgrenzung zu bekämpfen. Gleichzeitig birgt diese Praxis Gefahren, denn wenn Menschen als Angehörige einer ethnischen Gruppe zusammengefasst werden, sind ethnisierende und rassifizierende Effekte unvermeidlich.
Supik folgt der Argumentation gouvernementalitätstheoretischer Arbeiten im Anschluss an Michel Foucault und versteht Statistik als „eine zentrale Herrschaftstechnik der Moderne, und zugleich das bevorzugte Werkzeug für die empirische Beforschung der Sozialstruktur“ (S. 75). Der Anspruch, soziale Phänomene „objektiv“ darzustellen, unterschlägt, dass die Wirklichkeit die hier gemessen werden soll, erst dadurch (mit)erschaffen und reproduziert wird. Die mit ihr verbundene Sprache – in diesem Falle Kategorien, die Menschen eine ethnische Zugehörigkeit zuschreiben – werden im Zuge des Erfassens festgeschrieben und damit wirkmächtig. Antidiskriminierungspolitik steckt folglich in einem Dilemma: Um ihre Ziele zu erreichen, müssen gesellschaftliche Ungleichheiten einerseits erfasst und bewusst gemacht werden. Andererseits werden die mit ihnen verbundenen Kategorien gesellschaftlicher Grenzziehung, wie beispielsweise Herkunft oder Hautfarbe, auf diese Weise reproduziert.
Antidiskriminierungspolitik und Statistik
Vor dem Hintergrund der Impulse europäischer Antidiskriminierungspolitiken seit dem Jahr 2000 vergleicht Supik den äußert unterschiedlichen Umgang mit ethnisierenden Statistiken in Deutschland und Großbritannien. In Deutschland war Minderheitenpolitik lange Zeit durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und das Selbstverständnis geprägt, kein Einwanderungsland zu sein. Die Kategorie „Rasse“ wird im Rahmen staatlicher Politiken und im Mehrheitsdiskurs abgelehnt. Folgerichtig werden von staatlicher Seite keine systematischen Daten gesammelt, die beispielsweise Auskunft über die Hautfarbe von Bevölkerungsgruppen geben. Im Sinne antirassistischer Politik reflektiert diese Praxis die Kritik an der Annahme einer Existenz menschlicher Rassen. Sie kann allerdings Probleme hervorrufen, wenn das bedeutet, dass auch über Rassismus nicht mehr gesprochen werden kann.
In Großbritannien findet sich, wie Supik im zweiten Teil des Buches ausführlich darlegt, ein anderer Umgang mit der Problematik. Ausgehend von der Kolonialgeschichte des Empires, der postkolonialen Einwanderung und heftigen antirassistischen Kämpfen werden „ethnic minorities“ seit Ende der 1950er Jahre offen als Teil der sozialen Wirklichkeit wahrgenommen und die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, seit einiger Zeit auch zunehmend aufgrund von Religion, thematisiert. Ab den 1970er Jahren wurden Gesetze und Programme eingeführt, in denen Multikulturalismus das Leitbild war. So wurde die politische und gesellschaftliche Teilhabe gefördert und Diskriminierung vergleichsweise früh, beispielsweise durch eine Antidiskriminierungsgesetzgebung, bekämpft. Trotz der zunehmenden Kritik am Multikulturalismus seit Beginn des Jahrtausends haben diese Bestrebungen bis heute Einfluss auf die Politik in Großbritannien. Ein Aspekt der Antidiskriminierungspolitik des britischen Staates ist die Sammlung offizieller Zensusdaten, die – je nach Kontext und teilweise ohne scharfe Trennung – beispielsweise Hautfarbe („black“, „white“, „mixed race“) oder regionale Identifikationen („British-South Asian“, „British-Caribbean“) der Befragten erheben. Detailliert untersucht Supik die Debatten um den britischen Zensus von 2011. Sie arbeitet heraus, wie Befürworter_innen das Erheben ethnisierender Daten begründen und welche Strategien die Kritiker_innen dieser Praxis dagegen anwenden. Supik zeigt, wie sich Kategorien im Zuge von historischen Migrationsprozessen wandeln und analysiert die damit verbundenen Identifikations- und Abgrenzungsprozesse.
Anders als in Großbritannien gestaltete sich die Situation der sogenannten Gastarbeiter und ihrer Nachkommen in Deutschland. Bis in die 1990er Jahre wurden sie weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der staatlichen Politik als Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet. Der politische Fokus war auf die Rückkehr in die (vermeintlichen) Herkunftsländer gerichtet. Obwohl die Vorstellung einer auf Abstammung beruhenden Ethno-Nation auch heute noch eine Rolle spielt, hat Antidiskriminierungspolitik, nicht zuletzt durch die Richtlinien der Europäischen Union, an Bedeutung gewonnen. Supik vollzieht die Debatten um den Umgang mit der Kategorie „Rasse“ und problematisiert das – auch in anderen europäischen Ländern – vorherrschende Selbstverständnis, dass die Bekämpfung von Diskriminierung zweitrangig sei. Sie vergleicht die Debatten im angelsächsischen Raum mit Kontinentaleuropa und zeigt problematische Tendenzen beider Ansätze auf.
Für wen?
Supiks Studie demonstriert anschaulich die große Bedeutung von Statistiken für die Rassismusforschung und macht gleichzeitig auf die damit verbundenen Problemlagen aufmerksam. Antidiskriminierungspolitik, die die Kritikpunkte an Kategorien wie Rasse, Ethnizität und Kultur nicht reflektiert, läuft Gefahr ins Leere zu gehen. Supiks Buch ist für Leser_innen interessant, die sich mit britischer Minderheitenpolitik aus deutscher Perspektive auseinandersetzen und Kategorien wie „race“ oder „community“ besser verstehen wollen. Sie werden im angloamerikanischen Raum oftmals als selbstverständlich angenommen, sollten allerdings nicht kritiklos übernommen werden.
Die sehr akademische Sprache des Textes ist an einigen Stellen gewöhnungsbedürftig. Schnelle Lösungen für den politischen Umgang mit Diskriminierung bietet das Buch, das auf der Dissertation der Autorin basiert, ebenfalls nicht. Es dient in erster Linie dazu, auf die Probleme antikdiskriminierungspolitischer Strategien aufmerksam zu machen und beispielhaft zu zeigen, welcher Umgang damit möglich ist. Um die Vielfalt der Ansätze in Europa aufzuzeigen, wäre es interessant gewesen, weitere Länder einzubeziehen. Deutschland und Großbritannien stellen in mancher Hinsicht gegensätzliche Beispiele dar, mit Blick auf andere europäische Staaten wird allerdings deutlich, wie sehr der jeweilige Umgang mit Minderheiten mit den herrschenden soziopolitischen Verhältnissen in Zusammenhang steht. Das wirft auch die Frage auf, wie eine einheitliche Antidiskriminierungspolitik in Europa verwirklicht werden kann und inwieweit das wünschenswert ist.
Rassismus kann durch unreflektiertes Messen nicht verhindert werden – das zeigt Supiks Buch deutlich. Die Autorin gibt einen Überblick über die Thematik und ermöglicht es den Leser_innen, sich selber zu den unterschiedlichen Ebenen zu positionieren, ohne dabei politische Handlungsanweisungen vorzugeben. Indem im Buch individuelle und kollektive Strategien aufgezeigt werden, die darauf abzielen, sich gegen eine Festschreibung zu wehren, bietet es nichts desto trotz Ansatzpunkte für politisches Handeln. Es wird deutlich, dass ethnisierende Kategorien strategisch nutzbar gemacht werden können, um Diskriminierung zu bekämpfen. Gleichzeitig bedarf es der ständigen Reflexion eben dieser Kategorien in ihrer Wandelbarkeit, da nur diese zeigt, wie sehr sie an spezifische gesellschaftliche Konstellationen gebunden sind.
Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität.
Campus, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3-593-50197-0.
411 Seiten. 39,90 Euro.