Pandemien sind keine Gleichmacherinnen
- Buchautor_innen
- Malte Thießen
- Buchtitel
- Auf Abstand
- Buchuntertitel
- Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie
Eine geschichtswissenschaftliche Einordnung der Corona-Krise zeigt, wie Seuchen bestehende Ungleichheiten verschärfen.
Am 18. April 2020 fand in Berlin ein großer Staatsakt statt. Er war der Trauer über die Zehntausenden bis dahin an den Folgen von Corona Verstorbenen gewidmet. Obwohl die Pandemie bis dahin bereits so viele Tote gefordert hatte, schien das Gedenken auf wenig öffentliche Resonanz zu stoßen. Der Historiker Malte Thießen ist der Ansicht, dies habe mit der unerträglichen Nähe des Geschehens zu tun:
„Erst wenn wir ausreichend Abstand zum Ereignis gewonnen haben, wenn die Pandemie also historisch geworden ist und in Geschichten aufgeht, wird Corona in erinnerungskulturellen Wegmarken aufgehen.“ (S. 182)
Thießen hat nun mit „Auf Abstand“ eine Gesellschaftsgeschichte der Covid-19-Pandemie vorgelegt, deren Manuskript er im Juli 2021 abschloss. Angesichts der Diagnose des Autors lässt sich indes fragen, ob eine historiografische Abhandlung über ein laufendes Ereignis nicht ebenfalls unter zu großer Nähe zum Geschehen leiden muss. Der Autor gesteht zu, dass er als Vergangenheitsforscher möglicherweise ungebührlich in der Gegenwart wandelt, und beansprucht folgerichtig, die Pandemie „in ihrer historischen Dimension“ zu erzählen, „um Distanz zur Gegenwart zu gewinnen“ (S. 11). Mit seiner Vogelperspektive ordnet er Corona am Beispiel Deutschlands durch geschichtliche Kontextualisierungen und Vergleiche als gesellschaftlich-historischen Vorgang ein. Thießen präsentiert seine Ergebnisse in zehn Kapiteln und einem Nachwort, die auf wissenschaftlicher Quellenarbeit basieren, sprachlich aber für ein breiteres Publikum aufbereitet sind.
Keine Naturkatastrophen – Seuchen als soziale Verhältnisse
Die Studie befasst sich also nicht mit dem Virus selbst, sondern mit den zahlreichen Gesellschaftsphänomenen, die mit der Verbreitung von Krankheitserregern zu tun haben. Anhand eines breiten Panoramas unterschiedlicher Aspekte lassen sich historische Wandlungen oder Kontinuitäten im Umgang mit Seuchen zeigen sowie die Art und Weise wie diese auf die Gesellschaft wirken. Das betrifft staatliche Reaktionen, wie etwa Lockdown-Maßnahmen, kulturelle Normen, wie etwa den Stellenwert von Gesundheit, Alltagspraktiken, etwa das „social distancing“, oder politische Protestphänomene wie Impfgegnerschaft, die so alt sind wie das Impfen selbst.
Den meisten der Themenbereiche, die Thießen behandelt, ist gemein, dass sie Phänomene sozialer Ungleichheit betreffen. Ein Beispiel sind die rassistischen Übergriffe auf ‚asiatisch‘ gelesene Personen in Deutschland als vermeintliche Seuchenträger. Der Autor interpretiert das als „Othering“, übersetzbar mit „Zum-Anderen-Machen“. Dabei handelt es sich um ein Prinzip, das Menschen in eine Wir-Gruppe und in „Andere“ einteilt, wobei die „Anderen“ häufig negativ charakterisiert sind. Othering stellt eine wichtige Dimension von Rassismus, Antisemitismus und anderen sozialen Ungleichwertigkeitsideologien dar. Während Pandemien ist Othering, so Thießen, der historische Normalfall. So machte man etwa im 19. Jahrhundert sogenannte „Ostjuden“ für Pockenausbrüche verantwortlich, während AIDS in den 1980ern als vermeintliche „Schwulenseuche“ stigmatisiert wurde. Auf Othering geht es laut Thießen überdies zurück, dass in der frühsten Phase der Covid-19-Pandemie, die in Wuhan begann, man in Deutschland oder anderen europäischen Ländern keine vorsorglich Maßnahmen ergriff. Corona schien zunächst ein Problem „der Anderen“ zu sein. Damit beruhen also nicht nur Ausgrenzungsprozesse auf dem Othering, betont der Autor, es könne auch die Grundlage dafür sein, sich in falscher Sicherheit zu wiegen.
Staatliche Pandemievorbereitungen waren 2020 in der Bundesrepublik keineswegs neu. Krankheitserreger wie SARS, MERS und die Schweinegrippe erinnerten Anfang des Jahrtausends daran, dass auch Deutschland von Seuchen schwer getroffen werden könne und man sich vorbereiten müsse. Historische Beispiele sind nicht nur die Spanische Grippe von 1918/19 und die lange Zeit virulenten Pocken, sondern auch die katastrophale Hongkong-Grippe, die 1969/70 beide deutschen Staaten heimsuchte. Die deutsche Gesellschaft sei inzwischen aber gleichsam Opfer ihrer eigenen medizinischen Erfolge geworden, meint Thießen: Dank Impfungen und medizinischem Fortschritt gelten viele Krankheiten kaum noch als Gefahr.
Eigenverantwortlichkeiten und Ungleichheiten – Pandemie des Neoliberalismus
Bei den Pandemien des 20. Jahrhunderts reagierten Regierungen kaum mit harten und flächendeckenden Gegenmaßnahmen; auch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wurden schwere Infektionskrankheiten als eher normal hingenommen. So galt die hohe Sterblichkeit unter älteren Menschen während der Hongkong-Grippe „letztlich als Kollateralschaden“ (S. 51). In der Coronapandemie seit 2020 setzte sich allerdings eine Sichtweise durch, die beanspruchte, die Gesundheit insbesondere vulnerabler Gruppen zu schützen, also gerade diejenige älterer Menschen. Vielmehr akzeptierten Regierungen „Kollateralschäden“ in der Wirtschaft durch „Lockdowns“ durchaus, obwohl diese freilich hoch umstritten waren, nicht nur wegen der Nachteile für die Wirtschaft, sondern weil sie teilweise demokratische Grundrechte massiv verletzten, etwa das Recht auf Bewegungsfreiheit oder die Versammlungsfreiheit. Das mache, so Thießen, eine neue gesellschaftliche Risikobewertung aus, die teilweise auch auf die Aufwertung älterer Menschen zurückgeht, die seit einigen Jahrzehnten unter anderem als Konsument*innen zunehmend wirtschaftlich an Bedeutung gewonnen haben. Er betont, dass dieser Wandel die Coronapandemie deutlich von den Pandemien des 20. Jahrhunderts unterscheide, wobei man sich als Leser*in hier eine gründlichere Diskussion der Widersprüche zwischen Gesundheitsschutz und Wirtschaftsinteressen im staatlichen Handeln während der Covid-19-Pandemie gewünscht hätte.
Deutlich wird in Thießens Ausführungen hingegen, dass die Pandemieeindämmung auch zur individuell-moralischen Verpflichtung geriet, also eine „allgemein[e] Achtsamkeit“ (S. 53) forderte, die staatliche Maßnahmen ergänzen, wenn nicht teilweise ersetzen sollte. Die Eindämmung wirke sich daher stark auf Alltagspraktiken aus: Maskentragen sowie das laut Autor historisch neue Abstandhalten mit einhergehender Kontaktbeschränkung seien intrinsisch zu erfüllende Aufgaben aller Einzelnen. Dieser Imperativ der Eigenverantwortlichkeit, der also ohne umfassende und strenge Durchsetzung „von oben“ funktioniert, wäre vermutlich leicht auf neoliberale Prinzipien zurückzuführen, auch wenn Thießen diesen Schluss nicht explizit ausformuliert.
Verstärkung sozialer Ungleichheiten
Viel Aufmerksamkeit widmet der Autor gesellschaftlichen Disparitäten, die Corona verschlimmerten und durch Corona schlimmer geworden seien. Die Covid-19-Pandemie zeige nicht nur, dass Seuchen unter ärmlichen und beengten Lebensverhältnissen besser gedeihen. Umgekehrt vertiefen sich bestehende Gräben: Die Pandemiesituation verstärkte beispielsweise die Doppelbelastung von Frauen oder benachteiligte schlecht bezahlte Jobs durch das erhöhte Infektionsrisiko noch stärker als bisher, etwa in Pflege, Einzelhandel und bei Lieferdiensten. Dass trotz ungleicher Möglichkeiten unterschiedslos gleiche eigenverantwortliche Eindämmungsmaßnahmen von den Einzelnen abverlangt würden, kann Thießen zufolge mit dem Soziologen Stephan Lessenich als „‚asoziale[r]‘ Neoliberalismus“ (S. 122) bezeichnet werden. Mithin sind Pandemien keineswegs „große Gleichmacherinnen“ (S. 111), wie das sinngemäß Angela Merkel im März 2020 meinte und sich damit auf einen alten Mythos bezog. Der Autor bringt überzeugend auf den Punkt: „Soziale Ungleichheiten verstärken Seuchen, und Seuchen verstärken soziale Ungleichheiten.“ (S. 117) Insofern, möchte man hinzufügen, steht der Anspruch, verletzliche Gruppen zu schützen, trotz des festgestellten Wandels der Risikobewertung also durchaus in einem Spannungsfeld zur Praxis. „Vulnerabel“ ist offenbar nicht gleich „vulnerabel“.
Thießen ist ein lesenswerter Überblick über eine erste Phase der Coronapandemie gelungen, die zwar gesellschaftskritische Gehalte besitzt, dabei allerdings kaum die Wurzeln der diskutierten Probleme anrührt. „Auf Abstand“ orientiert sich also implizit an einem linksliberalen Mainstream. Das betrifft beispielsweise die zu oberflächliche Behandlung des Widerspruchs zwischen öffentlicher Gesundheit und dem kapitalistischen Verwertungszwang, dem eine Prise materialistische Staatskritik gutgetan hätte. Ebenso vermisst man eine systematischere Einordnung der individualisierten Pandemiebekämpfung in die Epoche neoliberaler Eigenverantwortlichkeit mit der für sie spezifischen Subjektivierungsformen der Gesellschaftsmitglieder, für die ja ebenfalls ein großes theoretisches Instrumentarium – Foucault und andere – vorhanden wäre.
Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie.
Campus Verlag, Frankfurt a. M..
ISBN: 9783593448343.
222 Seiten. 22,99 Euro.