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„Manchmal braucht man keine Lösung, wenn man weiß, dass die Richtung stimmt“

Buchcover mit der Abbildung einer verschwommen Straßenkreuzung, auf der ein Straßenschild zu lesen und in der rechten unteren Ecke eine männliche Person abgebildet ist. Darüber steht in lila "Ein Jude in Neukölln", wobei das Ö als Halbmond und Judenstern geschrieben ist.
Buchautor_innen
Ármin Langer
Buchtitel
Ein Jude in Neukölln
Buchuntertitel
Mein Weg zum Miteinander der Religionen

Ein autobiographischer Essay plädiert für ein geduldiges und beharrliches Gespräch zwischen Jüd_innen und Muslim_innen, um sich keine Feindschaft einreden zu lassen.

Es sieht düster aus für das jüdische Leben in der Bundesrepublik, wenn Verlass auf die öffentliche Darstellung ist. Und der Berliner Bezirk Neukölln ist in vielerlei Hinsicht ein Beispiel dafür. Wer „Neukölln“ sagt, meint: soziale Brennpunkte, Parallelgesellschaften, Großfamilien – und No-go-Areas. Die Umtriebigkeit des ehemaligen Bürgermeisters Buschkowsky (u.a. mit seiner Publikation „Neukölln ist überall“), aber auch die Popularisierung des sogenannten Neuköllner Modells der Jugendrichterin Heisig („Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“, siehe Rezension von Fritz Güde in kritisch-lesen.de Ausgabe 1) haben dem Bezirk schon vor Jahren eine unrühmliche Bekanntheit verschafft, mit der es anno dazumal vielleicht noch Kreuzberg aufnehmen konnte – bis dort alles In-Wert-Setzbare nicht nur irgendwie hübsch, sondern auch „sicher“ gemacht wurde. Neukölln hat Kreuzberg also derweil – trotz „Kottbusser Tor“ und „Görlitzer Park“ – in manchem den Rang abgelaufen. Vor allem, was die Ethnisierung aller Arten von Tristesse angeht.

Neukölln: No-show, No-go?

Ob der Aufenthalt in Neukölln mit einem Risiko für Leib und Leben verbunden sei, beschäftigt seit über zehn Jahren unter anderem das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo. Seit 2006 wird befürchtet, man dürfe sich dort nicht als schwul zeigen, Neukölln wird als „No-show-Area“ bezeichnet. Gemeint ist mit Neukölln dabei nicht der gesamte Stadtteil mit den weit über 300.000 dort lebenden Menschen, sondern der Norden des Bezirks, wo sich diejenigen mit dem ominösen Migrationshintergrund konzentrieren – eine Chiffre für die, die familiär etwas mit der Türkei oder einem arabischen Land zu tun haben.

Nach einem gewalttätigen antisemitischen Übergriff auf ihn im Jahr 2012, sprach auch Rabbiner Daniel Alter von „No-Go-Areas für öffentlich erkennbare Juden“ – unter anderem auch in Teilen von Neukölln, und zwar jenen, in denen es einen „hohen Bevölkerungsanteil an arabischen und türkischen Migranten“ gebe (Geiler 2013). Die Aussagen von Alter, seinerzeit Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und dort zugleich zuständig für interreligiösen Dialog, führten im November 2013 zur Gründung einer jüdisch-muslimischen Gruppe, die seither dem Fokus auf Sicherheit in den Debatten ums Zusammenleben im Bezirk gemeinsame Aktionen entgegensetzt. Die Salaam-Schalom-Initiative betont seitdem: „Muslime und Juden sind keine natürlichen Feinde“ (S. 114), „Muslime und Juden weigern sich, Feinde zu sein!“ (S. 209)

Weite Teile des Buches „Ein Jude in Neukölln“ von Ármin Langer behandeln Geschichte und Kontexte dieses Aktivismus: Wo vermeintlich „muslimisch“ gegen „jüdisch“ kämpft, herrsche zunächst einmal ein „christo-normativer Säkularismus“, der annehme, „auch für religiöse Kulturen außerhalb des Christentums akzeptabel sein und als Norm gelten zu können“ (S. 251). Statt die Rhetorik von „eine[r] Minderheit gegen die andere“ zu bestätigen, setzt Langer, wie auch die Initiative, die er mitgegründet hat, auf das Erkennen von gemeinsamen Erfahrungen. Sowohl von der jüdischen als auch von der muslimischen Minderheit werde das Aufgeben dessen gefordert, was sie zu dem macht, was sie sind:

„Für viele ‚abendländische‘ weiße Menschen mit christlichem Hintergrund und christlicher Sozialisation bedeutet Integration, dass wir, Juden und Muslime, unsere Söhne nicht beschneiden, dass wir unseren Kopf nicht bedecken, dass wir Schwein essen. Sie sprechen zwar von Integration, sie meinen aber Assimilation.“ (S. 245)

Salaam: nur mit Schalom?

Es sind interessanterweise die Parallelen zwischen den Erfahrungen real existierender muslimischer und jüdischer Minderheiten, die im deutschen Diskurs als besonders „anstößig“ empfunden werden. Bereits zu Beginn beschreibt Langer, wieso er das Buch entgegen der anfänglichen Absicht nicht „Muslime sind die neuen Juden“ (S. 12) genannt hat. So kokettiert er zwar mit der Rolle des Enfant terrible, das genau weiß, was durch welche Provokation bei wem ausgelöst wird. Zeitgleich kann man aus den seitenlangen Berichten von eigenen Antisemitismus-Erfahrungen und der Wiedergabe religiöser und geschichtlicher Quellen aber auch das seriöse Bemühen herauslesen, Antworten auf grundlegende Fragen unserer Zeit zu finden. Der Umstand, dass Jüdischsein in der BRD heute verständlicherweise von der Shoa her gedacht wird, führt bei der Parallelisierung von Diskriminierungserfahrungen notwendig zu einer Denk- und Handlungsblockade, mit der bewusst umzugehen ist. Trotz aller Ähnlichkeiten, so Langer,

„können wir nicht davon reden, dass Muslime 1:1 die neuen Juden seien. […] Die Muslime haben keinen Genozid zu befürchten. […] Aber es gibt keinen Grund, die aktuelle Lage der Muslime, Migranten und Geflüchteten auf die leichte Schulter zu nehmen. Es betrifft nämlich diese Mitmenschen, die von Nationalsozialistischen Untergründen in Deutschland ermordet werden. […] Das Wohlergehen deutscher Juden wird von Politik und Medien als Gut höchster Priorität deklariert, in Bezug auf die Situation von Muslimen herrscht hier eine beunruhigende Zurückhaltung.“ (S. 201–209)

Hier sieht Langer nicht nur eine Möglichkeit, sondern geradezu die Verpflichtung für ein sozial und politisch engagiertes Judentum:

Es gibt in Deutschland viele gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, die korrigiert werden müssen […]. In diesem Korrekturprozess könnten wir Juden als Katalysator dienen. […] Solange die jüdische Identität auf der Erinnerung an die Schoa, auf dem Bewusstsein für Antisemitismus und auf der bedingungslosen Unterstützung für den Staat Israel – kurz gesagt: auf der Abwesenheit jüdischen Lebens in Deutschland und Europa – basiert, wird sich das Judentum weiterhin nur um sich kümmern und sich nicht für andere einsetzen.“ (S. 272)

Dabei gebe es eine historisch neue Chance, den Philosemitismus, der mit dem Antisemitismus „Hand in Hand“ (S. 128) gehe, zum Durchbrechen des nichtjüdisch-deutschen Konsenses „Ein guter Jude ist nur ein schwacher, diskriminierter Jude“ (S. 102) zu nutzen. Die erhöhte Sensibilität, die mit der neuen Zugehörigkeit zur dominanten Gruppe einhergeht, bedeute nicht

„dass Hass […] aufhört zu existieren. Zum Mainstream zu gehören, bedeutet aber eine neue Art von Verantwortung, die die Juden früher, als sie nicht einmal Bürgerrechte genossen und von der nicht-jüdischen Gesellschaft isoliert lebten, nie hatten.“ (S. 130)

Reden: am besten miteinander

Immer wieder verlässt der „Jude in Neukölln“ seinen Bezirk. Seine Reflexionen über Jüdischkeit und Identität(spolitik) weisen weit über Berlin hinaus. Zur Standortbestimmung innerhalb der Gesellschaft, wie sie heute und in der Bundesrepublik existiert, zählt bei ihm der interreligiöse Dialog zweifellos dazu. Die Salaam-Schalom-Initiative versteht er als Teil einer globalen Zivilgesellschaft, die es insbesondere in der BRD auszubauen und transnational zu vernetzen gelte. Nicht zuletzt deshalb, weil die Stigmatisierung, gegen die das Engagement zielt, die Staatsgrenzen längst überschritten hat:

„[D]er antimuslimische Rassismus von heute ist ein neues Phänomen, dessen Vertreter die christo-normativen Zustände in Europa verteidigen wollen. Im vereinten Europa wurde der gezielte Hass auf eine Minderheit ebenfalls eine europaweite Angelegenheit.“ (S. 191)

Eigenes Engagement in Neukölln dient Langer als Folie bei der Einschätzung bezirklicher Realitäten, aber auch deutscher und europäischer Politik sowie ausländischer Debatten und Diskurse – allen voran desjenigen Konflikts, der immer wieder in die Verständigung zwischen muslimischen und jüdischen Deutschen und muslimischen und jüdischen Menschen in Deutschland hereinbricht („Nahost-Konflikt“).

Allerdings: Der allzu anekdotische Charakter, der Teile des Buches bestimmt, lässt bisweilen den Eindruck einer Generalabrechnung des Darstellers als einer One-Man-Show entstehen. Wichtiger noch, es fehlt dem Buch entscheidend eine Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Gegenwartsgeschichte, wie sie immer schon auch jenseits des „Establishments“ vorhanden war. Es mag einem Generationenwechsel geschuldet sein, dass die Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinden nach der Wiedervereinigung und vor allem im Nachgang der jüdischen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion – wie sie etwa im Jüdischen Kulturverein Berlin geführt wurden – im aktuellen Verständigungsbemühen nicht erinnert werden. Interkulturelle und interreligiöse Arbeit hat es dort trotzdem schon gegeben.

Angesichts rechtspopulistischer Massenphänomene wie PEGIDA und AfD, bei denen der kontrafaktischen Rede vom „jüdisch-christlichen Abendland“ ein eigenes Gewicht zukommt, ist es aber vielleicht gerade gut, dass mit Langers Buch ein aktuelles Schlaglicht vorliegt, das es gestattet, in Zukunft gesellschaftlich anders zu intervenieren. Die Frage beispielsweise, ob mit der muslimischen Einwanderung das hierzulande vermeintlich überkommene Phänomen Antisemitismus re-importiert werde, wird mit dem Debattenbeitrag von Langer anders als bisher beantwortet werden können.

Es ist streitbar, ob Langers Vorschlag, es möge eine Kultussteuer ähnlich der Kirchensteuer auch für muslimische Gemeinden geben, wirklich praktikabel ist – ein Verfahren oder eine Autorität zur Identifizierung „der“ Muslim_innen existieren nicht. Ob eine in ihrer Zusammensetzung und ihren Glaubenssätzen ausgesprochen heterogene Gruppe so zugerichtet werden sollte, dass sie zum spezifisch deutschen Modell der engen Verzahnung von Staat und Religionsgemeinschaften passt, ist zumindest zweifelhaft. Es wird sich schlicht aber auch weisen müssen, ob Langer selbst der deutschen Debatte erhalten bleiben kann, weil er wegen der Kritik an einer Äußerung des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gedrängt wurde, sein Rabbiner-Studium abzubrechen und es nun vermutlich im Ausland fortsetzen muss.

Was sich aus diesem trotz so mancher flapsigen Formulierung oft sehr ernsten Buch aber sicher lernen lässt, ist die Art und Weise, wie Angehörige von Gruppen, die gegeneinander in Stellung gebracht werden, langfristig und geduldig im Gespräch bleiben können und müssen. Lernen lässt sich hier manchmal auch etwas über das Schweigen:

„Ich hielt meinen Mund, als ein Imam auf einer jüdisch-muslimischen Veranstaltung in seinem zehnminütigen Grußwort neun Minuten lang darüber referierte, wie schön das Leben der Juden in Andalusien unter muslimischen Herrschern gewesen sei. Ich hielt auch meinen Mund, als sich der Rabbi für diese netten Worte beim Imam bedankte und davon erzählte, wie pluralistisch der Staat Israel doch heute sei. […] Ich mache Kompromisse. […] Immerhin, es ist besser als gar kein Austausch.“ (S. 207)

Langer rät zu einem anderen Umgang mit – auch gravierenden – Differenzen:

„Man kann eine Botschaft von oben nach unten schicken (‚Muslime sind antisemitisch, also sollten Juden muslimische Gemeinden meiden‘), oder man kann auf gleicher Augenhöhe mit den Menschen in ihren eigenen Milieus über das Problem reden (‚Es gibt Antisemitismus auch unter euch, und wir könnten gemeinsam eine Strategie für dessen Bekämpfung entwickeln‘).“ (S. 85 f.)

Es ist, trotz der fünfzehnjährigen gesellschaftlichen Debatte darüber, ob es einen besonderen muslimischen Antisemitismus gebe und wenn ja, woher dieser stamme, nach wie vor unklar, wie das Setting für ein Gespräch sein müsste, das es gestattet, menschenfeindliche Lehren, Aussagen und/oder Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe zu kritisieren, ohne sie erneut rassistisch zu stigmatisieren; und zwar vor allem auch dann, wenn es sich, wie in dem von Langer gewählten Beispiel, um eine türkisch-nationalistische Gemeinde handelt, die in der Vergangenheit durch antisemtische, antikurdische und allgemein antimoderne Äußerungen und Aktionsformen aufgefallen ist. Vor diesem Hintergrund ist es fast erfrischend, in einen Satz zusammengefasst zu lesen, wie es nicht geht: „Wer von No-go-Areas spricht, will nicht die einen schützen, sondern vor allem die anderen brandmarken.“ (S. 25)

Zusätzlich verwendete Literatur

Markus Geiler (2013): Antisemitismus ist offener und aggressiver geworden. Jüdische Allgemeine, 08.08.2013. Online einsehbar hier. Matthias Meisner (2016): Zentralratspräsident bestreitet Einflussnahme im Fall Langer. Der Tagesspiegel, 08.04.2016. Online einsehbar hier.

Ármin Langer 2016:
Ein Jude in Neukölln. Mein Weg zum Miteinander der Religionen.
Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-351-03659-1.
304 Seiten. 19,95 Euro.
Zitathinweis: Koray Yılmaz-Günay: „Manchmal braucht man keine Lösung, wenn man weiß, dass die Richtung stimmt“. Erschienen in: Repression und Überwachung. 42/ 2017. URL: https://kritisch-lesen.de/s/wDkph. Abgerufen am: 13. 10. 2024 03:48.

Zum Buch
Ármin Langer 2016:
Ein Jude in Neukölln. Mein Weg zum Miteinander der Religionen.
Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-351-03659-1.
304 Seiten. 19,95 Euro.