Kapitalistischer Imperialismus, Rüstung und „harte Geopolitik“
- Buchautor_innen
- Tobias ten Brink
- Buchtitel
- Geopolitik
- Buchuntertitel
- Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz
Eine lesenswerte Arbeit zur aktuellen Militarisierung der Außenpolitik im globalen Zusammenhang der imperialistischen Staatenkonkurrenz.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung thematisiert Tobias ten Brink den heutigen Stellenwert kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Diverse kapitalismus- und staatstheoretische Ansätze werden kritisch beleuchtet. Auf dieser Grundlage und nicht zuletzt Bezug nehmend auf die marxistische Theorie des Imperialismus erarbeitet ten Brink einen theoretischen Analyserahmen zur Einschätzung der politisch-ökonomischen Entwicklungstendenzen im globalen Maßstab. Einen besonderen, aktuellen Stellenwert besitzen ten Brinks Erkenntnisse über Militarisierung, Rüstung und Rüstungskonkurrenz sowie über die „harte Geopolitik“ in Gestalt von Kriegen.
Die Arbeit von ten Brink stellt die hoffnungsvolle These in Frage, dass mit der Globalisierung ein Prozess der Harmonisierung internationaler Beziehungen einhergeht. Der Erwartung einer „Pazifizierung der Weltgesellschaft“ (Ulrich Beck) wird grundlegend widersprochen. Ten Brink gelangt bei seiner Analyse zum Befund „der fortwährenden Existenz zwischenstaatlicher Konkurrenzverhältnisse, einer militarisierten Außenpolitik und weiterer internationaler, teilweise gewaltsamer Konflikte“ (S. 15).
Das Buch umfasst drei Teile, wovon der erste relativ kurz gerät. Er handelt drei Ansätze der Theoretisierung imperialistischer Phänomene ab – den kritisch-liberalen, den marxistischen und den neo-weberianischen Ansatz – sowie den in der Disziplin der Internationalen Beziehungen gewählten Ansatz des machtpolitischen Realismus beziehungsweise Neo-Realismus. Kurz werden die Defizite und Lücken dieser Erklärungsansätze skizziert: Ihr „Mangel an Komplexität“ sowie die „unpräzise Konzeptualisierung ihrer zentralen Kategorien“ (S. 47).
Der dritte Teil des Buches fasst die geopolitischen Phänomene der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit unter dem Label „Marktliberaler Etatismus“ zusammen. Voraus geht der (zweite) Teil des Buches, in dem ten Brink seinen analytischen Rahmen zur Erklärung von Geopolitik in drei Schritten darstellt. Er entwickelt zunächst seine „Grundlagen einer Kapitalismusanalyse“ und bestimmt dann den „Kapitalismus als global fragmentiertes System in Raum und Zeit“, um schließlich „Weltordnungsphasen und die Periodisierung sozioökonomischer und geopolitischer Kräfteverhältnisse“ herauszuarbeiten.
Geopolitik – der analytische Rahmen
Im ersten Kapitel des zweiten Teils thematisiert der Autor auf abstrakter Ebene folgende Strukturmerkmale des Kapitalismus: (1) die Lohnarbeitsverhältnisse als vertikale Achse kapitalistischer Sozialkonflikte, (2) die Konkurrenzverhältnisse als horizontale Achse kapitalistischer Sozialkonflikte, (3) die Geldverhältnisse und (4) die kapitalistischen Staaten in ihrer jeweiligen Besonderung – also nicht „den“ kapitalistischen Staat als allgemeine Kategorie. Im zweiten Kapitel wird der Kapitalismus als weltweit inter-gesellschaftliches System in Raum und Zeit eingeführt, wobei die allgemein-theoretischen Überlegungen vermehrt durch historisch-zeitdiagnostische Argumente ergänzt werden. Der dritte Schritt mündet ein in die Periodisierung von Phasen der sozioökonomischen und der geopolitisch-staatlichen Kräfteverhältnisse.
Sowohl im zweiten als auch im dritten Kapitel von Teil II des Buches widmen sich einzelne Abschnitte dem Thema der Rüstungskonkurrenz vor dem Hintergrund der Staatenkonkurrenz. Der Autor verweist dabei auf folgenden wichtigen Aspekt:
„Rüstungsgüter werden nur zu einem Teil getauscht; es kommt zur Außerkraftsetzung von Marktregulativen. Die typische Situation für Rüstungskonzerne ist es, für einen einzigen Käufer, den Staat, zu produzieren und dabei die kostenmäßigen Bedingungen zu diktieren“ (S. 131).
Die staatliche Rüstungsproduktion erzeuge „eine kapitalistische Konkurrenzdynamik, die sich auf der geopolitischen Ebene des internationalen Staatensystems ausdrückt. Der Rüstungswettbewerb gehört zu den wichtigsten Komponenten der geopolitischen Konkurrenz“ (ebd.); denn er zielt ab „auf die Steigerung des Machtpotenzials von Einzelstaaten, die Kontrolle von Räumen und/oder auf die Verfügung über Territorien, Produktionsmittel und Menschen“ (ebd.).
Rüstungswesen – Rüstungskonkurrenz – Rüstungskapitalismus
Für ten Brink ist die Analyse des Rüstungswesens „notwendiger Bestandteil einer Theorie des kapitalistischen Imperialismus“ (S. 134). Die Rüstungsproduktion müsse als grundlegender Bestandteil der kapitalistischen Akkumulations- und Krisenprozesse betrachtet werden. Die Außenpolitik von kapitalistischen Staaten könne nur „als eine von Gewalt(-androhung), Militär und Rüstung geprägte“ verstanden werden (S. 135). „Der global-fragmentierte Kapitalismus ist nicht nur eine Produktions- und Konsumweise, er ist auch eine sozialräumliche Beherrschungsweise“ (ebd, Herv. i. O.).
Den Gedanken der Rüstungskonkurrenz nimmt ten Brink an einer späteren Stelle seine Studie erneut auf. Er untersucht dort die ökonomischen Effekte geopolitischer Rüstungskonkurrenz im Kalten Krieg. Der Autor begründet den US-amerikanischen „Rüstungskapitalismus“ (S. 198) nach dem Zweiten Weltkrieg damit, dass es sich bei den Erzeugnissen der Rüstungsindustrie um unproduktive Güter handelt. Die Investition in unproduktiv konsumierte Militärgüter habe zu einem langsameren Wachstum der Wertzusammensetzung geführt, „was ein Grund für relativ stabile Profitraten war“ (S. 199) – Rüstung als Mittel zur Gegensteuerung des Falls der Profitrate.
Die ökonomisch stabilisierenden Effekte der Rüstungsausgaben in den USA seien jedoch seit Ende der 1990er Jahre im Schwinden gewesen. Doch habe sich der Rüstungssektor im Zuge der Wirtschaftskrise 2000/2001 erneut als Mittel der Konjunktursteuerung erwiesen. Ten Brink spricht von einer „Rückbesinnung auf den ‚Militärkeynesianismus’“ (S. 201). Die Rüstungsausgaben hätten nicht nur gesamtwirtschaftliche Nachfrageeffekte bewirkt, sondern darüber hinaus geopolitische Bedeutung erlangt, „insofern ein funktionsfähiger, militärisch potenter Staat als Garant der Stärke in einer instabilen Welt betrachtet wird“ (ebd.).
Den Ost-West-Konflikt wertet der Autor als „Auseinandersetzung zweier kapitalistischer Weltordnungsmodelle“ (S. 202, Herv. i. O.) – des kapitalistischen Westens einerseits und des ‚sozialistischen’ Weltordnungsmodells mit einer „Partei- und Staatsbürokratie als neue herrschende Klasse“ andererseits (S. 203).
„Aus Sicht der UdSSR war der geopolitisch-militärische Wettbewerb zwischen Staaten eine Notwendigkeit, um der Marktkonkurrenz auszuweichen, die wiederum genau diese staatlich dirigierte Ökonomie in Frage stellte“ (S. 208).
Ausgehend von der These, dass der ideologische Ost-West-Konflikt „die Ähnlichkeiten der beiden Imperialismen“ (S. 214) – des östlichen und des westlichen – lediglich verdeckt habe, gelangt der Autor zu dem Fazit, dass der eine Imperialismus dem anderen auf ‚friedliche’ Weise, weil durch ihn ‚totgerüstet’, unterlegen war. Diese Erfahrung habe sich auf dramatische Weise in das kollektive Gedächtnis der Machteliten eingegraben, weswegen heute wieder „der Militarismus als legitimes Mittel der Außenpolitik“ (S. 216) gelte.
Gegenwärtige geopolitische Phänomene des marktliberalen Etatismus
Im abschließenden dritten Teil des Buches interpretiert der Autor die gegenwärtigen geopolitischen Phänomene als Ausdruck eines marktliberalen Etatismus. Zu den betreffenden Phänomenen zählt er die Bedeutung der nationalen Sicherheitsstrategien und die Zunahme von Militärinterventionen, ferner – damit einhergehend – die Legitimationsdiskurse zur Rechtfertigung „des Trends in Richtung der Militarisierung der Außenpolitik“ (S. 228) und „die Aushöhlung demokratischer Standards“ (S. 229, Herv. i. O.). Innerhalb Europas und insbesondere Deutschlands werde der Kriegsbegriff zwar vermieden. Aber dies sei „nicht in erster Linie als Ausdruck antimilitaristischer Grundhaltungen in der Politik zu lesen“ (S. 227), sondern es diene vielmehr umgekehrt „der Enttabuisierung kriegerischer Handlungen“ (ebd.).
Im Schluss-Abschnitt von Teil III bewertet das Buch die geopolitischen Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Konflikte zwischen den mächtigsten Industriegesellschaften. Bewertet wird der Anspruch des „amerikanischen Imperiums“ (S. 237) im Verhältnis zu Russland, zur EU (S. 243 f.) und zu China (S. 249 f.). Abschließend muss ten Brink allerdings offen lassen, „ob die gegenwärtige weltweite, kooperativ-konfliktive Konstellation zukünftig im Rahmen einer amerikanischen Weltordnungspolitik stabil gehalten bzw. stabilisiert werden kann“ (S. 270).
Das Buch von ten Brink ist die überarbeitete und gekürzte Fassung seiner Dissertation am Frankfurter Institut für Sozialforschung, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung des DGB. Gutachter waren Joachim Hirsch (Politikwissenschaftler), Boy Lüthje (Soziologe) und Bob Jessop (Ökonom). Die Gutachter-Palette macht anschaulich, dass sich die Arbeit Tobias ten Brinks nicht innerhalb einzelwissenschaftlicher Schranken bewegt. Das ist einerseits von Vorteil und macht die Lektüre spannend. Andererseits aber mäandert die Studie stellenweise (nicht untypisch für eine Dissertation!), und die Lektüre gestaltet sich dann entsprechend langatmig.
Frieden schaffen ohne Waffen?
Die Arbeit ist trotzdem immens lesenswert, um die aktuelle Militarisierung der Außenpolitik – nicht zuletzt in Deutschland – deutlicher wahrzunehmen und im globalen Zusammenhang der imperialistischen Staatenkonkurrenz bewerten zu können. Damit ist zugleich aber auch eine Beschränkung der vorgelegten Analyse benannt: Sie nährt „wissenschaftlich“ einen Fatalismus, der antimilitaristische und pazifistische Bestrebungen untergräbt oder zu konterkarieren droht. Die Lesenden wissen nach der Lektüre zwar besser Bescheid, um nicht getäuscht zu werden von den Friedens- und Sicherheitsversprechen der Regierenden, die damit den Neo-Militarismus und Krieg rechtfertigen. Aber wissen sie auch, was zu tun ist, um erfolgreich Frieden zu schaffen ohne Waffen?
Hier macht sich bemerkbar, dass ten Brink es versäumt hat, den titelgebenden Terminus „Geopolitik“ zu hinterfragen. Indem er Geopolitik als erweiterten Begriff von Imperialismus fasst, macht er ihn für jene Diskurse hoffähig, die eine Nähe zu den Arbeiten des Geopolitik-Wissenschaftlers Karl Haushofer (1869-1946) aufweisen. Die imperialen Züge im Werk Haushofers und die Instrumentalisierung seiner Schriften für „lebensraumschaffende Vernichtungskriege“ würden es nahe legen, bei der Verwendung des Begriffs mehr Sorgfalt und begriffsgeschichtliche Sensibilität walten zu lassen.
Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz.
Westfälisches Dampfboot, Münster.
ISBN: 978-3-89691-123-0.
307 Seiten. 27,90 Euro.