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Intersektionalität – ja, nein, vielleicht?

Buchautor_innen
Forum Marxistische Erneuerung e.V. / IMSF e.V.
Buchtitel
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
Buchuntertitel
Kritik des Intersektionalismus

Eine Kritik an der politischen Agenda der Intersektionalität stellt auch das Konzept selbst in Frage.

Entlang des Konzepts der „Intersektionalität“ haben sich Spaltungslinien gebildet, die in der Linken derzeit immer weiter aufzubrechen scheinen. Hauptstreitpunkt ist die Frage, ob politisch und analytisch von einer Vorrangstellung der Strukturkategorie Klasse ausgegangen werden kann, wodurch Rassismus oder Sexismus in Wechselwirkung mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden müssen. Vertreter*innen intersektionaler Ansätze fordern hingegen, kapitalistische Gesellschaften als Ansammlung unterschiedlicher Ungleichheitsverhältnisse zu verstehen. Demnach können theoretisch unendliche Kombinationen sozialer Faktoren (Geschlecht, Herkunft, Alter etc.), die prinzipiell nicht hierarchisierbar sind, zur De-Privilegierung von Individuen und Gruppen führen. Klasse wäre dann nur eine Ungleichheitsdimension unter vielen. Die aktuelle Ausgabe der Z. Zeitschrift für Marxistische Erneuerung kritisiert den politischen und analytischen Gehalt intersektionaler Ansätze. 1989 gegründet, versteht sich die Zeitschrift als ein kritisches Projekt zur kontinuierlichen Entwicklung der marxistischen Theorietradition und Debatte.

Von Intersektionalität zur Kritik des ‚Intersektionalismus‘

Dass im Titel von dem eher unüblichen Begriff des Intersektionalismus gesprochen wird, deutet an, dass die Kritik hier vordergründig auf politischer Ebene ansetzt. Die Autor*innen sind sich einig, dass der klassenspezifischen Strukturierung der Gesellschaft durch die kapitalistische Produktionsweise theoretisch und politisch weiterhin besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Intersektionalität, die scheinbar von einer Gleichrangigkeit verschiedener Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse ausgeht, verkenne demgegenüber die besondere Bedeutung kapitalistischer Klassenverhältnisse. Der Einstiegstext von John Lütten, Christin Bernhold und Felix Eckert führt in die Entstehung und die Grundgedanken intersektionaler Ansätze ein. An der davon abgeleiteten politischen Agenda kritisieren sie die unzureichende analytische Auseinandersetzung mit den Ursachen komplexer Ungleichheitsverhältnisse. Intersektionale Ansätze würden demnach vor allem beschreibend wirken. Damit hat Intersektionalismus weder eine Antwort auf das Warum sozialer Ungleichheiten, noch wird klar, welcher Zusammenhang zwischen Identität und politischem Bewusstsein besteht. Victor Wallis plädiert in seinem Beitrag dafür, Klasse wieder stärker in das Zentrum politischer Kämpfe zu rücken. Wallis zufolge kann Klasse politisch eine verbindende Funktion erfüllen, die in gegenwärtig fragmentierten Gesellschaften zur Bündnisbildung beitragen kann. Im Rahmen ihrer Diskussion über den analytischen Gehalt der Debatte um Klassismus kritisieren Lena Hezel und Steffen Güßmann das Fehlen einer klassenanalytischen Betrachtung aufbauend auf der Ausbeutung von Arbeit. Der Interessenswiderspruch zwischen Kapitalist*innen und Arbeiter*innen, so Hezel und Güßmann, kann dabei nicht nur Formen der Diskriminierung basierend auf der Klasse von Individuen und Gruppen einfangen, sondern zudem Erklärungsansätze für deren Ursache liefern. Ein wichtiges Argument, das in dem Text von Yuri Prasad und Esme Choonara zur Privilegientheorie im Hinblick auf rassistische Diskriminierung angeführt wird, verweist darauf, dass Rassismus der herrschenden Klasse als Hebel der Spaltung der beherrschten Klassen dienen kann. Es müsse demnach politisch darum gehen, Rassismus immer auch in seiner materiellen Dimension zu untersuchen, statt die Hauptkonfliktachse zwischen privilegierten und weniger privilegierten Angehörigen der beherrschten Klasse zu sehen. Eleonora R. Mendívil und Bafta Sarbo ergänzen dieses Argument um eine Kritik an der Konzentration auf die Subjektebene. Rassismus erscheint in intersektionalen Ansätzen häufig in Form von individuellen Praxen und Diskursen, wodurch es an einer gesellschaftlichen Kontextualisierung von Rassismus mangele. Fragen wie jene nach der Überausbeutung migrantischer Arbeitskraft geraten so aus dem Blickfeld. Martha E. Gimenez sowie Kim Lucht und Margareta Steinrücke setzen intersektionalen Perspektiven auf Geschlecht materialistisch-feministische Ansätze entgegen, die darlegen, wie Klasse und Geschlecht in kapitalistischen Gesellschaften zusammenwirken. Der Ansatz der sozialen Reproduktion und der Begriff des Klassengeschlechts können dabei die Ungleichbehandlung von Frauen in kapitalistischen Gesellschaften erklären, ohne bei einer Formkritik ihrer Diskriminierung stehen bleiben zu müssen. Damit bleibt gegenüber intersektionalen Konzepten die gesellschaftlich strukturierende Bedeutung der kapitalistischen Produktionsweise analytisch erhalten. Der Vergeschlechtlichungsprozess muss demnach in Abhängigkeit von den vorherrschenden Klassenverhältnissen verstanden werden. Zuletzt setzt sich Christian Stache mit Ashley J. Bohrers Versuch einer Versöhnung marxistischer und intersektionaler Ansätze auseinander. Bohrer wirft er nicht nur eine unsaubere Lektüre marxistischer Klassiker vor. Auch konzeptionelle Schwächen und Widersprüche ihres Denkens werden kritisiert, die scheinbar aus Bohrers Weigerung resultieren, den sozioökonomischen Widerspruch kapitalistischer Gesellschaften als das grundlegend strukturierende soziale Verhältnis im Kapitalismus herauszustellen.

Marxistische Klassenanalyse als kritische Intervention

An der Kritik des politischen Programms intersektionaler Ansätze ist grundsätzlich nichts einzuwenden, da es darum geht, für eine klassenpolitische Rückbesinnung linker Politik zu werben. Das ist deshalb von Bedeutung, da die „Wiederentdeckung“ der Klasse in den letzten Jahren dazu tendierte, Klassenverhältnisse vor allem in Form von klassistischer Diskriminierung anzugreifen. Ähnliches gilt auch für die Auseinandersetzung mit Rassismus oder Geschlechterverhältnissen. Wird beispielsweise ausschließlich kritisiert, dass Frauen oder People of Colour in Unternehmen weniger häufig in Führungspositionen zu finden sind, bleibt die Frage unbearbeitet, wie und warum Millionen von Arbeiter*innen im „Globalen Süden“ systematisch überausgebeutet werden können, wodurch Konzerne wie Nestle oder H&M Milliarden machen. Die Z. setzt damit wichtige Impulse für eine Auseinandersetzung mit Klassenverhältnissen auf Höhe der Zeit. Indem die Autor*innen gegen die Formkritik vieler intersektionaler Ansätze argumentieren und deren politische Schwäche enthüllen, bilden sie eine wichtige Intervention in linke Debatten. Der Themenschwerpunkt zeigt dabei, dass eine Relektüre Marx‘ und daran anknüpfender feministischer und anti-rassistischer Arbeiten lohnenswert ist, um ein kritisches Verständnis von Ungleichheit und Unterdrückung in kapitalistischen Gesellschaften entwickeln zu können.

Eindeutige Antworten auf ein heterogenes Debattenfeld?

An einzelnen Beiträgen wäre jedoch zu bemängeln, dass sie ungenau argumentieren. Zwar liegt der Schwerpunkt der Kritik auf der politischen Agenda, die häufig mit Intersektionalität in Verbindung gebracht wird, dennoch kritisieren die Autor*innen immer wieder auch das theoretische Fundament intersektionaler Ansätze. Dabei wird das Debattenfeld zum Teil grobschlächtig rezipiert. Tatsächlich verbirgt sich hinter Intersektionalität eine vielfältigere Diskussion als hier der Anschein erweckt wird. Es stellt sich eher die Frage, ob es sinnvoll ist, von der Intersektionalität zu sprechen. Ein pragmatischerer Umgang mit intersektionalen Perspektiven, der im Kern anschlussfähig an marxistische Zugänge zu sozialer Ungleichheit bleibt, könnte das Konzept stattdessen als Werkzeug begreifen, um verschiedene Ungleichheitsdimensionen, wie sie in kapitalistischen Gesellschaften neben jenen der Klassenverhältnisse vorkommen, zutage zu fördern. Natürlich muss diskutiert werden, ob dafür tatsächlich eine intersektionale Perspektive notwendig ist, da der Themenschwerpunkt zeigt, dass sich in klassischen marxistischen Texten Erklärungsansätze für Fragen finden lassen, die intersektionale Ansätze noch immer als ungelöste Probleme der sozialen Ungleichheitsforschung identifizieren. Währenddessen es innerhalb intersektionaler Diskussionen durchaus lange einen post-strukturalistischen Überhang gab – das heißt, einen Fokus auf die Kritik diskursiver Praxen und Kategorien, die Diskriminierungen und Ausgrenzung vermeintlich ursprünglich hervorbringen und reproduzieren – bleiben Ansätze, die gesellschaftliche Strukturkategorien betonen und dabei nicht selten auch die besondere Bedeutung von Klassenverhältnissen hervorheben, unterrepräsentiert. Auch die Frage nach der sozialen Eigenlogik von Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen, die zwar in letzter, aber nicht zwangsläufig in erster Instanz auf die ökonomischen Bedingungen kapitalistischer Gesellschaften zurückzuführen sind, wird nicht endgültig geklärt. Für weniger geschulte Marxist*innen und Vertreter*innen intersektionaler Politik wäre dies wichtig, um die behauptete Sonderstellung der Klasse nachvollziehen zu können.

Intersektionalismus und Intersektionalität überwinden – ja, nein, vielleicht?

Immer wieder wird bekundet, dass das Anliegen intersektionaler Ansätze generell begrüßenswert ist – dies ist richtig und wichtig. Ein Diskussionsbeitrag, der sich mit der Möglichkeit einer sinnvollen Versöhnung zwischen Marxismus und Intersektionalität bemüht, fehlt jedoch. Es ist nicht gesagt, dass hierfür die besondere Rolle von Klassenverhältnissen überdacht werden muss. Stattdessen wäre zu überlegen, ob Marxist*innen nicht intensiver mit intersektionalen Ansätzen in Dialog treten sollten, die gesellschaftliche Großkategorien anerkennen und Klasse analytisch gesondert behandeln, statt jene Kritik zu wiederholen, die mittlerweile auch in der Intersektionalitätsdebatte angekommen ist. Ein solches Vorgehen kann zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass Intersektionalität gesellschaftstheoretische Lücken aufweist, Antworten auf Fragen, wie nach der kausalen Logik verflochtener Unterdrückungsdynamiken offenlässt und politisch häufig der Status Quo bestehender Herrschaftsverhältnisse nicht grundlegend in Frage gestellt wird. Eine Annäherung zwischen marxistischen und intersektionalen Ansätzen könnte der marxistischen Theorietradition jedoch dabei helfen, Strohmänner gegen den Marxismus (wie jenem Vorwurf des Ökonomismus) zu überwinden und offener über politische Versäumnisse auf beiden Seiten zu beraten.

Forum Marxistische Erneuerung e.V. / IMSF e.V. 2021:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Kritik des Intersektionalismus.
ISBN: Z. Nr. 126, Juni 2021.
10,00 Euro.
Zitathinweis: Luca Pietsch: Intersektionalität – ja, nein, vielleicht? Erschienen in: Gegenöffentlichkeit in Bewegung. 60/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/s/AtmfQ. Abgerufen am: 23. 11. 2024 09:01.

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Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Kritik des Intersektionalismus.
ISBN: Z. Nr. 126, Juni 2021.
10,00 Euro.