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Die Narmada-Staudämme und der Widerstand dagegen

Das Cover zeigt oben eine Fläche
mit Wasser, einen grün umgebenen Flusslauf. Unten ein weiteres Bild mit vielen jubelnden Menschen, ärmlich gekleidet, im Hintergrund ein hölzernes Dach aus Ästen. In weißen Lettern auf lila Hintergrund stehen in der Mitte Titel und Autor.
Buchautor_innen
Ulrike Bürger
Buchtitel
Staudamm oder Leben!
Buchuntertitel
Indien: Der Widerstand an der Narmada
Staudammprojekte sorgen aufgrund ihrer ökologischen und menschenrechtlichen Konsequenzen immer wieder für Aufsehen und Kritik. Ulrike Bürger beschreibt, wie sich an der Narmada in Indien eine beeindruckende Widerstandsbewegung organisiert.

Wenn trotz schwierigster Bedingungen und erdrückender Übermacht des Staates Basisbewegungen bemerkenswerte Teilerfolge erringen, sollte dies nicht nur eine Meldung in den Tageszeitungen wert sein, sondern genauer unter die Lupe genommen werden. Der gewaltfreie Widerstand gegen die 30 Großstaudämme an der Narmada in Indien ist so ein Fall.

In ihrem Kampf gegen diese Großprojekte griffen im August 2012 insgesamt 51 Vertriebene zu einer sehr ungewöhnlichen Aktionsform. Sie verharrten bis zum Hals im langsam ansteigenden Wasser des Staudamms und kündigten in einem dramatischen Appell ihren Widerstand notfalls bis zum Ertrinken (drown-satyagraha) an. Begleitet von zahlreichen Solidaritätsaktionen konnten die AktivistInnen nach 16 Tagen als Zugeständnis am 10. 9. 2012 die Zusage erreichen, dass der Wasserspiegel des Stausees gesenkt wird, die Vertriebenen Ersatzland erhalten und weitere Forderungen geprüft werden.

Staudämme und ihre Folgen

Hinter diesem Staudammbau verbirgt sich der größte Landraub an indigenem Land seit vielen Jahrhunderten. Insgesamt werden in Indien 60 Millionen Menschen durch den Abbau von Bodenschätzen und neue Bauprojekte vertrieben. Durch zahlreiche neu ausgewiesene Sonderwirtschaftszonen werden ganze Landstriche für das Kapital zugerichtet und bestehende Schutzrechte für die örtliche Bevölkerung außer Kraft gesetzt. Die Konzerne haben freie Hand, denn der Staat setzt die Enteignung von Gemeinschaftseigentum mit Gewalt durch. Die Firma Voith Siemens ist im Fall Narmada Nutznießer an den Vertreibungen. An den 30 Großstaudämmen entlang des 1300 Kilometer langen Fluss Narmada sind insgesamt 25 Millionen Menschen von den Auswirkungen betroffen. Von ihrem Kampf handelt das Buch „Staudamm oder Leben!“ von Ulrike Bürger.

Im Vorwort beschreibt Lou Marin, wie im Namen einer fragwürdigen Entwicklungspolitik in vielen Ländern Megastaudämme und menschen- und naturfeindliche Industrieprojekte als „fortschrittlich und progressiv“ angepriesen werden, um sie besser durchsetzen zu können. Bereits kurz nach der Unabhängigkeit Indiens sprach der erste indische Premierminister Nehru in seiner Zukunftsvision von den Großstaudämmen als den „Tempeln des modernen Indien“. Im Gegensatz zu diesem von kapitalistischen Interessen geprägten Entwicklungsweg setzt sich seit den 1970er Jahren die Alternativbewegung für einen vollständig anderen menschengemäßen und ökologisch verträglichen Weg ein.

Die Autorin Ulrike Bürger hat in den letzten Jahren die Narmadaregion mehrmals besucht und viele Gespräche mit Widerstandleistenden geführt, um sich ein Bild über die Lage an den Staudämmen zu machen. Als Erstes analysiert sie im Buch den eurozentristischen, die herrschenden Zustände verschleiernden Begriff der „Entwicklung“ am Beispiel Indiens. Die unverbrieften traditionellen Landnutzungsrechte wurden zu Gunsten der Privatisierung von Land zurückgedrängt. Durch die Kommerzialisierung von Ressourcen wird die Lebensweise von bestehenden Gemeinschaften zerstört. Großstaudämme sollen Wasser für die industriell betriebene Landwirtschaft und die Industrie bereitstellen, Strom erzeugen und die Fluten regeln. Die großtechnische „Umformung von Ökosystemen in Produktionsmaschinen“ (S. 38) bewirkt eine Zentralisierung von Gemeinschaftsgütern in den Händen weniger Konzerne.

Ulrike Bürger stellt in diesem Buch detailliert dar, mit welcher Wucht und Konsequenz der Bau von Staudämmen in das bisher noch komplexe und recht ausgewogene Beziehungsgeflecht zwischen Natur und einheimischer Bevölkerung eingreift. Der von Überflutung bedrohte Wald dient als Quelle für Brennholz, Baumaterialien, medizinisch genutzte Wurzeln und Kräuter, für Gemüseanbau und Viehweiden. Die bisherigen Fischgründe sind ebenso bedroht wie der Sandabbau des Schwemmlandes. Kein Wunder, dass die Narmada nicht nur als eine große wirtschaftliche, sondern auch als spirituelle Lebensader angesehen wird. Der von Ost nach West quer durch Indien fließende Fluss wurde schon im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als „Mittellinie der Erde“ bezeichnet.

Facetten des Widerstands

Die herrschende indische Politik stellt den Staudammbau als anzustrebenden Entwicklungsschritt dar. Die Protestierenden werden demgegenüber als rückschrittlich und primitiv bezeichnet und ausgegrenzt. Die AnwohnerInnen der Narmada begreifen ihre Lebensweise jedoch keineswegs als rückständig, sondern pfeifen auf diese Art der Entwicklung, weil sie genau wissen, dass sie am Ende der geplanten Maßnahmen ihr selbstbestimmtes, autarkes Leben verlieren und fremdbestimmt werden: „Wasser kommt aus Leitungen, die Medizin in Tablettenform und das Licht durch Kabel. Wir müssen Viehfutter kaufen. Alles hängt von irgend jemand anderem ab. Alles muss bezahlt werden.“ (S. 83)

In diesem Buch wird nicht nur auf die prekäre Lage der Adivasi (Indigene) in der Maheshwar-Region eingegangen, sondern es wird auch die Situation der hinduistischen Mehrheit am geplanten Maan-Staudamm dargestellt. Während bei den Adivasi egalitäre Strukturen, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Eigentumsformen und substantielle Frauenrechte vorzufinden sind, spielt in der Maheshwar-Region das hierarchische hinduistische Kastensystem eine große Rolle. Hier mussten Frauen zum Beispiel erst noch das Schleierablegen und das Recht auf Fahrradfahren durchsetzen. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Situation der AnwohnerInnen, besserer Infrastruktur und des Zugangs zu modernen Kommunikationsmitteln, konnte der Widerstand gegen den Staudamm hier allerdings auch andere Vorteile nutzen.

Ausführlich untersucht wird in dem Buch die Organisation Narmada Bachao Andolan (NBA), die explizit gewaltfreien Widerstand leistet. Trotz brutaler Repression des Staates setzt sie auf zivilen Ungehorsam und nicht auf die brachial-militaristischen Methoden der maoistischen Naxaliten, wie sie etwa von der marxistischen Tageszeitung junge Welt bejubelt werden. Bemerkenswert ist bei dieser breitgefächerten gewaltfreien Bewegung ebenfalls ihr Grundsatz, nicht mit den von Eigeninteressen und Machtkalkül geleiteten politischen Parteien zu kooperieren. Die seit 1988 bestehende sozialpolitisch engagierte Widerstandsorganisation hat bisher 14 Schulen aufgebaut. Innerhalb des Widerstands wird versucht soziale Gleichheit zu leben, Hierarchie und Barrieren abzubauen und eine Kultur der Solidarität aufzubauen.

Immer wieder wurden in den letzten 25 Jahren Teilerfolge errungen, indem der Staudammbau unterbrochen oder Korrekturen am Verlauf der Überschwemmung vorgenommen werden mussten. Besonders wichtig war der Einsatz für eine angemessene Entschädigung, die nicht durch schnell verbrauchtes Bargeld, sondern durch die Bereitstellung von existenzsicherndem Land stattfinden sollte.

Einen besonders wichtigen Akzent setzt im Nachwort Shankar Narayan, indem er die brutale staatliche Gewalt sowie die Begeisterung und Mittäterschaft der aufstrebenden indischen Mittelschicht bei der Durchsetzung der Industrieprojekte anprangert. Diese setzen eine „Kette destruktiver Prozesse“ (S. 168) in Gang, die eine tödliche Bedrohung für die Adivasis darstellt. Er kritisiert, dass ein Großteil der Linken inkonsequent ist und keinen Rückbau beziehungsweise Abbau der Städte und des industriellen Komplexes fordert:

„Wie kann man nur eine Infrastruktur mit ihren Straßen und Kraftwerken und Institutionen wie moderne Schulen, Hochschulen und moderne Universitäten ohne industrielle Prozesse wollen? Wie kann man Städte mit so vielen Gebäuden wollen, Straßen, motorisierten Transport, Elektrizität und fließendem Wasser usw., die alle auf der Ausbeutung, dem Abbau und dem Transport von Ressourcen von außerhalb der Städte, aus den ländlichen Regionen und den Wäldern basieren? Und die nichts anderes als Zerstörung außerhalb der Städte bedeuten!“ (S. 169)

Indem er diese zugegebenermaßen sehr weitgehenden und grundsätzlichen Fragen aufwirft, regt er zur Diskussion darüber an, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen könnte. Und er wirft selbstverständlich weitere Fragen nach der Realitätstauglichkeit dieser Vorstellungen auf – oder ob bestimmte Zwischenschritte oder vorläufige Kompromisse teilweise Abhilfe schaffen könnten.

Zum Abschluss dieses sehr lesenswerten Buches wird die Gesamtentwicklung des Konfliktes noch einmal in einer zehnseitigen Chronik übersichtlich dargestellt. 30 Schwarz-Weiß-Fotos und ein umfangreicher Anhang mit Hinweisen, Glossar und Literaturverzeichnis laden zusätzlich zur vertiefenden Auseinandersetzung mit diesem Thema ein.

Ulrike Bürger 2011:
Staudamm oder Leben! Indien: Der Widerstand an der Narmada.
Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim.
ISBN: 978-3-939045-15-1.
222 Seiten. 14,90 Euro.
Zitathinweis: Horst Blume: Die Narmada-Staudämme und der Widerstand dagegen. Erschienen in: Ökologie und Aktivismus. 22/ 2012, Klima Katastrophe Kapitalismus. 62/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1065. Abgerufen am: 20. 04. 2024 10:38.

Zum Buch
Ulrike Bürger 2011:
Staudamm oder Leben! Indien: Der Widerstand an der Narmada.
Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim.
ISBN: 978-3-939045-15-1.
222 Seiten. 14,90 Euro.