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Die menschliche Seite der Dekonstruktion

Buchautor_innen
Benoît Peeters
Buchtitel
Jacques Derrida
Buchuntertitel
Eine Biographie

Benoît Peeters würdigt den Philosophen Jacques Derrida in einer großartigen Biographie.

Jacques Derrida hat es seiner Leserschaft wahrlich nicht leicht gemacht, und dies liegt nicht nur an dessen komplizierter Schreibweise. Als enorm produktiver Autor, der Zeit seines Lebens mehr als 80 Bücher und unzählige Aufsätze veröffentlichte, fällt eine Orientierung in Derridas Gedankengebäude allein schon ob der Masse an in Frage kommenden Texten schwer. Wer etwas über das Leben des Philosophen erfahren wollte, musste allerdings schon etwas genauer suchen, eine erschöpfende Biographie existierte bislang nicht. Das aus dem Französischen übersetzte Portrait von Benoit Peeters über den berühmten und zu den meistzitierten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählenden Denker aus Algerien füllt jetzt diese Lücke.

Das voluminöse Buch liest sich packend wie ein Roman, denn Peeters versteht es, die intellektuellen Milieus Frankreichs und der USA, in denen sich Derrida ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bewegte, auf äußerst anschauliche Weise zu vergegenwärtigen. Neben den veröffentlichten Schriften Derridas macht der Biograph dafür umfänglichen Gebrauch von der unveröffentlichten privaten Korrespondenz, die im Nachlass des Philosophen am Institut mémoires contemporaine (IMEC) in Paris und an der University of California, Irvine archiviert sind. Peeters hat zudem mit vielen Weggefährten gesprochen, die auch einen Blick auf die Privatperson Derrida erlauben. Dabei zeichnet er den Lebensweg Derridas chronologisch nach und widmet einen beträchtlichen Teil des Buches dessen Jugendjahren. Denn obwohl diese Zeit Derrida in vielerlei Hinsicht prägte, war über den jungen Philosophen bisher wenig bekannt.

1930 in El-Biar, einem Vorort von Algier geboren, bekommt Derrida als Jude während des Zweiten Weltkrieges den antisemitischen Eifer der algerischen Behörden zu spüren. Der Prozentsatz jüdischer Schüler in algerischen Schulklassen wird 1942 von 14 auf 7 Prozent gesenkt, wovon auch Derrida betroffen ist. Er wird aus der Oberstufenklasse der Schule Ben Aknoun relegiert. Dieses Erlebnis bezeichnet Derrida im Rückblick als Zäsur. Sein späterer Einsatz für politisch Verfolgte und das Eintreten für marginalisierte Gruppen, seine berühmte Hommage an Nelson Mandela oder seine Unterstützung papierloser ImmigrantInnen finden eine mögliche Erklärung in dieser frühen traumatischen Erfahrung von Exklusion. Im weiteren Verlauf seiner akademischen Ausbildung und sogar später als berufener Professor sollte Derrida zeitlebens zu den elitären Institutionen des französischen Schul- und Universitätssystems ein distanziertes Verhältnis wahren. An der École Normale Superieure, scheiterte er beim ersten Anlauf am concours, dem extrem selektiven und höchst eigenwilligen akademischen Gepflogenheiten gehorchenden Eingangstest. Und auch, als er bereits ein international stark rezipierter Autor war, blieb ihm der Zugang zum renommierten College de France, an dem Denker wie Roland Barthes oder Michel Foucault lehrten, verwehrt. Die mitunter recht willkürlichen Auswahlkriterien, die über die Aufnahme oder Ablehnung an einer der Grands Ecoles entschieden, und an denen selbst brillante Köpfe mitunter scheiterten, sah Derrida äußerst kritisch. So ist sein Engagement für eine Demokratisierung des französischen Universitätssystems durchaus konsequent. Mit vielen namhaften Intellektuellen wie Michel Foucault oder Gilles Deleuze ist Derrida in den 1970er Jahren an den Planungen für die Reformuniversität Vincennes in Paris beteiligt, und seine Reflexionen münden später in das Buch „Die unbedingte Universität“ ein. Es ist bemerkenswert, dass Derrida wissenschaftliche Anerkennung in Form von Berufungen auf prestigeträchtige Lehrstühle in Frankreich versagt blieb, er diese jedoch in den USA erhielt. Seit den 1970er Jahren lehrte er an der angesehenen Hochschule Johns-Hopkins University in Baltimore und gewann aus dieser Zeit viele Eleven, die sein Werk bekannt machten. Dies ist auch einer der Gründe für die enorme Resonanz von Derridas Schriften in den USA.

(Un-)seriöse Dekonstruktion

Die breite öffentliche Anerkennung von Derrida als Philosoph von Gewicht geschieht 1967 mit einem Paukenschlag, denn in diesem Jahr veröffentlicht er zwei Aufsatzsammlungen, die ihn auch außerhalb eingeweihter Philosophiezirkel bekannt machen: „Grammatologie“ sowie „Die Schrift und die Differenz“. Diese beiden Bücher sind äußerst dichte Lektüren von Klassikern der Philosophie- und Geistesgeschichte, von Platon über Rousseau, Hegel, Freud bis zu Foucault, in denen Derrida eine erste Kostprobe der Dekonstruktion gibt. Die Dekonstruktion ist bei Derrida eine philosophische Operation, die nicht zuletzt von einer originellen Rezeption des Heideggerschen Oeuvre inspiriert ist, dessen Begriff der Destruktion er aufgreift und ihn neu interpretiert. Die Dekonstruktion führt Derrida in seinen ersten Publikationen als eine Form der Lektüre ein, die die Widersprüchlichkeit eines Textes freizulegen sucht, ohne diese Spannungen und Antinomien in einer hegelianischen Logik aufzulösen. Vielmehr erkennt der Autor der „Differance“ im Verharren in dieser Uneindeutigkeit und Ambivalenz bereits ein produktives Moment. Die Skepsis oder gar volle Ablehnung der Dekonstruktion durch große Teile der institutionellen Philosophie, die andererseits bei vielen LeserInnen auch für die enthusiastische Aufnahme seines Denkens sorgte, war die Aufdeckung von scheinbar nebensächlichen Details eines Textes, der Betonung von Mehrdeutigkeiten bestimmter Wörter. Seine Schriften aus den späten 1960er und 1970er Jahren sind dabei noch klar der Fachrichtung Philosophie zuzuordnen. Derridas in den 1980er Jahren verfasste Bücher wie etwa „Die Postkarte“ wenden sich jedoch mehr und mehr von einem klassischen philosophischen Duktus ab. Diese Texte bewegen sich im Stil zwischen autobiografischen Aufzeichnungen und Roman, wobei nie ganz deutlich wird, ob die Leserschaft es gerade mit einer Rekonstruktion realer Ereignisse in Form eines Tagebuch-eintrages zu tun hat, oder nicht vielmehr fiktive Begebenheiten erzählt werden.

Diese Uneindeutigkeit der Texte Derridas machten sie in vielen Philosophiefachbereichen zu einer Provokation. Junge Forscher, die ihre Qualifikationsarbeiten mit theoretischen Anleihen bei Derrida unterfütterten, gingen ein nicht unerhebliches Risiko ein, dafür mit schlechteren Noten sanktioniert zu werden oder gar durchzufallen, galt die Dekonstruktion doch, besonders in der auf klare Aussagen und eindeutige Sprache abzielenden Analytischen Philosophie als Obskurantismus und Pseudowissenschaft. Wie umstritten Derrida war, ist auch ablesbar an der Kontroverse um die Verleihung der Ehrendoktorwürde, die die Universität Cambridge im Jahre 1992 erwog. Es kam zu einer Abstimmung unter der Professorenschaft und Derrida erhielt mit 336 Ja- gegenüber 204 Nein-Stimmen schließlich den Titel. Es gab jedoch im Vorfeld besonders von Seiten des philosophischen Lehrkörpers scharfe Kritik an der Dekonstruktion, die als unseriöse intellektuelle Spielerei disqualifiziert wurde.

(Un-)eindeutiger Derrida

Obwohl Peeters Bewunderung für Derrida auf vielen Seiten des Buches durchscheint, so ist doch keine Heiligschreibung entstanden, und es kommen auch kritische Stimmen zu Wort. Der Mensch Derrida wird als jemand gezeichnet, der sehr generös mit seiner Zeit umging und für Studierende und KollegInnen fast immer ein offenes Ohr fand. Kleinigkeiten konnten allerdings auch oftmals genügen, um Derrida zu verstimmen. Peeters schildert mehr als eine Situation, in der eine spöttische Bemerkung oder eine vorsichtig formulierte Kritik seiner Arbeit ausreichte, um bei Derrida in Ungnade zu fallen. Julia Kristevas an Derrida angelehnte Romanfigur Saida in ihrem Buch „Les Samourais“ erboste Derrida beispielsweise so sehr, dass er Kristeva fortan demonstrativ den Rücken zuwandte, wenn er sie bei Konferenzen erblickte. Einer anderen Begebenheit widmet die Biographie auch viel Raum: der sogenannten de Man-Affäre. Mit dem belgischen Literaturwissenschaftler Paul de Man, der seit den 1950ern in den USA lehrte und dort, anders als in Europa, sehr stark rezipiert wurde, verband ihn eine enge Freundschaft. Nach dessen Tod 1983 kam heraus, dass Paul de Man während des Zweiten Weltkrieges in Belgien als Journalist für mit den Nazis kollaborierende Zeitungen geschrieben und zumindest einen Artikel publiziert hatte, der offen antisemitische Ressentiments äußerte. Derrida fühlte sich bemüßigt, seinen alten Freund zu verteidigen und schrieb das Buch „Erinnerungen – Für Paul de Man“. Dort ist auch eine zweifelhafte Interpretation des besagten antisemitischen Artikels zu finden. Derrida lässt dabei die Frage offen, ob de Mans Text judenfeindlich sei oder nicht vielmehr als eine subtile Kritik des Antisemitismus verstanden werden könne. Dadurch zog er sich nicht nur den Unmut der Gegner der Dekonstruktion zu, die hierin einen weiteren Beleg der „Unredlichkeit“ der Dekonstruktion sahen, mit der sich aus jedem Satz je nach Gusto alles Mögliche herauslesen ließe, ohne eine strenge Textanalyse machen zu müssen. Auch von Seiten orthodox marxistischer Philosophen wurde Derrida aufgrund dieses positiven Bekenntnisses zu Paul de Man und seiner starken Bezugnahme auf Heidegger angefeindet und als Reaktionär gebrandmarkt. Derrida begriff sich dennoch immer als progressiven Philosophen, der eingefahrene Denkmuster zu erschüttern suchte. In seiner Beschäftigung mit politischer Philosophie folgte er jedoch nicht intellektuellen Moden, sondern wählte seine Themen antizyklisch. Während sich Derrida als Schüler von Althusser in den 1960er und 1970er Jahren in seinen Texten nicht mit Marx auseinandersetzte und die starke marxistische Präsenz in den Geisteswissenschaften in Frankreich als lähmend empfand, widmete er sich 1993 mit dem Buch „Marx Gespenster“ nach dem Ende des real existierenden Sozialismus einer originellen Neulektüre von Marx, die diesen als Wiedergänger mit Shakespeares Figur Hamlet zusammenbrachte.

Nicht immer, so resümiert Peeters am Ende seiner Biographie, ging der Erwähnung der Dekonstruktion eine intensive Auseinandersetzung mit Derridas Schriften voraus. Vielmehr ist das Wort Dekonstruktion mittlerweile häufig zu einem populären Schlagwort mutiert, so dass Landwirtschaftsmagazine beispielsweise eine „dekonstruktive“ Gartenpflege bewerben können oder in Comics schon einmal augenzwinkernd ein „Doctor Dekonstructor“ auftaucht. Dass die Philosophie der Dekonstruktion wesentlich mehr als diese vulgären Adaptionen zu bieten hat, zeigt die fulminante Biographie von Peeters und macht Lust, das Oeuvre Derridas (wieder) zu entdecken.

Benoît Peeters 2013:
Jacques Derrida. Eine Biographie.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-42340-0.
935 Seiten. 39,95 Euro.
Zitathinweis: Philipp Dorestal: Die menschliche Seite der Dekonstruktion. Erschienen in: Umkämpfte Migration. 30/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/s/gfYhP. Abgerufen am: 04. 10. 2024 13:30.

Zum Buch
Benoît Peeters 2013:
Jacques Derrida. Eine Biographie.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-42340-0.
935 Seiten. 39,95 Euro.