Corona, Care und eine überfällige Diskussion
- Buchautor_innen
- Frédéric Valin
- Buchtitel
- Pflegeprotokolle
Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen berichten über den alten neuen Pflegenotstand: Wie hat die Corona-Pandemie ihre Arbeitsbedingungen, aber auch die Beschäftigten selbst verändert?
Die Arbeitsbedingungen in der Pflege und in sozialen Berufen sind schlecht und ein Pflegenotstand vorprogrammiert. So in etwa lässt sich die Diskussion um die Pflege und allgemein soziale Berufe zusammenfassen. Doch was hat die Corona-Pandemie verändert? In den „Pflegeprotokollen“ lässt Frederic Valin diejenigen sprechen, die tagtäglich mit den Konsequenzen eines vernachlässigten (man könnte auch sagen: kaputtgesparten) sozialen Bereichs zu kämpfen haben: Pflegekräfte und Sozialarbeiter*innen, also diejenigen die seit Jahren vor der Situation eines „Pflegenotstandes“ warnen, der sich für sie als Dauerzustand jedoch längst eingestellt hat.
Das Buch besteht aus 21 Gesprächen mit Beschäftigten aus Pflege und sozialer Arbeit. Sie berichten von ihrer Arbeit in der Altenpflege, im Krankenhaus, im Hospiz oder der Jugendhilfe - Valin lässt ein breites Spektrum an Beschäftigen zu Wort kommen. Die einzelnen Gesprächsprotokolle sind gerahmt durch eine Einleitung, in der die Gesprächspartner*innen vorgestellt werden, und ein Outro, in dem ihr weiterer Weg beschrieben wird. Diese knappen Einordnungen machen einen großen Reiz aus, werfen aber auch die Frage auf, warum sie die einzige Einordnung bleiben. Ein Nachwort, das die Gespräche zusammenfasst oder Hinweise auf die politischen Zusammenhänge gibt, fehlt leider.
Erlebte Nicht-Anerkennung
Das Buch kann auf zwei Weisen gelesen werden. Wer sich ohne allzu großes Vorwissen einen Einblick in die Themenbereiche Pflege und soziale Berufe verschaffen will, kann durch die Geschichten im Buch viel über die Arbeit selbst lernen. Durch die Gespräche wird deutlich, was diese Berufe und Arbeitsbedingungen mit den Pflegenden selbst machen. Frida berichtet beispielsweise davon, wie eine Putzkraft von anderen Erzieherinnen diskriminiert wird: für ihre Gewohnheit Cola zu trinken und weil sie aufgrund ihrer geistigen Behinderung als erziehungsbedürftig gesehen wird. Diese Behindertenfeindlichkeit stößt ihr stark auf. Wenn die Mitarbeiterin als „Downie“ bezeichnet wird, spiegelt sich darin auch die gesellschaftliche Abwertung und der Paternalismus der Mehrheitsgesellschaft wider. Von der Anekdote distanziert sich Frida selbst deutlich und macht einen Generationenkonflikt aus, in dem die älteren Erzieher*innen sich mit allem arrangiert haben und den Ideen der jüngeren Kolleg*innen mit Skepsis und Ablehnung begegnen. Dass sich die Arbeitsbedingungen zum Teil deutlich unterscheiden, wird deutlich, wenn beispielsweise Maxi als Krankenpflegerin auf einer Geriatriestation von zu wenig Zeit für die Patient*innen und zu viel Dokumentation berichtet. Ein Zustand, der auch vor Jahren schon so war und den sie eindrücklich auf den Punkt bringt:
„Wir haben einen guten Ruf. Als Arbeitsplatz nicht, weil wir viel machen müssen, harte Arbeit. Man kann sein Geld leichter verdienen. […] Man muss viel pflegen, viel lagern. […] Viele haben Burn-Out, weil es einfach viel und auch schlimm ist.“ (S. 15)
Letztlich hat Maxi, erfährt die Leser*in, ihre Stelle gekündigt, um als Leasingkraft zu arbeiten. Anders als in anderen Sektoren, haben sich in der Pflege die Verhältnisse zwischen Festangestellten und Leiharbeitskräften mittlerweile so umgekehrt, dass die Leiharbeit für die besseren Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung steht.
Ein weiteres Beispiel für die erlebte Nicht-Anerkennung ist Yolá, die als Coach Langzeitarbeitslose betreut und dabei selbst prekär angestellt ist und diese Prekarität auch spürt: „Es fühlt sich an, als hielte man uns für verzichtbar.“ (S. 166) Wenn pandemiebedingt die Teilnehmenden nicht zur Maßnahme kommen dürfen, hat das für beide Seiten enorme Probleme zur Folge. Yolá verliert nicht nur an Einkommen (Maßnahmen werden nicht mehr vom Jobcenter bezahlt; sie muss in Kurzarbeit gehen), sondern auch den Kontakt zu den Teilnehmenden, für die abermals keine Alternativen bereitstehen. Sie zeigt große Sympathien und macht vor allem die unflexiblen Strukturen der Jobcenter als Problem aus, da gerade während der Schließungen auch keine Alternative für die Erwerbslosen gesucht wurde. Das Kurzarbeitergeld bedeutet für sie gerade die Unsicherheit, die sie sonst ihren „Leistungsbeziehern“ zu nehmen versucht.
Diese gesellschaftskritischen Perspektiven sind in nahezu allen Protokollen enthalten, denn die Beschäftigten haben oftmals einen Blick für die Hintergründe. Wie angesprochen nimmt das Buch leider keine eigene Systematisierung oder Kontextualisierung vor. Die Leser*in muss sich bei bestimmten Themen – wie der Leiharbeit – zumindest in Grundzüge eingelesen haben, um die Tragweite der Probleme zu verstehen. Auch wenn das Buch keine „soziologische Studie“ sein will, läge genau in einer solchen Kontextualisierung ein großes Potenzial. Damit ließen sich nicht nur die Geschichten des Pflegealltags erzählen, sondern auch „Lösungsvorschläge“ aus den Geschichten ableiten. Das muss nicht als trockene wissenschaftliche Studie erfolgen, aber gerade die durchdachte Anlage der Protokolle – mit den rahmenden Intros zur Person und dem Outro zur weiteren Situation – wäre der Ort gewesen, der Leser*in zumindest einen begleitenden Kommentar mitzugeben.
Nicht alle Gespräche sind anonymisiert und bestimmte öffentlich auftretende Personen sind auch als solche benannt. Gerade hier wäre ein einordnender Kommentar hilfreich gewesen. Mit Diana Hennings von Moabit hilft e.V. dürfte er durchweg sympathisieren. Wenn sie die Probleme des Vereins reflektiert,– wie etwa die fragile Spendenfinanzierung und die kritische Haltung der etablierten Politik zum Verein, spricht sie auch die politischen Dimensionen immer wieder an. Bei ihr und dem Verein zeigt sich deutlich, wie sich eine, sich selbst als politisch verstehende Zivilgesellschaft eben auch positionieren kann: „Wie gesagt: Mittäterschaft gibts bei uns nicht.“ (S. 124) Die Distanz zur institutionalisierten Politik ermöglicht es dem Verein, sich klar zu positionieren und parteiisch zu sein.
Soziale Arbeit als politische Arbeit
Wie eine pragmatisch-politische Perspektive als Gegenbeispiel aussehen kann, zeigt sich dann bei Thomas de Vachroi. Er ist Armutsbeauftragter des Diakonischen Werks Simeon und Einrichtungsleiter des Diakonie-Hauses Britz. Außerdem ist er Sozialbeauftragter der CDU Neukölln. Mit seiner Erzählung gehen einige diskutable Positionen einher, die natürlich nicht dem Autor der Pflegeprotokolle anzulasten sind, und gerade deshalb einer kritischen Einordnung bedürfen. Einige Beispiele herausgegriffen: Dass der christliche Glaube in seiner Arbeit eine große Rolle spielt, zeigt sich beispielsweise in einem problematischen Armutsverständnis, das dieser religiösen Perspektive zugrunde liegt: Armut solle bekämpft und nicht verhindert werden; tendenziell werden die „Armen“ auf ihre Hilfsbedürftigkeit reduziert. So führt die starke Verankerung kirchlicher Träger im sozialen Bereich in diesem Fall folgerichtig zur Beschreibung de Vachrois: „Im Sozialstaat ist ja nicht der Staat allein verantwortlich dafür, wie wir leben. Jeder lebt für sich. Jeder hat Verantwortung für sich selbst.“ (S. 186) Das mag sich zunächst unproblematisch anhören, aber die Eigenverantwortung im Kontext der Obdachlosigkeit zu betonen, kann doch leicht zynisch wirken, oder beinhart realistisch? Auch die Ursachen von Obdachlosigkeit sind nicht immer selbstverschuldet. Das räumt auch de Vachroi ein. Aber was würde daraus resultieren, wenn sie es wären? Das klingt doch sehr nach einer Unterscheidung von „richtigen" und „falschen“ Armen.
Ebenso problematisch ist die behauptete Verpflichtung zur Neutralität des Armutsbeauftragten. De Vachroi schreibt: [D]er Armutsbeauftragte bleibt neutral und gibt dem Land Hinweise was notwendig ist.“ (S. 188) Diese Neutralität lässt sich durchaus bezweifeln. Muss er das sein? Oder besser gefragt: sollte er das müssen? Natürlich ist er als institutionalisierter Armutsbeauftragter bestimmten politischen Logiken unterworfen (er hat eine bestimmte Rolle als Armutsbeauftragter und muss sich dieser entsprechend verhalten), die aber dennoch nicht alles bestimmen müss(t)en. Die Gegenüberstellung mit Diana Hennings kann genau das zeigen. Einerseits gibt es ein breites Spektrum an sozialer Arbeit, andererseits besteht die politische Frage durchaus darin, wie mit den Menschen gearbeitet wird und wie auch die eigene Rolle ausgefüllt wird.
Die Krise verlangt politisches Handeln
Andere Geschichten zeigen auf, wie der Arbeitsschutz und die Organisation in der Pflege auch unter der Pandemie leiden: Georg arbeitet als Krankenpfleger in der mobilen Pflege und zeichnet in seiner Geschichte deutlich nach, wie ernst auch vor Corona die Lage schon war, was vor allem auf die Ökonomisierung der Pflege zurückzuführen ist. So werden beispielsweise aus Urlaubs- und Weihnachtsgeld Gesundheitsprämien, die an diejenigen ausgezahlt werden, die eben nicht krank werden. Er beschreibt die Veränderungen im Gesundheitssystem wie folgt: „Dann haben das so Leute aus der Start-up-Branche übernommen. Die dachten sich wahrscheinlich, in der Pflege kann man Geld machen.“ (S. 232) Die Bandbreite der Probleme während, aber auch schon vor der Pandemie aufzuzeigen, ist Valin dabei auf jeden Fall gelungen.
Das Buch von Valin wird seinem eigenen Anspruch, den Alltagsexpert*innen Gehör zu verschaffen, mehr als gerecht, versäumt es aber, eine Einordnung über dieses Anliegen hinaus zu liefern. Das ist kein Problem, verlangt aber von den Leser*innen viel mitzudenken und auch Vorwissen, um die Tragweite der Protokolle zu verstehen. Wer sich darauf einlassen kann, nicht alles geliefert zu bekommen, findet in den Pflegeprotokollen eine Materialsammlung, die einiges an Diskussionspotenzial bereithalten (wie das Beispiel von Thomas de Vachroi zeigt). Wer schon einiges zum Thema Pflegenotstand, Care-Arbeit und Kapitalismus gelesen hat, wird viel von den politischen Diskursen auch hier wiederfinden. Auch die Gesprächspartner*innen von Valin betonen vielfach dass die Krise in der Pflege nicht erst mit Corona gekommen ist, sondern schon deutlich länger besteht und ohne explizites politisches Handeln auch darüber hinaus bestehen wird. Gerade das Format der Protokolle kann umstandslos auch eine willkommene Abwechslung in der publizistischen Begleitung der Corona-Pandemie sein. Eine Stimme haben die Sprecher*innen auf jeden Fall bekommen.
Pflegeprotokolle.
Verbrecher Verlag, Berlin.
ISBN: 9783957324979.
240 Seiten. 18,00 Euro.