Analysen zur Krise
- Buchautor_innen
- Sebastian Friedrich, Patrick Schreiner (Hg.)
- Buchtitel
- Nation – Ausgrenzung – Krise
- Buchuntertitel
- Kritische Perspektiven auf Europa
Der Sammelband widmet sich dem Zusammenhang von Nationalismus, Ausgrenzung und Kapitalismus im Zeichen der „Euro-Krise“.
Spätestens seit dem letzten großen Wirtschaftskrisendiskurs im europäischen Kontext, der vor allem in Spanien, Portugal und Griechenland spürbar war und die Europäische Union sichtbar beunruhigte, fingen Eliten in Wirtschaft und Politik an darüber nachzudenken, wie sie die EU von den sichtbar gewordenen Widersprüchen retten können. In den Zeiten vor der Krise glaubten die Architekt_innen der EU, ein europäisches marktwirtschaftliches Ideal und eine europäische Identität gefunden zu haben, deren Wurzeln permanent auf die alt-griechische politische Ideenwelt zurückgeführt wurde. Seit der Finanzkrise wird das Ideal der Europäischen Union mit einer ausgrenzenden Wirtschafts- und Finanzmoral verstärkt beschrieben und neu definiert. EU-Länder, die diesem Ideal nicht „entsprächen“, werden mit bestimmten Kriterien der EU-Finanzmoral konfrontiert: Stabilität, Produktivität, Disziplin, Kontinuität und Anstand sind einige Elemente dieser vor allem rassistisch geprägten Finanzmoral der EU, die mit der Wirtschaftskrise in eine Identitätskrise gerät. So stellen seit der Finanzkrise große EU-Länder wie Deutschland, Britannien und Frankreich die seit Jahrzehnten selbst gemachte europäische Identität in Frage. (Hier wird Bezeichnung Britannien anstatt Großbritannien verwendet, um die koloniale Bedeutung des letzteren Begriffes auch zu kennzeichnen, Haritaworn/Tauqir/Erdem 2011, S. 52). Vor allem wurden Griech_innen Eigenschaften wie Faulheit, Disziplinlosigkeit, Diskontinuität, Bestechung, Leistungsverweigerung zugeschrieben und als Gründe für die „Pleite“ Griechenlands deklariert.
Nicht nur der Rassismus wurde durch die Finanzkrise sichtbar, auch Nationalist_innen fühlten sich angesprochen und ermutigt, die rassistischen Erzählungen und Argumentationen der Eliten in Wirtschaft und Politik sowie der Mitte der Gesellschaft zu übernehmen und diese auszudehnen. So wurde die Gefahr der Nation (re)konstruiert und die Parolen gegen „faulen Griech_innen“, „Siesta Spanier_innen“ oder „kriminelle Roma und Sinti“ verbreitet. Auch das rassistische Gedankengut Sarrazins ist kein Zufall der 2000er Jahre, in denen vor allem Muslim_innen und Schwarze, die als Gegensätze der europäischen Kultur eingestuft wurden, mit ähnlichen rassistischen Konstruktionen wieder definiert beziehungsweise deklassiert wurden. Der Sammelband „Nation – Ausgrenzung – Krise“, der von Sebastian Friedrich und Patrick Schreiner im Juli 2013 herausgegeben wurde, fragt nach den Formen und den Auswirkungen des ausgrenzenden und nationalistischen Denkens in Europa.
Krisendynamiken
Der Sammelband setzt sich zum einen mit den theoretischen Hintergründen des Zusammenhangs zwischen Nationalismus, Ausgrenzung, neoliberalem Kapitalismus und Krise auf einer analytischen Ebene auseinander. Zum anderen liegt der Schwerpunkt des Bandes auf den konkreten aktuellen Erscheinungsformen von Nationalismus und Ausgrenzung in Europa. Vor diesem theoretischen und empirischen Hintergrund analysiert der Band die Formen und Auswirkungen von Denken, Handeln und Strukturen der Ausgrenzung und des Nationalismus im Kontext der aktuellen Wirtschaftskrise in Europa. Der Sammelband besteht entsprechend aus zwei Blöcken. Während im ersten Teil „theoretische und länderübergreifende Perspektiven“ behandelt werden, umfasst der zweite Teil Beiträge, die einzelne Länder in den Blick nehmen und aktuelle (Erscheinungs-) Formen von Nationalismus und Ausgrenzung untersuchen. In insgesamt 18 Beiträgen werden zahlreiche Beispiele und Entwicklungen aus zehn Ländern aufgegriffen und die Formen und Erscheinungsweisen von Nationalismus und Ausgrenzung in Europa analysiert.
Sebastian Friedrich geht in seinem Beitrag „Veränderte Verhältnisse. Rassismus in Zeiten der Krise“ von einem Wechselverhältnis zwischen Rassismus, Kapitalismus und Krise aus (S. 54). Anhand vorhandener Rassismus- und Krisentheorien sowie der Analyse aktueller Entwicklungen zeigt er auf, dass Rassismus Konjunkturen unterliegt und als dynamische, politische Strategie nutzbar gemacht wird. Der Beitrag von Friedrich macht deutlich, dass es zwischen Rassismus und Krisendynamiken enge Zusammenhänge gibt. Es wird nachvollziehbarer, wie die (Finanz-) Krisensituationen Rassismen reaktualisieren, reaktivieren, etablieren und neu hervorbringen.
Der Beitrag „Out of Control. Schengen und die Krise“ von Bernd Kasparek und Vassilis S. Tsianos thematisiert die Europäisierung des gegenwärtigen Grenz- und Migrationsregimes am Beispiel der globalen Finanzkrise und des Schengener Abkommens als Regulator der Europäisierung der Migrationspolitik.
„Mit dem Aufkommen der neuen, globalen wirtschaftlichen Krise, die in Europa vor allem als Krise der Staatsfinanzen wahrgenommen wird, ist der Vergemeinschaftungsprozess allerdings sichtbar ins Stocken geraten. Dieser Befund gilt auch für die Migrations- und Grenzregime im EU-Rahmen. Das System Schengen insgesamt befindet sich in einer Krise“ (S. 70).
Deutscher Nationalismus
Die genannten Beiträge sind aus dem theoretischen und länderübergreifenden ersten Teil. Im zweiten Teil werden die Entwicklungen in Russland, Belarus, Spanien, Griechenland, Italien, Niederlande, Ungarn, Deutschland, Britannien und der Türkei analysiert. Anika Kozicki zeigt in ihrem Beitrag „Deutsche Normalität in Europa. Zur Kritik des deutschen Nationaldiskurses“ die Reartikulation der deutschen nationalen Identität und deren Zusammenhang mit der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise plastisch auf. Während die von der deutschen Seite gelobte „Tugend des Sparens“ beziehungsweise die Rettungs- und Sparpolitik als Weg zur Lösung der Finanzkrise durchgesetzt wird, werden die „Anderen“, die ihre Inseln verkaufen sollen, auf eine nationalistische und rassistische Weise ausgegrenzt. Kozicki zeigt in ihrem sehr verständlich geschriebenen Beitrag auf, dass der deutsche Nationalismus sich in der Zeit der Krise durch die angeblich wirtschaftlichen Erfolge des deutschen Staates beziehungsweise der deutschen Nation reartikulieren konnte, was zur Normalisierung der Überlegenheitsgefühle der deutschen Nation beziehungsweise des deutschen Nationalismus beitrug.
Ebenfalls mit Deutschland, allerdings mit einem anderen Blickwinkel, befasst sich der Beitrag von Sara Madjlessi-Roudi. Sie untersucht die ausgrenzenden Effekte der Wirtschafts- und Finanzkrise in der Entwicklungspolitik, indem sie aus einer postkolonialen Perspektive die aktuellen Diskurse und Praktiken bezüglich des Konzepts „Entwicklung“ in Frage stellt. Sie macht deutlich, dass im eurozentrischen Entwicklungsdiskurs die Welt nach einer angenommenen „universellen Entwicklungsskala“ in entwickelte und unentwickelte Länder eingeteilt wird (S. 118). Diese dichotome Einteilung der Welt (entwickelt/unentwickelt, fortschrittlich/rückschrittlich, demokratisch/undemokratisch) ermögliche laut Madjlessi-Roudi eine Legitimation (entwicklungs-)politischen Handelns. Hinsichtlich der Wirtschafts- und Finanzkrise würden die Probleme im globalen Süden verortet, während die Expertise zur Lösung im globalen Norden lokalisiert werde. In diesem Entwicklungsdiskurs werde den Ländern des globalen Nordens eine Rolle als das aktiv helfende Eigene zugeschrieben, während die Länder des globalen Südens als passive hilfsbedürftige Andere klassifiziert werden. Besonders Deutschland wird wegen seiner starken wirtschaftlichen Situation in der EU ein entwicklungspolitischer Führungsanspruch zugeschrieben.
In ihrem Beitrag „Zwischen ‚Big Society' und ‚Aspiration Nation'“ beschäftigt sich Sibille Merz mit dem Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und neoliberaler Ideologie in Britannien. Die Autorin untersucht die Krisenpolitik der britischen Regierung, die auf den ausgrenzenden, abwertenden, dämonisierenden Konstruktionen der Arbeiter_innenklasse, der Migrant_innen und der „Anderen“, die als nicht nützlich klassifiziert werden, basiert. Im Beitrag „Verhärtung der Ausschlüsse“ beschreibt Frank Eckardt die Verbindungen zwischen Ausgrenzung und Rassismus in den Niederlanden. Er zeigt auf,
„dass die niederländische Wahrnehmung der Euro-Krise, das eigene nationale Selbstverständnis und die damit einhergehenden Ausschlüsse von Minderheiten, insbesondere MuslimInnen, tiefgreifende Einflüsse auf die niederländische Politik und Gesellschaft haben“ (S. 175).
Savaş Taş, der sich in seinem Beitrag „Neue Ambitionen für das Establishment?“ mit dem Zusammenhang zwischen dem türkischen Nationalismus und der Krise befasst, stellt die These auf, dass die Euro-Krise die außenpolitische – und nationalistische – Tendenz der türkischen Regierung verstärkt hat, sich in Richtung der mittelasiatischen Turk-Republiken zu orientieren. Auch im Mittleren Osten und in Nordafrika nehme das ökonomische und politische Engagement der Türkei zu. Demgegenüber trat das Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union eher zurück.
Die in diesem Band vorliegenden Länderanalysen von unterschiedlichen Sozialwissenschaftler_innen geben einen übersichtlichen Überblick über vor allem europäischen Nationalismen, Rassismen und ökonomisch bedingten Ausgrenzungspraktiken, -politiken beziehungsweise -mechanismen. Der gesamte Band bietet mit seinem theoretischen und empirischen Konzept eine Möglichkeit, die Erscheinungsformen der Auswirkungen der Krise ebenso wie die Zusammenhänge der Wirtschafts- und Finanzkrise mit Nationalismus, Rassismus und Ausgrenzung in Europa kritisch zu betrachten.
Zusätzlich verwendete Literatur
Haritaworn, Jin / Tauqir, Tamsila / Erdem, Esra (2011): Queer Imperialismus. Eine Intervention in die Debatte über „muslimische Homophobie“. In: Günay-Yılmaz, Koray (Hg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes. Zehn Jahre »Muslime versus Schwule«. Eigenverlag, Berlin
Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-36-2.
240 Seiten. 18,00 Euro.