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Linke Biedermeier und Brandstifter

Linke Biedermeier und Brandstifter
Thema
Essay von Matthias Rude

Die neuen, konservativen Bürgerlichen stehen für die Abstiegsängste der Mittelschicht - und für Kriegsbefürwortung der deutschen „Linken".

Essay von Matthias Rude

„Hermann Müller, Hilferlieschen / blühn so harmlos, doof und leis / wie bescheidene Radieschen: / außen rot und innen weiß.“ – Kurt Tucholsky: Feldfrüchte (1926).

Dunkle Kleidung, Piercings, Hals, Arme, sogar Hände und Finger voller Tätowierungen. Ein typischer Szenegänger, der auf einem Hardcore-Konzert im Autonomen Zentrum zunächst nicht auffallen würde. Auf den zweiten Blick irritiert der Aufdruck auf seinem Shirt: „Freiheit“, steht da; abgebildet ist ein kleines Haus auf dem Land mit eingezäuntem Garten, in dem ein Mädchen mit langen geflochtenen Zöpfen sitzt. Auf der Brust eines weiteren jungen Mannes hinter dem Verkaufsstand prangt in altdeutschen Lettern der Schriftzug: „Königreich Heimat“.

So gesehen auf der diesjährigen Stilwild-Messe, einem Lifestyle- und Designermarkt, am Stand von Artwood. „Black Forest Fashion Label“ nennt sich das Unternehmen des jungen Modedesigners Jochen Scherzinger. Seine Produkte: „Trachtenstreetwear“, inspiriert von den traditionellen Monturen des Schwarzwalds. „Gesichtslos war gestern, heute zählen Wurzeln“, sagt er. Besorgt äußert er sich über den Rückgang der Mitgliederzahlen von Trachtenvereinen.

Angst vorm Absturz

In gewisser Hinsicht hat Artwood einen Nerv der Zeit getroffen. Man könnte auch sagen: Das Label steht symptomatisch für eine Entwicklung, im Zuge derer junge Menschen sich vermehrt dem Traditionellen zuwenden. Ob es ein Zufall sei, dass viele Uni-Kneipen, Bars und Studentenklubs so aussehen, als hätten die Inhaber Großmutters Wohnzimmer – samt Ohrensessel, Kronleuchter und goldgerahmten Alpenpanorama an der Wand – ausgeräumt, fragte Anfang des Jahres Der Spiegel. Kein Zufall: Wir haben es mit der „Generation Biedermeier“ zu tun.

Zu diesem Ergebnis kam zumindest das Marktforschungsinstitut Rheingold. Es will auch den Grund dafür herausgefunden haben: „Das lange Zeit sichere und berechenbare Versorgungs-Paradies Deutschland hat furchterregende Risse bekommen“ – weshalb das Lebensgefühl der Jugend nicht mehr wie in den 1970er-Jahren von einer Revolte gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt sei, sondern von einer schwelenden Absturz-Panik. Zwar erzeuge das bei den Jugendlichen eine „verzweifelte Wut auf die Verhältnisse“, diese werde jedoch oft nicht direkt ausgelebt; vielmehr werde ihr mit Anpassung und Selbstdisziplinierung begegnet, mit Eigenschaften also, die vor dem stets drohenden Absturz schützen sollen. Risiken, große Träume, Zukunftsutopien würden abgedämpft und in Schach gehalten, der Generationenkonflikt nicht offen ausgetragen. Stattdessen scheine in den Lebensentwürfen „eine Biedermeierwelt durch“ – in der das zentrale Lebensziel zum Beispiel darin bestehe, ein kleines Haus mit Garten zu besitzen.

Ihre Absturz-Ängste versuchen die Jugendlichen, so das Kölner Institut, auch zu bannen, indem sie sich strikt von Menschen abgrenzen, die bereits abgestürzt sind. Vom „Bild einer Zweiklassen-Gesellschaft“ ist in der Studie die Rede: Die Welt sei für die Jugendlichen klar geteilt in Winner und Loser, in Superstars und Hartz IV-Beziehende, und: „Den Opfern und Verlierern der Gesellschaft wird nicht Mitleid oder Solidarität entgegengebracht, sondern Verachtung und Schmähung. Häufig selbst von Jugendlichen, die sich selbst als eher links oder als solidarisch charakterisieren“.

Tatsächlich sind solche Abgrenzungen in den letzten Jahren vermehrt in der „linken Szene“ zu beobachten. „Mit Parolen wie 'Wir tragen Gucci, wir tragen Prada – Tod der Intifada' wurde eindeutig der hedonistische Standpunkt der antideutschen Szene aus ganz Deutschland zur Schau getragen“, berichtete die Israelsolidarische & Antifaschistische Gruppe Berlin im Februar 2009 von ihrer Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration. Mit die Gentrifizierung bejubelnden Slogans wie „Für die Aufwertung der Kieze – für mehr Bars, Soja-Latte, Wi-Fi und Bio-Märkte!“ trat die Hipster-Antifa Neukölln 2012 auf den Plan.

Aus einer nichtlinken Perspektive hat sich der Spiegel-Journalist Christian Rickens dem Phänomen angenommen. In seinem erstmals 2006 erschienen Buch „Die neuen Spießer“ kommt er zum Schluss: Die neuen Bürgerlichen stoßen auf gesellschaftliche Resonanz, weil sie die Abstiegsangst der deutschen Mittelschicht ansprechen, die beginnt, sich von den Verlierern des gesellschaftlichen Wandels abzugrenzen. „Wenn sich neubürgerliche Autoren über die Unterschicht äußern, schwingt schnell ein Unterton der Verachtung mit“, schreibt er, und nennt weitere Charakteristiken ihrer Ideologie: (Neo-)Konservative ziehen in der Regel einen materiellen oder immateriellen Nutzen daraus, dass sie konservativ sind (oder werden). Sie reproduzieren stumpfe Vorurteile, denen sie aber einen intellektuellen Anstrich geben. Um dem Generalverdacht der Spießigkeit zu entkommen, haben sie außerdem die Vorzeichen umgedreht:

„Wer vermeintlich Spießiges äußert, ist in ihren Augen der wahre Rebell, denn er setzt sich mutig der linken Kritik aus. Die wahren Spießer hingegen, das seien heute ebenjene Linken. Ihre Engstirnigkeit offenbare sich in den Denkverboten der Political Correctness“.

Linker Neokonservatismus

Die Debatte über neue Bürgerlichkeit in der Linken hat 1983 der im Rotbuch Verlag erschienene Sammelband „Infrarot. Wider die Utopie des totalen Lebens“ maßgeblich mit angestoßen, in dem, 15 Jahre nach 1968, eine Bilanz der linksradikalen Bewegung in der BRD gezogen wurde. „Die Nachkommenden schleudern den Alt-Hippies ihr 'du 68er!' ebenso verachtungsvoll entgegen wie wir weiland unsere Altvorderen als Spießer verhöhnten“, so die Herausgeber. Auf diese Aufforderung zu „Konsequenz“ würden einige „mit einem noch eiligeren Wurf nach vorne“ reagieren – was die Autoren ablehnten: „'Infrarot' ist der Versuch, mit dem 'Erbe' konservativ, bewahrend umzugehen“, heißt es in der Einleitung, und:

„Wir weigern uns, die Erfahrungen der 'wilden Zeit' mit Verachtung beiseite zu schieben, zur brutalen Sicherheit des Bestehenden zurückzukehren und mit geknickter Resignation das Scheitern zu bekunden. Wir wenden uns aber ebenso gegen Selbstmitleid, wie es insbesondere jene pflegen, die noch immer unentwegt die Fahne hochhalten“.

Mit der Weigerung, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren, war es allerdings nicht weit her. Matthias Horx, einer der Herausgeber des Buches, wurde Unternehmensberater und Mitglied beim neokonservativen Publikationsnetzwerk Die Achse des Guten. Mitherausgeberin Cora Stephan, einst Mitglied beim Sogenannten Linksradikalen Blasorchester und, wie Horx, in der von Daniel Cohn-Bendit geleiteten Redaktion des Frankfurter linksradikalen Stadtmagazins Pflasterstrand, schreibt seit 1999 für die neokonservative Tageszeitung Die Welt des Springer-Konzerns, den die 68er einst enteignen wollten. Das ist nur konsequent: „Infrarot“ predigte die Abkehr von der Fundamentalopposition und warb für einen „neuen Realismus“. Die Herausgeber redeten dem Realo-Flügel der Grünen das Wort; der drei Jahre zuvor gegründeten Partei prophezeiten sie:

„Heißt die radikale Antwort auch in der Zukunft: 'Wir sind und bleiben die Opfer der Gesellschaft, wir bleiben lieber sauberen Bewusstseins, und mit der Veränderung der Realität darf sich niemand die Finger schmutzig machen', dann dürfte das grüne Spektakel bald vorbei sein.“

So wechselten 68er die Fronten. Horx, der sich „Trend- und Zukunftsforscher“ nennt, wurde damit tatsächlich zum Vorboten eines Wandels, der sich in der Linken in den letzten 25 Jahren vollzogen hat. Dieser hat viel mit dem Ende des Realsozialismus zu tun: Da die Linke keine Alternative und kein Auskommen mehr zu bieten in der Lage war, schlug man sich auf die Seite der vorläufigen Gewinner der Geschichte. Nachdem der „Eiserne Vorhang“ sich geöffnet hatte, ließ sich auf der politischen Weltbühne nicht nur das Trauerspiel eines historischen Niedergangs sozialistischer Bestrebungen beobachten; um Zugang zu den Schaltstellen der Macht oder in die bürgerliche Medienlandschaft zu erhalten, vollzogen viele Linke selbst eine politische Wende, wechselten ihre politische Einstellung, machten sich „die Finger schmutzig“ und wurden von Opfern dieser Gesellschaft zu Profiteuren und Tätern.

Inzwischen existieren in mehreren Staaten neben den „normalen“ Konservativen gesellschaftliche Strömungen, die an die neuen Bürgerlichen in Deutschland erinnern; wie Rickens feststellt, liegen sie in vielen politischen Fragen „quer“ zum konventionellen Rechts-Links-Schema des Parteienspektrums. Als prominentestes Beispiel nennt er die US-amerikanischen „Neocons“. Die Hauptfrage, in welcher der Neokonservatismus – der seine Wurzeln ebenfalls in der Old Left, der alten Linken der USA, hat – mit traditionellen Standpunkten der klassischen Konservativen gebrochen hat, ist deren isolationistische Außenpolitik. Im Gegensatz dazu propagieren „Neocons“ den Export „westlicher Werte“ – und zwar durch Krieg.

Auch in der deutschen Linken war das Einfallstor für neokonservative Positionen der Bellizismus; nicht erst seit dem 11. September 2001, sondern schon zu Zeiten des Ersten Irakkriegs. Nachdem die Springer-Presse entsprechende Vorarbeit geleistet hatte – Bild titelte: „Krieg! Der Hitler von Bagdad überfällt wehrloses Volk im Morgengrauen“ –, taten es ihr Linke gleich. Im Februar 1991, drei Wochen nach Beginn der westlichen Kampfhandlungen gegen den Irak, publizierte Der Spiegel einen Essay von Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel „Hitlers Wiedergänger“. Der einstige Ideengeber der Studentenbewegung und Unterstützer der APO machte darin den deutschen Faschismus zum Exportartikel: „Hitler war nicht einzigartig“. Die Einstellung, die auf der Singularität der deutschen Verbrechen besteht, diskreditierte er als „Denkverbot“. Saddam Hussein strebe, wie Hitler, die „Endlösung“ an, weshalb er „von der Erdoberfläche“ getilgt werden müsse.

Für die Grünen sollte sich der Bellizismus linker Provenienz, der stets Nazi- und Holocaust-Vergleiche bemüht, als Schlüssel zur Macht erweisen – der Kosovo-Krieg, der erste Angriffskrieg von deutschem Boden nach 1945, wurde von ehemaligen 68ern mit angezettelt, die im Zuge ihres „Marsches durch die Institutionen“ ganz oben angekommen waren.

Auf dem Weg ins rechte Lager

Nach dem 11. September 2001 zeigte sich, dass das neue ideologische Muster von Teilen der Linken übernommen worden war. Nun schlugen „antideutsche Kommunisten“ sich auf die Seite der „Neocons“ und Bushs „War on Terror“, indem sie behaupteten, die USA führten „einen antifaschistischen Krieg“ gegen „die arabische Ausgeburt des Nationalsozialismus“. Die Zitate stammen aus dem programmatischen Aufsatz „Wir Freunde des amerikanischen Krieges“ von Justus Wertmüller, der 2003 in der „antideutschen“ Zeitschrift Bahamas erschienen ist. Über die Zeitung Die Welt heißt es in dem Text, dass sie von allen Tageszeitungen im Land die einzige sei, die um „eine sorgfältige Berichterstattung über Israel“ bemüht sei. Es wächst zusammen, was zusammengehört.

Ideologische und personelle Verbindungen von „Antideutschen“ und Konsorten zum neuen Konservatismus reichen bis ins Linksaußen der Szene. So schreiben beispielsweise mehrere Autoren der „linken“ Wochenzeitung Jungle World gleichzeitig für Die Welt. Sie bemühen sich um einen intellektuellen Habitus, indem sie etwa versuchen, mit Kritischer Theorie zu argumentieren. Letztlich kaschiert dies meist nur stumpfe Ressentiments, denen bisweilen auch freier Lauf gelassen wird. Für Thomas von der Osten-Sacken etwa bedeutet Antifaschismus, wie er 2008 bei einer Konferenz in Berlin sagte, „Islam-Nazis“ „aufs Maul zu hauen, verknasten und umzubringen“. Wie Max Horkheimer in den letzten Jahrzehnten seines Lebens – 1967 notierte er mit der Begründung, die Zuchthaussysteme im Osten seien schlimmer als die Verfälschung der Demokratie im Westen: „Heute kommt es aber allein darauf an, zu retten, was von der persönlichen Freiheit noch übrig ist. Radikal sein heißt heute konservativ sein“ – haben diese „Kommunisten“ sich von linken Positionen zunehmend entfernt. Schlimmer: Sie haben sich zu Erfüllungsgehilfen der Kriege des Westens gemacht. Wie beispielsweise ein bei Wikileaks veröffentlichtes CIA-Strategiepapier aus dem Jahr 2010 belegt, geschah das vonseiten der USA ganz bewusst: Deutsche Medien wurden vom US-Auslandsgeheimdienst manipuliert – mit dem Ziel, imperialistische Angriffskriege als Kampf für Menschenrechte zu verkaufen. „Ein 'neues Auschwitz' gab es nie; gleichwohl brauchte man diese Lüge, um die internationale Linke – zumindest in Teilen – moralisch zu überwältigen“, meinte der Politikwissenschaftler Jörg Becker kürzlich im Interview mit Telepolis.

Damit haben die politischen Fronten sich verschoben: „Neue Rechte, Rechtskonservative, 'antideutsche' und andere Neokonservative eröffnen mithilfe einiger Noch-Linker eine neue politische Front“, analysierte die Journalistin Susann Witt-Stahl vor vier Jahren. Das einstige Flaggschiff der „antideutschen“ Bewegung, die Zeitschrift Bahamas, hat in der Zwischenzeit mehrmals lobende Worte für Neofaschisten gefunden und offen die Übereinstimmung der eigenen Positionen mit jenen der Neuen Rechten eingeräumt; sie steht exemplarisch dafür, wie eine Bewegung, ausgehend von „Kritik“ an der Linken, über die Aufgabe fast aller linken Essentials in bürgerliche, neokonservative und rechte Ideologie abrutscht. An der Linken festzuhalten, dafür gäbe es „nur den einen Grund, sie zum Gegenstand der Kritik zu machen“, so Bahamas. Wem angesichts der marginalisierten Lage der Linken und ihrer eingeschränkten Handlungsfähigkeit nichts Besseres einfällt, dem gilt entgegenzuhalten, was Max Horkheimer 1932 schrieb, als er noch glühender Marxist war: „Zur Verschleierung der Ursachen der gegenwärtigen Krise gehört es, gerade diejenigen Kräfte für sie verantwortlich zu machen, die auf eine bessere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse hinarbeiten“. Die Antwort auf die Krise der Linken darf nicht in einer Apologie der bürgerlichen Gesellschaft enden, darf nicht Spaltung und Zersetzung durch destruktive Kritik, sondern muss zuvorderst Anlass für Solidarität und Sammlung sein.

Was die „Liebe zur Heimat“ angeht, sind die neuen linken Spießer mitunter übrigens gar nicht so weit von anderen neuen Bürgerlichen weg. Sie arrangieren sich – wahrscheinlich auch aus Mangel an Alternativen – mit dem deutschen Staat. Thomas von der Osten-Sacken etwa hat im Zuge des Irakkriegs ein „Memorandum“ mitveröffentlicht, das sich unter anderem an „die deutsche Außenpolitik“ richtete. Von einer „dringend anstehenden demokratischen Entwicklung der Region, die im unmittelbaren Interesse auch der Europäischen Union und Deutschlands liegt“, war die Rede. In ihrem Artikel „Antideutsche Politikberatung“ analysierte die Zeitung analyse & kritik damals die Haltung der angeblichen „Antideutschen“ als eine „staatstragend sich der Bundesregierung andienende Haltung“.

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Über linken Bellizismus ist vom Autor der Artikel „'Nie wieder Faschismus' – immer wieder Krieg. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten" erschienen. Er findet sich im von Susann Witt-Stahl und Michael Sommer herausgegebenen Sammelband „Antifa heißt Luftangriff. Regression einer revolutionären Bewegung", der in Ausgabe 33 von kritisch-lesen.de besprochen worden ist.

Zitathinweis: Matthias Rude: Linke Biedermeier und Brandstifter. Erschienen in: Neue Bürgerlichkeit. 36/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/s/RES75. Abgerufen am: 21. 11. 2024 16:55.