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Am Limit – Covid-Kapitalismus, Kipppunkte und Care

Am Limit – Covid-Kapitalismus, Kipppunkte und Care
Thema
Essay von Christa Wichterich

Der Globale Süden sowie Osteuropa werden als Supermarkt preisgünstig verfügbarer Arbeitskräfte behandelt, aus denen der Globale Norden Sorgekapazitäten abziehen kann, um die eigene Reproduktionskrise in den Griff zu bekommen.

Essay von Christa Wichterich

Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass die Pandemie die strukturellen Defizite und die Krisenhaftigkeit der neoliberalen Globalisierung bloßlegt und wie ein Brandbeschleuniger strukturelle Ungleichheiten verstärkt. Die Covid-19 Krise trifft auf eine Dauerkrise im Kapitalismus: die Krise der sozialen Reproduktion. Mein Blick auf die derzeitige Variante des Kapitalismus erfolgt von den aktuellen Kipppunkten der Reproduktion und der zerstörerischen Extraktion von Sorge- und Pflegearbeit her. Denn aus der Perspektive der Reproduktion betrachtet, ist der Kapitalismus in der Pandemie durch einen brutalen Extraktivismus von Care – Sorge – gekennzeichnet. Die Pandemie hat uns fortwährend Lektionen bezüglich der Anfälligkeit und Rücksichtslosigkeit dieses Systems und bezüglich unserer eigenen körperlichen und sozialen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten erteilt.

Soziale Reproduktion wird als ein Mensch-Mensch-Verhältnis sowie als ein Mensch-Natur-Verhältnis begriffen; als System verwobener sozio-kultureller, ökonomischer und ökologischer Praktiken in unterschiedlichen politischen, patriarchalen und klassenbasierten Machtkonstellationen. Jede Variante kapitalistischer Produktionsweise schafft sich kontextabhängig eine je spezifische Reproduktionsweise. Soziale Reproduktion, vom Kinderhüten über das Gesundheits- und Bildungssystem bis zur Altenbetreuung, ist, wie die Produktionsweise in der neoliberalen Globalisierung, extraktivistisch und transnational organisiert: mithilfe und auf Kosten unter- und unbezahlter Pflegekräfte in Krankenhäusern, Altenheimen und Privathaushalten, Kindergärten und Schulen, migrantischer Ernte„helfer:innen“ in der Landwirtschaft, migrantischer Arbeitskräfte in der Fleischverarbeitung und Zulieferung preisgünstiger Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände, die stark auf unterbezahlter Lohnarbeit entlang globaler Wertschöpfungsketten beruhen. Doch auch auf nationaler Ebene leben und reproduzieren „wir“, die globalen Mittelschichten und der globale Norden unser „gutes“ (Über)Leben auf Kosten der „anderen“, der Subalternen, sozial schwacher Klassen, der Eingewanderten, aber auch zu Lasten derjenigen, die schlecht bezahlt unsere Versorgung gewährleisten: Reinigungskräfte, Supermarktbeschäftigte, Busfahrer:innen und Müllmänner.

Die Krise, die als Versorgungsnotstand aufgrund des Mangels an Pflegekräften, Intensivbetten, Sauerstoff, Masken oder Impfstoff erfahren wird, zeigt, dass die Märkte nicht in der Lage sind, die Reproduktion und das Überleben aller Menschen zu sichern. Sie funktionieren nach den Prinzipien der Profitsteigerung durch Kostensenkung, Effizienz und Konkurrenz, statt sich an menschlichen Bedürfnissen und dem Gemeinwohl auszurichten. Das verweist auch auf den fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Wachstumsökonomie, dass sie durch Profitgier und Überausbeutung die Quellen des Reichtums in der Natur und der menschlichen Arbeitskraft zerstört.

Das tendenziell Selbstzerstörerische der kapitalistischen Ökonomie ist, dass diejenigen Menschen und Ressourcen verachtet und erodiert werden, die sie zu ihrem Fortbestand braucht. Der Wachstumsimperativ fordert seinen Preis durch den Sorgeextraktivismus bei den Versorgungs- und Sorgearbeiter:innen, die unterbezahlt und unbezahlt, überlastet, aber geringgeschätzt verbinden, beatmen, windeln, putzen, kochen, waschen, streicheln, trösten – tagaus, tagein.

Arbeit, Care und Geschlecht

Kapitalistisches Wachstum nährt sich nicht nur aus der Verwertung von Lohnarbeit und natürlichen Ressourcen. Es ruht auf einem dicken Polster von un- und unterbezahlter Care-Arbeit im Kontext einer geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Care-Arbeit verstehe ich hier als Sich-Sorgen, Versorgung, Pflege und personennahe Dienstleistungen in Gesundheits-, Bildungs- und anderen Sozialbereichen, die jede:r im Laufe des Lebens in unterschiedlichen Formen braucht. Care ist die konkrete Arbeit, die die soziale Reproduktion am Laufen hält. Ohne Care-Arbeit keine Erwerbsarbeit. Aus dieser Perspektive ist sie höchst produktiv, weil sie Leben produziert und erhält.

Perfiderweise setzen der Markt, die Waren- und Geldökonomie die (über-)lebensnotwendige Sorgearbeit als unendlich dehnbare und nachwachsende Ressource und als „natürliche“ weibliche Fähigkeiten voraus. Die Zuschreibung von Sorgearbeiten an Frauen betrifft nicht nur unbezahlte Hausarbeit, sondern auch Lohnarbeit. Auch im Markt gilt Care oft lediglich als Verlängerung von haushaltlichen und mütterlichen Versorgungsaktivitäten, als unproduktiv und keinen Warenwert erzeugend. Das bedeutet, dass Vermarktung und Lohnzahlung, die seit Friedrich Engels als emanzipatorische gleichstellerische Mechanismen gelten, die prinzipielle Abwertung von Care-Arbeiten nicht aufheben, sondern sie für die Profitmacherei nutzen.

Care-Arbeit ist durch eine Eigenlogik des Sorgens und des Sich-Kümmerns gekennzeichnet. Sie hat ihr eigenes Tempo und ihre eigene Produktivität. Da sich das Füttern von Demenzkranken, das Unterrichten von Kindern und Streicheleinheiten nicht immer weiter beschleunigen lassen, zeigen sich hier Grenzen der Rationalisierung. Das kollidiert mit den Marktprinzipien von Effizienz, Konkurrenz und Produktivitätssteigerung und bestätigt die Geringschätzung immer wieder, gerade in Zeiten der Digitalisierung und Automatisierung.

Die andauernde Abwertung von Arbeit in der Reproduktion gegenüber Arbeit in der Produktionssphäre ist ein kapitalistisches Struktur- und Akkumulationsprinzip. Care-Extraktivismus, die intensivierte Kommodifizierung und Ausbeutung von Sorgearbeit, ist ein systemischer Herrschaftsmechanismus, ohne den Märkte und Gesellschaften nicht funktionieren und sich nicht reproduzieren könnten. Auf diese Weise entsteht eine kostengünstige und flexible Care-Arbeiter:innenschaft entlang der sozialen Ungleichheitsachsen von Geschlecht und Klasse, aber auch entlang ethnisierter, rassifizierter und Nord-Süd-Unterschiede. Die einzelne Sorgearbeiter:in ist auf den transnationalen Märkten gezwungen, sich als Unternehmer:in ihrer Care-Kapazität aufzustellen und zu verkaufen.

Eine neoliberale Zuspitzung besteht in der Annahme, dass jeder Mensch selbstverantwortlich den eigenen Körper, das Human- und Sozialkapital sowie die eigene Reproduktion optimieren und ökonomisieren kann. Hier setzt sich der Grundkonsens westlicher Gesellschaften fort, dass Natur, also auch die eigene Natur, prinzipiell beherrschbar sind. In Bezug auf die Körper soll dies von der vorgeburtlichen Diagnostik über die Tracking-Uhr (mit Menstruationskalender) bis zur robotergeleiteten Mobilität im Alter technisch und algorithmisch machbar sein. Autonomie statt Abhängigkeit.

Doch nun kommt die Pandemie als Spielverderberin dieser Fortschrittsfiktion daher. Sie torpediert die Trennung von Produktion und Reproduktion, die rationale Lebens- und Arbeitsplanung, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse gegenüber Natur, Körper und Sozialem, die Autonomie der Individuen. Das verunsichert und tut weh, weil es Grenzen des Fortschritts durch Wissenschaften, Technik und Algorithmen markiert. Das Virus trifft uns nicht nur im physischen Sinne in Mark und Bein, sondern attackiert „unsere“ gesellschaftliche Identität und „unser“ zivilisatorisches Selbstverständnis.

Zwar hatte die zweite Frauenbewegung im Westen Sorge- und Hausarbeit zu einer Verteilungsfrage gemacht, um die Wiederholungsschleife von Arbeit und Geschlecht aufzubrechen. Doch nach Jahren mit Eltern- und Vaterzeit ist der sorgende Mann immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Zu Beginn der Pandemie übernahmen Männer auch mehr Aufgaben beim Home Schooling – Tendenz fallend. Covid-19 wirkt als Ursache eines Backlashs in Bezug auf die emanzipatorischen Errungenschaften, die feministische Kämpfe erreicht hatten: Home Office und Home Schooling revitalisieren traditionelle Geschlechter- und Familienrollen. Care wird ins Private, in die Familie verschoben und gegendert. Die Kernfamilie als Versorgungsinstanz erlebt von Deutschland bis China eine politisch geförderte Renaissance. Während die Figur der multifunktionalen Mutter symbolisch aufgewertet wird, wird die Familie zu einem Kipppunkt für Care-Arbeit: Wie auf den Intensivstationen der Krankenhäuser wird auch in der sozialen Intensivstation von Care, in der Familie, Arbeit entgrenzt. Gleichzeitig nimmt mit dem erhöhten Stress durch Home Schooling, durch Zukunftsängste und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit die Gewalt in Privathaushalten zu. Das System Kleinfamilie ist am Limit.

Der Preis für Gesundheit

Das Gesundheitssystem, das deutsche wie auch viele andere, steht exemplarisch dafür, wie das kapitalistische Streben nach Profiten soziale Bereiche durchdringt, die lange jenseits von Markt und Warenwirtschaft organisiert waren. Gesundheits-, Bildungs- und andere Institutionen der Daseinsvorsorge werden zunehmend privatisiert und finanzialisiert. Immer mehr Gesundheitseinrichtungen sind in privater Trägerschaft und Eigentum großer Konzerne oder börsennotierter Aktiengesellschaften. Paradigmatisch für die kommerzielle Landnahme des Gesundheitsbereichs ist die Einführung des Fallpauschalensystems in privaten wie auch in öffentlichen Krankenhäusern. Der Dreh- und Angelpunkt für die Neustrukturierung von Versorgungseinrichtungen ist die Buchhaltung. Kliniken und Rehas werden aus der Perspektive der Abrechnung von Einzeldiagnosen und -behandlungen organisiert, und nicht orientiert an den Bedürfnissen und Rechten der Patient:innen. Um wirtschaftlich und nicht primär bedarfsorientiert zu arbeiten, wird medizinische und pflegerische Arbeit systematisch der neoliberalen Spardoktrin untergeordnet. Dazu gehört permanentes Monitoring und digitale Dokumentation sowohl zum Zweck der Buchhaltung als auch zur ständigen Überwachung.

Wirtschaftlich arbeiten solche Einrichtungen vermittelt über Quantität, Größe und Geschwindigkeit. Die Quantität medizinischer und pflegerischer Leistungen bringt Gewinne, nicht die Qualität. Kostenoptimierung heißt, dass Kapazitäten für Notfälle nicht vorgehalten werden, denn sie gelten als unwirtschaftlich. Kostenoptimierung bedeutet auch, dass Krankenhäuser, die eine Grundversorgung in ländlichen Regionen gewährleisten und nicht auf Operationen spezialisiert sind, abgewickelt werden. Aus diesem Grund werden auch flexible Pflegekräfte von Leasing-Firmen eingesetzt, um Teilaufgaben zu übernehmen, ohne in den gesamten Pflegeprozess integriert zu werden.

Minutentaktung und Standardisierung sollen mehr Technikeinsatz, mehr Rationalisierungsgewinn, mehr Professionalität, aber auch Arbeitserleichterung ermöglichen. Sie werden jedoch dem ureigenen Tempo von Sorge- und Pflegearbeit – zum Beispiel beim Füttern von Babies und dementen Personen – übergestülpt, ohne Zeit für human touch einzukalkulieren: Streicheleinheiten, Zuspruch und emotionale Arbeit gehen nicht in die Lohnbildung ein und bleiben folglich unbezahlt. Migrantische Kinderbetreuer:innen bauen intensive Beziehungen zu den betreuten Kindern und Alten auf. Keine Ärzt:in stellt nur professionell ein Beatmungsgerät ab, keine Intensivpfleger:in steht ohne Emotionen an einem Sterbebett. Somit ist Sorgearbeit extraktivistisch organisiert, bezahlte Arbeit schließt unbezahlte ständig ein, mit dem Resultat systematischer Unterbezahlung.

Kostenminimierung führt zum Raubbau an den Körpern und der Psyche von Pflegepersonal. Sie steigen aus, weil sie die Grenze, die das wachstumsbesessene System überschreitet, in sich tragen und am eigenen Leibe erfahren. Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen sind gezwungen, ständig neues Personal zu rekrutieren, damit die Versorgungslücken nicht noch tiefer aufklaffen.

Verkettungen und neue internationale Sorgearbeitsteilung

Der akute Notstand in Kranken- und Altenpflege wird in Deutschland ganz selbstverständlich durch den organisierten Import von Care-Lohnarbeiter:innen bewältigt. Seit einigen Jahren normalisiert der deutsche Staat mit direkter Anwerbung, aber auch über Job-Messen die transnationale Rekrutierung vor allem von Altenpflegekräften in Balkanstaaten, nordafrikanischen und asiatischen Ländern und auch in Mexiko. Der Globale Süden wie auch Osteuropa werden als Supermarkt preisgünstig verfügbarer Arbeitskräfte behandelt, aus denen der Globale Norden Sorgekapazitäten abziehen kann, um die eigene Reproduktionskrise in den Griff zu bekommen. Das ist transnationaler Extraktivismus von Care, der offiziell „Triple-Win“ heißt, weil Deutschland, die Pflegekraft und das Herkunftsland von dem Deal profitieren sollen. Die Forderung der WHO, kein Gesundheitspersonal aus Ländern zu rekrutieren, die selbst unter einem Mangel an Kräften leiden, wird munter ignoriert. Im März 2020 importierte Deutschland 75 Intensivpflegekräfte aus den Philippinen per Rekrutierungsflug und Ausnahmeverordnung, sprich: trotz Pflegenotstand und Quarantäne auf den Philippinen und europaweiter Einreisebeschränkungen. Im Dezember 2021 wurden Krankenpfleger:innen aus Kerala in Südindien rekrutiert.

Am anderen Ende dieser Sorgeketten hatten die Philippinen bereits seit den 1970er Jahren den Export von Hausangestellten und Krankenschwestern zur Entwicklungsstrategie erklärt, um die Erwerbslosigkeit im Land zu reduzieren und vor allem um durch Rücküberweisungen Deviseneinnahmen zu bekommen, mit denen sie Staatsschulden zurückzahlen konnten. Den Philippinen folgten inzwischen eine Vielzahl von Ländern, die die Migration als „Patriotismus“ und die Migrantinnen, die ihre Familien zurücklassen, als „Heldinnen der Nation“ feiern.

Im wohlhabenden Zielland werden die Migrant:innen dann als „andere“ konstruiert: Sie seien psycho-sozial für die Altenpflege prädestiniert, weil in ihren Kulturen die Achtung für und Empathie mit alten Menschen stärker sei als im harschen Individualismus des globalen Nordens, die niedrige Bezahlung sei gerechtfertigt, weil sie im Herkunftsland viel mehr wert sei. Kulturalistisch-symbolische Aufwertung und finanzielle Geringbewertung von Care-Arbeiter:innen sind ein Tandem.

Global Care Chains gehören längst genau wie globale Produktionsketten zu den Lebensadern kapitalistischer Globalisierung. Care Chains sind aber immer auch care drain and brain drain. Die Sorgekette, die bei uns einen Mangel behebt, reißt am anderen Ende zum Beispiel in Polen eine Versorgungslücke auf. Während Arbeitskräfte, Ausbildung und Wissen das Land verlassen, werden Versorgungs- und Personaldefizite aus wohlhabenden Ländern und Haushalten in die ärmeren Herkunftshaushalte und -länder verschoben. Dort müssen Sorgearbeiter:innen individuelle Lösungen zur Bewältigung der Unterversorgung finden, durch Mehrarbeit von Verwandten oder Nachbar:innen oder manchmal durch Beschäftigung von noch preisgünstigeren migrantischen Arbeitskräften, in Polen beispielsweise aus der Ukraine. Die Soziologin Arlie Hochschild bezeichnet in ihrer Analyse globaler Sorgeketten die Extraktion von Emotionen als neuen Imperialismus, durch den Familien und Kinder im Norden in den Genuss eines emotionalen Mehrwerts kommen. Liebe und Care sind in diesen Ketten die neue Goldwährung. Durch die imperiale Lebens- und Versorgungsweise der globalen Mittelschichten wird anderswo Armut an Versorgung geschaffen, auch wenn die Einkommensarmut reduziert wird. Das bedeutet eine neue Ungleichheit sozialer Reproduktionsbedingungen, aber auch dass soziale Reproduktionskrisen und die Chancen zu ihrer Bewältigung höchst ungleich verteilt sind.

Silvia Federici bezeichnet es als Prozess permanenter primärer Akkumulation, wenn Care-Arbeiten aus außermarktlichen Bereichen in die kapitalistischen Märkte integriert werden. Dass dies ein fortschreitender Prozess im Bereich der Reproduktion, auch der biologischen Reproduktion ist, hat Covid-19 ins Rampenlicht gebracht. In Repro-Kliniken in der Ukraine warteten Dutzende von Leihmüttern geborene Babys auf Abholung durch ihre genetischen Eltern. Die konnten wegen Corona nicht einreisen, um ihr bestelltes, mithilfe von Reproduktionstechnologien zustande gekommenes Kind fristgerecht in Empfang zu nehmen.

Bioökonomische Märkte bieten ungewollt Kinderlosen Wertschöpfungsketten mit den notwendigen biologischen Ressourcen, Dienstleistungen, Pharmazeutika und Technologien an: Ei-, Samen- und Stammzellen aus den USA, die notwendigen Hormone vom Pharmakonzern Merck aus Deutschland, eine Leihmutter aus dem Globalen Süden/Osten. Das Verbot von Eizellabgabe und Leihmutterschaft in vielen Ländern führte zur Entstehung eines Fruchtbarkeitstourismus. Auch diese Ökonomisierung eines zutiefst als privat, intim und fern aller privatwirtschaftlichen Verwertung erscheinenden lebensweltlichen Bereichs bedeutet eine Landnahme vorher nicht kommerzialisierter Bereiche des Sozialen, von Körper und Natur. Sowohl die nach einer Hormonbehandlung erfolgte Bereitstellung von Eizellen durch eine „Spenderin“ als auch die Bereitstellung eines Uterus als Gefäß für das Kind anderer bedeuten eine Auslagerung von reproduktiver und Sorgearbeit. Da Organe und Körpersubstanzen wie Eizellen offiziell nicht als Ware gehandelt werden dürfen, müssen sie altruistisch „gespendet“ werden. Die entsprechende Entlohnung trägt das Etikett „Kompensation“. So gerät auch die biologische Reproduktion in den Sog von Vermarktung und Verwertung.

Systemrelevanz und Commons

Wir brauchten eine Pandemie, damit eine breite Öffentlichkeit die Systemrelevanz von Care-Arbeiten thematisierte. Applaus von allen Rängen für das Gesundheitspersonal. Viele Pflegekräfte haben das Beklatschen jedoch als real-existierenden Zynismus wahrgenommen. Denn sie kämpfen und streiken seit Jahren vergeblich für mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung.

In den vergangenen Jahrzehnten politisierten Arbeitskämpfe in den Sozial-, Pflege- und Erziehungsdiensten Sorgearbeit und Arbeitsbedingungen. Den Anfang machten zum Höhepunkt der Finanzkrise 2008/09 die KiTa-Beschäftigten mit der Frage, ob sie nicht systemrelevant seien, sondern nur Banken. Paradigmatisch waren die Streiks an der Charité in Berlin. 2011 hatte ein Streik Lohnerhöhungen zur Folge, aber auch Personalabbau, was zu einer stärkeren Arbeitsbelastung bei dem verbliebenen Personal führte. Deshalb rückten nachfolgende Streiks mit dem Slogan „Mehr von uns ist besser für alle!“ die Qualität der Pflege in den Vordergrund. Jenseits von geringer Entlohnung skandalisierten die Proteste wie nie zuvor den Mangel an Anerkennung und Wertschätzung und forderten dabei aber gleichzeitig strukturelle Veränderungen wie ein Aufweichen der Pflegemodule und der Fallpauschalenabrechnung.

Während der ersten Welle der Pandemie protestierte medizinisches und Pflegepersonal in vielen Ländern gegen den Mangel an Infektionsschutz und die darin offensichtliche Missachtung ihrer Arbeit und ihrer Körper. In afrikanischen Ländern wie Zimbabwe, Ghana und Nigeria gab es Proteste gegen schlechte Bezahlung und Überbelastung, die auch eine Folge des transnationalen Exodus von Gesundheitspersonal ist. In den USA und Großbritannien war unter den Corona-Toten ein überproportional hoher Anteil von Schwarzen Menschen. Auch unter dem infizierten Gesundheitspersonal waren in den USA, England und Schweden ebenfalls überdurchschnittlich viele Schwarze Menschen und Eingewanderte. Care und Gesundheitsversorgung sind eine Frage sozialer Gerechtigkeit.

Mit der Politisierung von guter Pflege als Allgemeininteresse traten die Sorgearbeitskräfte als politische Subjekte aus der Unsichtbarkeit heraus. Pflegekräfte an vielen Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen in Europa solidarisierten sich und protestierten. Die Botschaft ist, dass eine hochwertige Versorgung unter den Bedingungen der Pandemie und eine bessere Pflegequalität allgemein unter neoliberalen Bedingungen nicht leistbar ist. Ein gutes Leben hingegen braucht eine hohe Qualität von Versorgung und Daseinsvorsorge. Deshalb sind die Proteste und Streiks des Gesundheitspersonals anti-neoliberal: Sie klagen ein wachstumsorientiertes neoliberales Gesundheitssystem an, das krank macht; sie politisieren Care und fordern einen polit-ökonomischen und kulturellen Paradigmenwechsel, der Rechten und Bedürfnissen der Menschen Vorrang vor Effizienz und Profit gibt.

Ein wesentlicher Schritt im Sinne der Commons wäre, Care der Profitmacherei auf den Gesundheits-, Erziehungs- und Betreuungsmärkten zu entziehen. Care muss als Gemeinschaftsgut und nicht als Ware auf Gesundheits- und Betreuungsmärkten behandelt werden. Die Proteste und Kämpfe der Gesundheitsarbeiter:innen haben emanzipatorische und transformatorische Potenziale, um Krisen sozialer Reproduktion, die auf den Märkten systemisch mit Anerkennungs-, Zeit- und auch Einkommenskrisen verflochten sind, zu überwinden. Die Spezifik von Sorgekämpfen, dass es um das gute Leben und die Qualität sozialer Reproduktion geht und zwar auf Grundlage von Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie und Zeitwohlstand macht sie anschlussfähig an andere soziale Bewegungen, die alternative Praktiken von Produktion, Reproduktion und Verteilung erproben.

Die Pandemie macht schmerzlich erfahrbar, dass Gesundheit ein Gemeingut und weder handelbar noch verhandelbar ist. Eine Freigabe von Patenten und eine Commons-basierte Impfstoffproduktion und -verteilung wäre aktuell eine Chance, lebensnotwendige Produkte und Dienstleistungen, Medikamente und Care-Arbeit der Profit- und Wachstumsbesessenheit auf globaler Ebene zu entziehen und öffentliche Versorgung zu bevorzugen. Bleibt zu hoffen, dass die Pandemie als Hebel wirkt, um die Unvereinbarkeit von Qualitätsversorgung und Verwertung in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu befördern. Die Risse im Corona-Kapitalismus, die offensichtlich geworden sind, müssen weiter aufgesprengt werden.

Anmerkung

Bei diesem Essay handelt es sich um die gekürzte und aktualisierte Fassung eines Artikels, der am 06. Mai 2021 in Grenzgängerin Nr. 3 „Kapitalismen“ erschienen ist.

Zitathinweis: Christa Wichterich: Am Limit – Covid-Kapitalismus, Kipppunkte und Care. Erschienen in: Pandemisches Zeitalter. 63/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/s/dBM9q. Abgerufen am: 02. 11. 2024 08:46.