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Warum die Araber:innen keine Nazis sind

Buchautor_innen
Gilbert Achcar
Buchtitel
Die Araber und der Holocaust
Buchuntertitel
Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen

Die Analyse der Holocaust-Rezeption im arabischen Raum wirft wichtige Fragen zu Antisemitismus und historischen Narrativen im Kontext des Nahostkonflikts auf.

Im Februar 2024 titelt das ZEIT Magazin: „Ich finde es nicht richtig, dass man sich nur auf den 7. Oktober fokussiert“. Auf dem Cover war eine junge Frau mit Kopftuch und Kuffiye (Palästina-Schal) um die Schultern zu sehen. Der Leitartikel „Unter uns Palästinensern“ thematisiert die Frage, was Palästinenser:innen über den 7. Oktober und über den Gaza-Krieg denken. Als Reaktion darauf postet Volker Beck, Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, scharfer pro-israelischer und antiarabischer Meinungsmacher und Grünen-Politiker, einen Tweet: Er ersetzt darin die palästinensische junge Frau auf dem Titelbild des ZEIT Magazins mit einem Bild von Adolf Hitler und dem Zitat „Ich finde es nicht richtig, dass man sich nur auf die Shoa fokussiert.“ Seine Message an die Zeit: „@DIEZEIT, der Mohammed Amin al-Husseini hat Euch wohl den Kopf verdreht?“

Der Vergleich von Palästinenser:innen wie auch Araber:innen generell mit Nazis unter dem Verweis auf Mohammed Amin al-Husseini als Nazifreund und Urvater des palästinensischen Antisemitismus hat insbesondere in der israelischen Staatspropaganda eine lange Tradition. Sie reicht bis in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Doch wie stehen und standen die Araber:innen – während der Shoa und danach während der Nakba (arab. „Katastrophe“) – zum Holocaust? Kann man den Antisemitismus in Europa und jenen im arabischen Raum vergleichen? Und sind es heute wirklich die Araber:innen, die – wie Volker Beck und andere behaupten – den Antisemitismus wieder nach Deutschland bringen?

Die arabische Holocaustdebatte

Gilbert Achcar, libanesisch-französischer Soziologe und Professor für internationale Beziehungen an der Universität London, geht diesen kontroversen Fragen nach und legt eine historische und kritische Aufarbeitung zur Holocaust-Rezeption im Kontext des palästinensisch-israelischen Konflikts seit dem Ersten Weltkrieg vor. Zunächst als Artikel angedacht, entstand ein eklektisches, nicht immer ganz einfach zu lesendes, an Zitaten reiches Werk. „Die Araber und der Holocaust – der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“ wurde 2009 auf Französisch und 2011 auf Deutsch veröffentlicht. Man kann sich streiten, ob der Titel geschickt gewählt ist, denn ein zentrales Argument von Achcar ist, dass es nicht die Araber:innen beziehungsweise die arabische Perspektive gibt, sondern eine historisch sich verändernde Debatte um Israel und den Holocaust. Sie ist im arabischen Raum (von Marokko bis in den Irak) ebenso heterogen und umfangreich wie jene im Westen. Auf jeden Fall aber ist der Titel provokativ und trifft ins Herz des hiesigen anti-arabischen Ressentiments, das nach dem 7. Oktober 2023 noch einmal angeheizt wurde.

Achcars Buch wurde nach seiner Erstveröffentlichung durchaus kontrovers diskutiert. Auch jüdische und selbst zionistische Stimmen sahen darin einen wertvollen Beitrag zum Nahostkonflikt und diskutierten die Inhalte in Zeitungsbeiträgen und auf Panels. Eine wesentliche Dimension dieses Konflikts ist für Achcar der Krieg der Geschichtsschreibungen. Ein markanter Punkt, so der Soziologe, sei am Eichmann-Prozess 1961 festzumachen, bei dem Israel unter Ben Gurion das Ziel verfolgte, in der Berichterstattung um den Gerichtsprozess die Verbindungen von Nazis und arabischen Führern, insbesondere dem Großmufti Amin Al-Husseini, systematisch hervorzuheben. Die umliegenden arabischen Länder wurden so von Israel als Nazi-Kollaborateure und ihre politische Feindschaft gegenüber Israel als Antisemitismus dargestellt. Diese „Verpflanzung einer Realität (die der Nazis, Anm. AT) in eine andere (die der arabischen Staaten, Anm. AT)“, so Achcar, löste damals in der arabischen Welt „tiefe Irritationen“ (S. 199f.) aus, habe sich aber über die Jahrzehnte verfestigt und ausgeweitet. Heute wird in der Propagandaschlacht um den Gaza-Krieg wild mit Nazi-Vergleichen um sich geworfen, auch seitens arabischer Akteur:innen.

Seit dem Massaker durch die Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Genozid an den Palästinenser:innen durch das israelische Militär, hat auch der Krieg der Geschichtsschreibungen in den Räumen der UNO, der internationalen Gerichtshöfe (ICC, ICJ) und der internationalen Presse einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Welt scheint in der Frage, ob Israel einen Genozid begeht, in einen Block westlicher imperialer Mächte und einen Block des globalen Südens samt internationaler Menschenrechtsorgane zu zerfallen. Im Herzen des Konflikts steht das Vermächtnis des Holocausts: Ist er noch ein Prüfstein für die Bewertung antisemitischer und rassistischer Gewalt oder ist er vielmehr zur propagandistischen Waffe in der Durchsetzung staatlicher Interessen geworden?

Der Krieg der Geschichtsschreibungen

Das israelische Narrativ: Israel ist aus der Asche des Holocausts entstanden und bietet den einzigen sicheren Ort für Jüdinnen und Juden. Wer diesem Projekt feindlich gegenüber steht, steht der Sicherheit der Juden und Jüdinnen feindlich gegenüber und ist Antisemit:in. Das gilt auch für den palästinensischen Widerstandskampf und die Anerkennung der Nakba als zentraler Ungerechtigkeit der palästinensischen Geschichte. Dieses Narrativ, so Achcar, basiere auf einem spezifischen, verallgemeinernden Bild „der Araber“, wonach ihnen eine gewisse Verantwortung für den Holocaust zukomme: Figuren in der arabischen Welt, wie eben Amin al Husseini, hätten demnach einen direkten Einfluss auf den Genozid an den Jüdinnen und Juden gehabt und hätten – aufgrund ihres Antisemitismus – die Existenz der Juden und Jüdinnen ebenso wie den staatlichen Zionismus bekämpft. Seit der Staatsgründung Israels 1948 spiele dieses Narrativ eine wichtige Rolle, um Geldgeber und Alliierte im Westen zu finden, um Israel als koloniales Siedlerprojekt zu rechtfertigen, argumentiert Achcar. Die Erzählung werde heute von westlichen Regierungen, allen voran in Deutschland, Großbritannien und den USA, geteilt.

Demgegenüber das arabische Narrativ: Der Holocaust ist eine der schlimmsten menschlichen Tragödien, die direkten Einfluss auf die palästinensische Gesellschaft hatte: durch die Staatsgründung Israels und die Nakba. „Selbstverständlich war der Holocaust unvergleichlich grausamer und blutiger als die Nakba“, schreibt Achcar. Doch das „Zusammentreffen historischer Umstände war dafür verantwortlich, dass die jüdische Tragödie, die in der Shoa ihren traurigen Höhepunkt fand, ebenfalls in der palästinensischen Tragödie, der Nakba, kulminierte“ (S. 24). Während und nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 wurden circa 700 000 palästinensische Araber:innen aus ihren Heimatorten in Flüchtlingslager vertrieben. Viele warten bis heute auf ihre Rückkehr. Deswegen sei, so Achcar, nicht nur für die palästinensische, sondern auch die arabische Geschichtsschreibung die Nakba zentral. Die Staatsgründung Israels, die damit einhergehende Vertreibung, Enteignung und Entrechtung der Palästinenser:innen führte zu weitreichenden politischen und sozialen Veränderungen im gesamten Nahen Osten. Vor allem der für Israel siegreiche Sechstagekrieg 1967, so der Autor, sei als ein zentraler Auslöser für das Erstarken eines arabischen Nationalismus und Motor arabischer Bemühungen zu begreifen, Israel – wirtschaftlich und militärisch – zu isolieren und zu bekämpfen.

Achcar geht es um einen Dialog zwischen den beiden antagonistischen Perspektiven im Krieg der Geschichtsschreibungen. Als arabischer und sozialistischer Intellektueller bemüht er sich dabei um das Sichtbarmachen und die kritische Aufarbeitung der palästinensischen und arabischen Perspektive im Nahostkonflikt. Dies ist für den deutschen Kontext zentral. Einem Kontext, indem die palästinensische – und auch die arabische – Perspektive zensiert und unterdrückt wird und so die Staatsräson, die dem israelischen Narrativ folgt, antiarabischem Rassismus in bedrohlichem Ausmaß zuträglich ist.

Wir müssen kontextualisieren!

Zur Zeit des Nationalsozialismus, so Achcar, ergriffen viele arabische Führer Partei für die Achsenmächte, angetrieben von antikolonialen Bestrebungen (gegen Frankreich und Großbritannien) und fasziniert von Hitlers Nationalismus. Dies änderte sich, als sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete. Die Haltung vieler arabischer Führer entpuppte sich als Opportunismus in ihren eigenen nationalistischen Bestrebungen. An Hitlers antisemitischer Rassentheorie, der zufolge sie selbst als Untermenschen gelten würden, seien sie damals nicht interessiert gewesen, so Achcar.

Er argumentiert weiter, dass sich der Antisemitismus Europas – der bereits im Mittelalter aufkam, in dessen Kontext die zionistische Bewegung zu sehen ist und der schließlich im Holocaust der Nazis gipfelte – strukturell vom Antisemitismus im arabischen Raum unterscheidet. Letzterer habe sich vor allem als Reaktion auf die Balfour-Erklärung 1917, mit der die Gründung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ auf dem Gebiet Palästinas beschlossen wurde, und dem staatlichen Zionismus entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere im Verlauf der 1950er Jahre kam es zum verstärkten Zuzug verschiedener jüdischer Bevölkerungsteile aus dem arabischen Raum nach Israel, etwa aus Regionen des ehemaligen Osmanischen Reichs. Zuvor koexistierten jüdische, muslimische und christliche Gemeinden. Die geografische und historische Kontextualisierung ist für Achcar die Bedingung dafür, um Antisemitismus – nicht nur – im arabischen Raum wie auch antiarabischen Rassismus in Europa (allen voran Deutschland) adäquat zu erkennen und zu bekämpfen.

Ein antirassistischer Beitrag zur Antisemitismus-Debatte

Für Achcar ist Israel ein „kolonialer Siedlerstaat europäischen Ursprungs“ (S. 32). Seine klare Haltung mag einige Gemüter provozieren, schafft aber Transparenz. Vor allem, weil sich Achcar konsequent gegen jede Form der ethnozentrisch geführten Diskussion („die Juden“ oder „die Araber“) wehrt. Er schafft dies, indem er politische Strömungen, Ideen und Aussagen in ihren politisch-historischen Kontext und in Dynamiken zwischen West und Ost einbettet. Achcar weist die Annahme zurück, dass der Palästina-Konflikt das Resultat von einem immer schon im arabischen Raum vorherrschenden Antisemitismus sei, auf den es nur die Antwort eines starken militarisierten israelischen Staates gebe. Nimmt man hingegen an, so Achcar, dass der arabische Antisemitismus vor allem ein Effekt dieses Konflikts ist, dann gibt es Auswege aus ihm und Auswege aus dem Antisemitismus.

Achcar verurteilt jede Form von Antisemitismus. Als historischer Materialist ist er für ihn aber nur dann überwindbar, wenn man ihn historisch kontextualisiert. Dann geht es nicht mehr um essentialistische Vorstellungen von Kulturen und Identitäten, sondern um ein Resultat von historisch-politischen Projekten, die zu bestimmten ideologischen Perspektiven führen. Dafür zu argumentieren ist eine zentrale Funktion des Buches. Nur so ist für ihn ein Dialog zwischen der palästinensischen und der israelischen Perspektive möglich. Noch aufschlussreicher wäre es allerdings gewesen, wenn Achcar – gerade als sozialistischer Denker – Israel auch in Begriffen der kapitalistischen Ausbeutung und Klassenverhältnisse analysiert hätte. Denn darin liegt die tatsächliche Alternative zur ethnozentrischen und oft moralisch geführten Debatte seit dem 7. Oktober 2023.

Der Antisemitismus eines Volker Beck

Achcars breit angelegter ideengeschichtlicher Überblick der arabischen Reaktionen auf die Nazis, die zionistische Bewegung und die Staatsgründung Israels bleibt aufgrund der Fülle an Material teils fragmentarisch, etwa bei der Einordnung der Antisemitismusdebatte in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). An vielen Stellen argumentiert Achcar mit Zitaten, es hätte dem Buch jedoch gutgetan, stattdessen klarere Einordnungen des Autors selbst zu erhalten. Ungeachtet dessen liefert die Studie aber ein entscheidendes und dringendes Deutungsangebot für die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im arabischen Raum und einer hierzulande einseitig geführten Debatte.

Wer sich für den Nahost-Konflikt interessiert und bemüht darum ist, sich differenziert mit dem Vermächtnis des Holocausts und der Rolle Israels dabei auseinanderzusetzen, sollte dieses Buch auf jeden Fall lesen. Es verdeutlicht, dass der Antisemitismus, der heute vor allem bei Araber:innen und Muslim:innen verortet wird, eine lange europäisch-westliche Vorgeschichte hat. Die einseitige Projektion des Antisemitismus auf Araber:innen dient in Deutschland nicht zuletzt dazu, antisemitische Untertöne eines Volker Beck zu überhören. Indem dieser nämlich jede Form von Kritik gegenüber Israel als antisemitisch erklärt, greift er selbst die Vielfalt jüdischer Perspektiven auf den Nahostkonflikt an. Er stellt sich damit in die Reihe jener nicht-jüdischen Deutschen, die zu wissen meinen, wer auf der Welt als ein richtiger Jude*, eine richtige Jüdin* zählt – und wer nicht.

Gilbert Achcar 2012:
Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Übersetzt von: Sophia Deeg und Birgit Althaler.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-89401-758-3.
368 Seiten. 25,00 Euro.
Zitathinweis: Amina Tschopp: Warum die Araber:innen keine Nazis sind. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/Yg8xc. Abgerufen am: 16. 10. 2024 02:18.

Zum Buch
Gilbert Achcar 2012:
Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen. Übersetzt von: Sophia Deeg und Birgit Althaler.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-89401-758-3.
368 Seiten. 25,00 Euro.