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Vom Scheitern der Gleichung Europäisierung = Frieden

Buchautor_innen
Nebi Kesen
Buchtitel
Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union

Kesen spiegelt die kurdischen Debatten um eine demokratische Lösung der „Kurdenfrage“ und skizziert den Ansatz derjenigen Akteure, die in der Hoffnung auf politische Veränderungen in der Türkei auf die EU gesetzt haben und hier wiederholt enttäuscht werden mussten.

Die Europäische Union (EU) steckt gegenwärtig in ihrer tiefsten Krise und es ist ungewiss, ob sie in ihrer jetzigen Form bestehen wird. Die Krise führt auch teilweise zu einer Entwertung der bisherigen politikwissenschaftlichen Literatur, die von Prämissen ausging, die inzwischen wenig Gültigkeit beanspruchen können. So ging etwa die These von der „Europäisierung“ davon aus, dass die Nähe zur EU mit Demokratisierung und ökonomischem Erfolg gleichzusetzen sei. Auch wurde angenommen, dass Staaten bereit wären, ihre politischen und ökonomischen Strukturen grundlegend zu ändern, um als EU-Beitrittskandidaten anerkannt zu werden. Innerhalb weniger Jahre sind die Ansprüche wesentlich bescheidener geworden. Während bis vor kurzem von der „normativen Kraft“ der EU die Rede war, würde einigen Akteuren inzwischen der institutionelle Selbsterhalt bereits genügen. Insofern ist der Blick in eine politikwissenschaftliche Publikation von 2009 eine kleine Zeitreise.

Das Szenario, an dem Kesen ansetzt, ist folgendes: Mit dem Wahlsieg der moderat-islamischen AKP-Partei 2002 kam es in der Türkei zu einer ganzen Reihe von innen- und außenpolitischen Veränderungen. Es gab vorsichtige Hoffnungen auf eine Überwindung des „Kurdenkonflikts“ und auch im schleppenden EU-Annäherungsprozess schienen Fortschritte möglich zu sein. Im sich entwickelnden Machtkampf zwischen der AKP-Regierung und den alten kemalistischen Eliten (nicht zuletzt in der Militärführung) setzten viele Linke und Akteure aus den Minderheiten darauf, dass die AKP die richtige Ansprechpartnerin für Frieden in den kurdischen Gebieten und Demokratisierung im Gesamtstaat sei. Insbesondere schien das Schielen der AKP-Regierung auf einen möglichst schnellen EU-Beitritt der Türkei ein Hebel zu sein, um politische Reformen durchzusetzen. Die Hoffnung war, dass die EU demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards verlangen würde, die von der AKP-Regierung umgesetzt würden um den Beitrittskandidatsstatus zu erlangen. Sei es Folterverbot, Abschaffung der Todesstrafe, Autonomie für KurdInnen, politische Meinungsfreiheit, stärkeres Vorgehen gegen Sexismus - die Liste der Hoffnungen war lang.

Die Publikation lässt sich in drei Aspekte unterteilen. In einem ersten Schritt beschreibt Kesen die Verhandlungsprozesse zwischen der EG (und später EU) und der Türkei, die seit 1963 andauern. Während andere Staaten wie etwa Griechenland Schritt für Schritt an die EG/EU herangeführt werden, stockt der Prozess für die Türkei. Militärputsche 1960 und 1971, die Militärintervention 1974 in Nordzypern, 1980 wieder ein Militärputsch, der PKK-Konflikt in den kurdischen Gebieten ab 1984 – die Liste der „politischen Instabilitäten“ scheint lang. Erst mit Abnahme der bewaffneten Kämpfe in den kurdischen Gebieten ab 1999 wird die Türkei als EU-Beitrittskandidat anerkannt. Kesen beschreibt die Türkei als „defekte Demokratie“, wobei die Defizite im Vergleich zu den „europäischen Werten und Normen“ (vgl. S. 132) festgestellt werden. Konkret geht es dabei um die fehlende Inklusion der ethnischen und religiösen Minderheiten, die fehlenden Partizipationschancen für die Bevölkerung und die dominante Rolle der türkischen Militärs in Politik und Gesellschaft. Diese Demokratiedefizite werden mit dem „Kurdenkonflikt“ zusammengebracht:

„Die politischen Defizite des Landes sind einerseits ein Hindernis für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, weshalb die Überwindung dieser Defizite im Beitrittsprozess auch zur Verbesserung der Lage der Kurden führen wird. Andererseits handelt es sich bei der Kurdenfrage um ein ethnisch-nationales Problem der Türkei, das ursächlich für die politischen Defizite ist“ (S. 137).

Anschließend wird die Geschichte der Kurden im Osmanischen Reich und in der Türkischen Republik aufgerollt. Kesen beschreibt die kooperative Rolle der kurdischen Eliten im Reich und ihre Zusammenarbeit mit den türkischen Nationalisten nach dem Ersten Weltkrieg, wobei er dies darüber erklärt, dass die Kurden „kaum ein nationales Bewusstsein pflegten“ (S. 151). Dagegen lässt sich einwenden, dass die Politik der kurdischen Eliten nicht durch eine ideologische Schwäche zu erklären ist, sondern dass ihrer politischen und ökonomischen Interessen einem vermeintlich „gesamtkurdischen“ Interesse entgegenstanden (vgl. Bruinessen 2003, S. 566).

Die Unterdrückung der Kurden nach 1923 und die kurdischen Aufstände gegen die staatliche Türkisierungspolitik werden skizziert. In dem Mehrparteiensystem nach 1945 versuchten kurdische Akteure erneut politisch und gesellschaftlich aktiv zu werden, sei es durch Ansätze, die kurdische Sprache und Literatur zugänglich zu machen oder auf die ökonomische Benachteiligung der kurdischen Regionen aufmerksam zu machen. Aber auf diese Ansätze reagierte der Staat mit Repression, was zu der Gründung von illegalen kurdischen Organisationen führte. Teil dieser Repression waren drei Militärputsche (1960, 1971 und 1980). Ausführlich wird die Situation nach dem Militärputsch 1980 darstellt, was sich auch dadurch erklärt, dass Kesen die Perspektive der EU übernimmt: „Spätestens bei der Überprüfung (…) [des] 1987 gestellten türkischen Antrag[s] auf Vollmitgliedschaft war die EG gezwungen, sich mit der Kurdenfrage (…) ausführlich zu befassen.“ (S. 90)

Nach der Darstellung der „Kurdenpolitik“ des türkischen Staates entwirft Kesen Vorschläge für eine „Kurdenpolitik“ der Europäischen Union. Die EU solle die Kurden als Nation anerkennen, womit auch die „Akzeptanz des Rechtes der Kurden auf Selbstbestimmung, (…) [das in] einem eigenen Staat (Sezession) oder aber in der Gestalt einer föderalen Ordnung ausgeübt werden“ (S. 245) könne, einhergehe. Dadurch, dass für die Türkei der EU-Beitritt so wichtig sei, verfüge die EU über genügend Machtmittel, grundlegende politische Veränderung zu bewirken. Diese Veränderungen beinhalten unter anderem die

„Aufgabe der auf türkischem Nationalismus basierenden Staatsideologie und die Änderung der Verfassung, Unterbinden des politischen Einflusses der Militärs, Aufnahme der Minderheitenrechte in nationales Recht, Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung und Einführung der dezentralen und lokalen Selbstverwaltung, regionale Wirtschaftsentwicklungsprogramme für kurdische Regionen “ (S. 211f).

Anschließend entwirft Kesen ausführlich die Umgestaltung der Türkei in einen föderalen Staat, der „auf die Prinzipien Dezentralisation, Symmetrie, Subsidiarität und Solidarität bauen soll“ (S. 281). Er stellt dabei fest, dass die „Forderung nach einem föderalen Staat als Lösung der Kurdenfrage und die Diskussion darüber [...] ausschließlich von den Kurden“ (S. 301) ausgeht.

Unklar bleibt jedoch, wie diese grundlegenden Veränderungen und die Einführung eines dezentralen föderalen Staates im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses der Türkei bewirkt werden soll, wenn die offiziellen Verhandlungspartner diese Agenda so nicht teilen. Diese Frage stellt sich 2012 wesentlich drängender, da die Anziehungskraft der EU deutlich nachgelassen und der türkische Staat politisch und ökonomisch an Kraft gewonnen hat. Es ist absehbar, dass die Interessen der kurdischen Bevölkerung in den EU-Verhandlungen keine prominente Rolle spielen werden und höchstens als Taktiermasse für andere Verhandlungspunkte (zum Beispiel Zölle oder finanzielle Zuschüsse) genutzt werden.

Was bleibt? Die Publikation spiegelt die Perspektiven einiger kurdischer Akteure, die in der Hoffnung auf politische Veränderungen in der Türkei auf die EU gesetzt haben und hier wiederholt enttäuscht werden mussten – weil die Interessen der EU nicht mit ihren Interessen übereinstimmte. Diese Hoffnungen müssen inzwischen angesichts der EU-Krise (und dem Machtgewinn der Türkei) zunehmend aussichtslos erscheinen. Für die deutschsprachigen LeserInnen lässt sich Kesen insofern empfehlen, weil er die kurdischen Debatten zugänglich macht und die politischen Forderungen und Ansätze strukturiert. Bei zukünftigen Studien wäre eine kritische Reflexion dieser Strategien und der tatsächlichen Politiken der EU gegenüber der kurdischen Bevölkerung wünschenswert.

Zusätzlich verwendete Literatur

Bruinessen, Martin van (2003): Agha, Scheich und Staat. Politik und Gesellschaft Kurdistans: Berlin: edition Parabolis.

Nebi Kesen 2009:
Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union.
Nomos Verlag, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-8329-4818-4.
343 Seiten. 59,00 Euro.
Zitathinweis: Ismail Küpeli: Vom Scheitern der Gleichung Europäisierung = Frieden. Erschienen in: Sommerausgabe. 20/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/s/jswCM. Abgerufen am: 21. 12. 2024 19:07.

Zur Rezension
Zum Buch
Nebi Kesen 2009:
Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union.
Nomos Verlag, Baden-Baden.
ISBN: 978-3-8329-4818-4.
343 Seiten. 59,00 Euro.