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Staatsverschuldung: Geliebter Feind

Buchautor_innen
Ingo Stützle
Buchtitel
Austerität als politisches Projekt
Buchuntertitel
Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise

Ingo Stützle zeigt, wie das neoliberale Dogma des „ausgeglichenen Staatshaushalts“ in Europa politisch durchgesetzt und ausgenutzt wurde – und noch immer wird.

Wenn heute in Politik, Wissenschaft und Medien über die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa diskutiert wird, dann in erster Linie über Staatsverschuldung. Die Krise gilt schlechthin als „Staatsschuldenkrise“. Schuldenstände insbesondere der Krisenstaaten in Südeuropa werden hoch und runter analysiert, ihr Abbau in einem gescheiterten „Anpassungsprogramm“ oder „Memorandum“ nach dem anderen als Ziel definiert, staatliche Ausgaben entsprechend mehr und mehr gekürzt. Dieser Umgang mit der Eurokrise kommt nicht von irgendwoher, wie Ingo Stützle zeigt: Vielmehr wurde das neoliberale Dogma des „ausgeglichenen Staatshaushalts“ im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses seit mindestens den 1970er Jahren erfolgreich durchgesetzt, wobei Deutschland eine besonders aktive und tragende Rolle spielte.

Historische Hintergründe der europäischen Integration

Ausgangssituation dafür waren die wirtschaftlichen Umwälzungen der 1970er Jahre, insbesondere der Zusammenbruch des Währungsregimes von Bretton Woods. (Als Bretton-Woods-System wird die internationale Währungsordnung bezeichnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde und die den Dollar als Ankerwährung bestimmte.) Zugleich setzten sich weltweit, insbesondere aber eben auch im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, neoklassische Wirtschaftstheorien durch. Damit gewannen Märkte im Allgemeinen und Finanzmärkte im Besonderen an Bedeutung und Größe, kollektive Lohnverhandlungen und soziale Absicherung galten zunehmend als schädlich und der wirtschaftlichen Entwicklung hinderlich. Da der Staat sich aus der Wirtschaft heraushalten sollte, galt entsprechend auch Staatsverschuldung zunehmend als negativ. Stützle beschreibt eingängig nicht nur die ideologischen und wirtschaftspolitischen Veränderungen jener Zeit, sondern auch deren ideengeschichtlichen Hintergründe.

Nicht nur, aber auch als Reaktion auf die wirtschaftlichen Umwälzungen der 1970er Jahre kam es zu einer spezifischen, immer engeren Integration der Staaten zunächst Westeuropas, nach 1990 dann auch Osteuropas. Geprägt war und ist sie in hohem Maße von jenen ideologischen Umwälzungen, durch die die so genannte Neoklassik zum herrschenden wirtschaftspolitischen Paradigma wurde. In weiten Teilen seines Buches widmet sich Stützle diesen Entwicklungen – von Bretton Woods über den europäischen Binnenmarkt, das Europäische Währungssystem, die europäische Währungsunion bis hin zur Eurokrise. Sehr kleinteilig und ausführlich analysiert er Positionen und Beschlüsse der handelnden Akteure, macht Widersprüche aus, beschreibt und erklärt politische Entscheidungen. Gerade diese historische Detailgenauigkeit, die mit einem ausgeprägten Gespür für wirtschaftstheoretische Fragestellungen einhergeht, ist die Stärke des Buches.

Bei Stützles Ausführungen zur europäischen Integration bilden die Konflikte zwischen den beiden wichtigsten Eurostaaten Deutschland und Frankreich zu Recht einen eindeutigen Schwerpunkt und roten Faden. Mit diesen beiden Ländern trafen, wie Stützle deutlich macht, zwei europäische Stabilitätskulturen aufeinander: In Frankreich galten und gelten, wie auch in südeuropäischen Ländern, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik als staatliche Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand; dem Staat obliegt eine aktive wirtschaftspolitische Rolle. Für Deutschland hingegen galten und gelten, wie auch für andere mittel- und nordeuropäische Länder, Geldwertstabilität, eine starke Währung und Exporterfolge als übergeordnete Ziele. Hieraus folgt das Primat einer unabhängigen Geldpolitik, einer zurückhaltenden Finanz- und Wirtschaftspolitik und einer gemäßigten Lohnentwicklung.

Zentrale Rolle Deutschlands – das Dogma des ausgeglichenen Staatshaushalts

Führt man sich vor Augen, in welchem Zustand sich Europa heute befindet, wie es institutionell aufgestellt ist und welche Politikrezepte zur „Lösung“ der Eurokrise angewendet werden, so wird deutlich: Deutschland dominiert. Diese Dominanz ist aber, und dies wird oft gerne vergessen, keineswegs neu. Stützle zeigt: Es war Deutschland, das Preisstabilität als oberstes Ziel durchgesetzt hat – und zwar schon zu Zeiten des Europäischen Währungssystems, als die D-Mark europäische Leitwährung war und die Bundesbank de facto die Geldpolitik auch in Paris und Rom bestimmt hat. Es war Deutschland, das dafür gesorgt hat, dass die Europäische Zentralbank politisch unabhängig ist (und deshalb etwa auch keine Staatsanleihen direkt bei den Staaten kaufen darf, ein Instrument, das heute dringend benötigt würde). Es war Deutschland, das sich strikt gegen Finanzausgleichsmechanismen in Europa wehrte und diese faktisch verhinderte – und zwar ebenso schon lange vor, aber eben auch in der Währungsunion. (Damit fehlt heute ein weiteres Instrument, das hilfreich sein könnte.) Und es war Deutschland, das sich vor und während der Eurokrise wiederholt dem französischen Ansinnen einer europäischen Wirtschaftsregierung widersetzte.

Vor allem aber setzte Deutschland sein Dogma des ausgeglichenen Staatshaushalts durch (von Stützle neutraler als „Leitbild“ bezeichnet). Es war in erster Linie Deutschland, das in den europäischen Verhandlungen um Verträge und Vereinbarungen wiederholt auf eine Begrenzung der Schuldenstände und/oder der Neuverschuldung drang. Dabei waren die verschiedenen deutschen Regierungen allerdings keineswegs die einzigen Akteure, die neoliberaler Politik und dem Dogma vom ausgeglichenen Staatshaushalt zum Durchbruch halfen. Stützle macht deutlich: Neben den Regierungen anderer Länder in Mittel- und Nordeuropa, neben mächtigen Kapitalfraktionen und europäischen Institutionen wie der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank müssen hier auch verschiedene Regierungen Frankreichs und südeuropäischer Länder genannt werden. Wiederholt akzeptierten sie neoliberal geprägte Forderungen und Vorstellungen, die letztlich wirtschaftspolitisch falsch und verheerend waren – teils strategisch motiviert, um überhaupt zu einer Einigung im europäischen Rahmen zu kommen, teils und zunehmend aber auch aus eigener Überzeugung.

Die Beschreibung solcher politischen Entwicklungen und Entscheidungen bilden den Schwerpunkt des Buches, Stützle bleibt aber nicht auf einer solchen deskriptiven Ebene stehen. Gegen Ende seines Buches macht er vielmehr in mehreren analytischeren Passagen deutlich, dass das Verhältnis zwischen Neoliberalismus und Staatsverschuldung ein zwiespältiges ist. Einerseits braucht der Neoliberalismus die Staatsverschuldung, andererseits verurteilt er sie. Sie ist, wenn man so möchte, der geliebte Feind neoliberaler Regierungen. Gemeinsam mit einem europäisierten Dogma des ausgeglichenen Staatshaushalts legitimiert Staatsverschuldung die Austeritätspolitik auf nationaler Ebene, sie rechtfertigt Kürzungen und Sozialabbau. Auf diese Weise wirkt das Dogma, einmal auf europäischer Ebene etabliert, wieder in die Einzelstaaten zurück. Es festigt sich selbst. Genau hierin liegt zugleich die Wurzel für den zunehmend autoritären Charakter, den die „Krisenbekämpfung“ in Europa annimmt – es ist gut, dass Stützle auch diesen Aspekt aufgreift und benennt. Denn schließlich kann es nicht oft genug gesagt werden: Entgegen dem Selbstverständnis als „freiheitlich“ und „demokratisch“ ist der Neoliberalismus, wenn es hart auf hart kommt, brutal und autoritär. Staatsverschuldung ist ihm autoritäres Disziplinierungsinstrument.

Fazit

Stützles Buch „Austerität als politisches Projekt“ ist die gekürzte und um aktuelle Passagen zur Eurokrise ergänzte Fassung seiner Dissertation. Dass es sich bei dem Text in seiner Ursprungsfassung um eine akademische Qualifikationsschrift handelt, ist ihm nach wie vor anzumerken. So finden sich beispielsweise zu Beginn umfangreiche wirtschaftstheoretische Ausführungen und Überlegungen. Stützle stellt dort drei Theoriegruppen, nämlich neoklassisches, keynesianisches und marxistisches Wirtschaftsdenken vor, um sich schließlich selbst als Marxist zu positionieren. Für das Verständnis des Hauptteils seines Buches, die politischen und historischen Ausführungen zum europäischen Integrationsprozess, sind die einleitenden theoretischen Überlegungen allerdings weitgehend verzichtbar. Wer möchte, kann sie getrost überspringen und die Lektüre ohne inhaltlichen Verlust und ohne schlechtes Gewissen mit Kapitel 3 (Seite 128) beginnen. Dies gilt umso mehr, als sich gerade in diesem ersten Teil einige Redundanzen finden.

Hiervon abgesehen, kann das Buch rundum und ohne Einschränkung all jenen empfohlen werden, die sich über die historischen und politischen Grundlagen der aktuellen wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Diskussionen in Europa informieren möchten. Stützle räumt auf mit zahlreichen Gerüchten und Behauptungen rund um die Entstehung der Wirtschafts- und Währungsunion. Er zeigt, wie das neoliberale Dogma des ausgeglichenen Staatshaushalts – in erster Linie von Deutschland – durchgesetzt wurde. Darüber hinaus (und darin liegt eine besondere Qualität seines Buches) macht er deutlich, wie dieses Dogma von interessierten Kreisen zur Begründung von Sozialabbau, Prekarisierung und Entsolidarisierung genutzt wird – bis heute.

Ingo Stützle 2013:
Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise.
Westfälisches Dampfboot, Münster.
ISBN: 978-3-89691-938-0.
399 Seiten. 36,90 Euro.
Zitathinweis: Patrick Schreiner: Staatsverschuldung: Geliebter Feind. Erschienen in: Umkämpfte Migration. 30/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/s/9SZVX. Abgerufen am: 21. 11. 2024 11:33.

Zum Buch
Ingo Stützle 2013:
Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise.
Westfälisches Dampfboot, Münster.
ISBN: 978-3-89691-938-0.
399 Seiten. 36,90 Euro.