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Soziale Arbeit in Bewegung?

Buchautor_innen
Leonie Wagner (Hg.)
Buchtitel
Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen

Der Sammelband zeichnet die ambivalente und spannungsreiche Verbindung von Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen nach.

Was ist eigentlich das politische Mandat Sozialer Arbeit? Ist sie ein passives Instrument staatlicher Sozialpolitik, eine Kontrolleurin und Maßreglerin der Unangepassten? Welchen Einfluss können Soziale Bewegungen auf Richtungsänderungen innerhalb der Sozialen Arbeit ausüben? Leonie Wagner legt gemeinsam mit den anderen Autor_innen des im VS-Verlag erschienenen Sammelbands „Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen“ einen umfangreichen Grundstock zu Organisierung, Institutionalisierung und Widerstand rund um die Geschichte der Sozialen Bewegungen und der Sozialen Arbeit vor und zeigt zahlreiche Verbindungen und Ambivalenzen auf.

Gerade aus den Sozialen Bewegungen hat die Soziale Arbeit immer wieder Kritik und Ablehnung erfahren, wenn sie sich unreflektiert als tradierte „Normenanwenderin“ und Apologetin des kapitalistischen Auslesesystems verstand. Alternative Unterstützungssysteme wie Jugendverbände, Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen wurden innerhalb der unterschiedlichen Bewegungen entwickelt, die für die Betroffenen (im ursprünglichen, politischen Sinne) wichtige „Ausgleichsfunktionen“ übernahmen und sich gegen eine auf Anpassung und Entmündigung der Individuen gerichtete Arbeit zur Wehr setzten. Dass dies nicht reibungslos verlief, davon zeugen zahlreiche Auseinandersetzungen, auf die im Buch näher eingegangen wird. Deutlich wird aber auch, dass beide wesentlich aufeinander bezogen sind und sich oft im Kampf um soziale Errungenschaften notwendige Impulse gaben. Grundlegend dafür sei, so Leonie Wagner resümierend, dass die Sozialen Bewegungen soziale Probleme und gesellschaftliche Widersprüche aufgriffen und an die Öffentlichkeit brachten, „die mit tradierten Formen gesellschaftlicher Organisation nicht oder nicht hinreichend lösbar erscheinen“ (S. 9), während der Sozialen Arbeit die Aufgabe zukäme, jene Problemlagen aufzugreifen und zu bearbeiten.

Doch zunächst: Was machen Soziale Bewegungen eigentlich aus? Wagner konstatiert, sie seien „in Definitionen schwer fassbar, sie entziehen sich, sind fluide“ (S. 10). Soziale Bewegungen siedeln sich zwischen singulären Protesten und festen Organisationsstrukturen ein, sie zeigen Brüche traditioneller politischer oder gesellschaftlicher Verhältnisse auf, die zeitgleich dem Entstehen der Bewegung als veränderbar begriffen werden. So sind Soziale Bewegungen „immer sowohl Ausdruck als auch Motor [...], Produkte und Produzenten [...] sozialen Wandels“ (S. 11). Die großen Sozialen Bewegungen der Frauen und Arbeiter_innen fanden im ausgehenden 19. Jahrhundert ihren Anfang, bis ihre Blütezeit vom aufkeimenden deutschen Faschismus beendet wurde – im Falle der proletarischen Bewegungen oftmals mit Repression und Gewalt. Auch die bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegungen, die Studentenbewegung, Soziale Bewegungen in der DDR sowie die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen finden in der Zusammenschau ihren Platz. Aufgegriffen werden zahlreiche Prozesse des Widerstands Sozialer Bewegungen gegen sozialpolitische Bevormundung, etwa durch selbstorganisierte Bildungsarbeit oder Selbsthilfe.

Schauplätze sozialer und sozialpolitischer Kämpfe

Kritik an der Sozialen Arbeit wurde vielfältig geübt: Die Arbeiter_innenbewegung sah in der Sozialen Arbeit eine Funktion der Schwächung ihres revolutionären Potenzials durch Anpassungsleistungen an die Normen der Industriegesellschaft, während die Bürgerliche Frauenbewegung die fehlende Professionalität bemängelte, die es den Frauen erschwerte, den sozialen Bereich als Berufsfeld zu ergreifen. Der Kampf der proletarischen, marxistisch orientierten Frauen war grundverschieden zu dem der bürgerlichen, wie Gisela Notz in ihrem Beitrag verdeutlicht. Eine „humanitätstrunkene Allerweltsbasenschaft“ (Clara Zetkin) sei nicht zielführend, der Kampf könne nur gemeinsam mit den arbeitenden Männern gewonnen werden.

Das Feld der Jugendarbeit war schon vor den Jugendbewegungen bekannt, allerdings noch von Erwachsenen für Jugendliche organisiert. Wagner konstatiert, dass eine „deutliche Annäherung Jugendbewegter an die Sozialpädagogik tatsächlich erst nach dem Ersten Weltkrieg statt(fand)“ (S. 116). Sie belegt mit zahlreichen Beispielen den Einfluss der Prinzipien aus der Jugendbewegung (etwa Selbstverwaltung, Selbstdisziplinierung, Einbezug der „Betroffenen“) in pädagogische Reformprojekte, die zum Beispiel in der Jugendpflege, der Jugendhilfe und der Fürsorgeerziehung ihren Platz fanden.

Der historischen Linie folgend, wird von Leonie Wagner auch auf die zunehmenden nationalistischen und antisemitischen Einflüsse auf die Soziale Arbeit schon zur Weimarer Zeit und nach der Regierungsübernahme der NSDAP eingegangen. Die (aktive) Beteiligung der Sozialen Arbeit an der ausgrenzenden und totalitären Sozialpolitik der NS-Zeit wurde lange Jahre totgeschwiegen und führte unter anderem während der Studentenbewegung zu Protesten und Rufen nach Aufarbeitung („Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“). Die Protestformen der Studentenbewegung richteten sich gegen zahlreiche „verkrustete Strukturen“ (S. 152) in Gesellschaft, Politik und Ökonomie. Erfolg hatte die Bewegung insbesondere „im Bereich der alternativen Lebensweisen“ (S. 154), es entstanden Wohngemeinschaften und Kinderläden. Wenige Jahre später bildeten sich die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen um spezifische Themenfelder wie Frauenrechte, Frieden oder Ökologie. Die von Herbert Marcuse inspirierte „Randgruppenstrategie“ (S. 160) war entscheidendes Bindeglied der Sozialen Arbeit und den Neuen Sozialen Bewegungen. Sie besagt, vereinfachend dargestellt, dass die Rolle der Arbeiter_innenklasse als „revolutionäres Subjekt“ nicht mehr zeitgemäß sei; es nun vielmehr gemeinsame Aufgabe der Intellektuellen und der „sozial Ausgegrenzten“ wäre, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Frauenbewegte vertraten das Konzept der „Gegenkultur“, aus der heraus man mit neuen Impulsen „in die Gesellschaft hinein wirken“ (S. 55) wollte. Es kam zur Gründung von Frauenzentren, Beratungseinrichtungen, Kultureinrichtungen und zahlreichen anderen feministischen Projekten ohne feste hierarchische Strukturen. Auf einem feministischen Kongress in den 1970er Jahren wurde den Sozialarbeiterinnen vorgeworfen, ihre Arbeit als „Kitt“ dort einzusetzen, „wo Hausfrauen und Mütter ihre Funktionalität verweiger[ten]“ (S. 61), die Professionalisierung trüge, so die Zusammenfassung der Autorinnen, zu Entsolidarisierungs- und Entpolitisierungsprozessen unter den Frauen bei. Annäherungen zwischen Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen fanden dennoch immer wieder statt: durch eine „gemeinsame Kritik an den gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, die Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen überhaupt notwendig werden lassen“ (Staub-Bernasconi 1995, S. 58f.).

„Die Wunden des Sozialen Elends nicht mit Pflästerchen verdecken“ − zur Rolle der Sozialarbeiter_in

„Die Tätigkeit eines Sozialarbeiters hat immer einen Doppelcharakter. Deshalb ist besonders für den marxistisch orientierten Sozialarbeiter eine widerspruchsfreie Praxis nicht möglich“ (Burri 2004, S. 14). Dieses Dilemma wird im Laufe des Buches an verschiedenen Stellen angesprochen und diskutiert. Intensive Auseinandersetzungen der Pädagog_innen und Sozialwissenschaftler_innen mit Funktion und Methodik ihrer jeweiligen Arbeitsfelder fanden ihren Ausdruck in der Kritischen Sozialen Arbeit. Sie bemängelten die Angebotssysteme, forderten einen Abbau der veralteten Strukturen wie etwa der Hierarchie zwischen Professionellen und „Betroffenen“ und verbanden damit eine unmittelbare Gesellschaftskritik, die von einem Erkranken an gesellschaftlichen Widersprüchen ausging, die es zu verändern galt. Dennoch verebbten viele dieser Stimmen im Laufe der Zeit. Mit der Autorin Swantje Penke gesprochen ist es oftmals viel leichter, sich in gegebene Strukturen einzufügen, anstatt Kritik zu üben und Widersprüche auszuhalten. Verfolgt man konsequent den Gedankengang Klaus Mollenhauers, kommt man zum Ergebnis, dass „ein/e SozialarbeiterIn eigentlich nur ‚gegen' den kapitalistischen Staat als solchen wirken (kann), da das Ziel Sozialer Arbeit immer ein mündiger, zur Kritik fähiger Mensch ist“ (S. 198, Herv. i. O.).

Durch das gesamte Buch zieht sich als roter Faden das beständige Aufflammen und Verglühen der Sozialen Bewegungen, deren Verknüpfungen mit den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit gleichwohl Spuren hinterlassen, die – zeitverzögert und auch nicht im gleichen Umfang und der gleichen Stoßrichtung – als Handlungsfelder in politischen Reformen und Diskursen auftauchen. Leonie Wagners Einschätzung, „Forderungen aus den Sozialen Bewegungen (können) bei einer ausreichenden gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz in anderen Kontexten verwirklicht werden“ (S. 168), trifft dennoch nur auf jene, den kapitalistischen Interessen genehme – oder zumindest nicht schmerzhafte – Veränderungen zu. Die Ausführungen lassen erkennen, dass aus kritischer Perspektive ein Umdenken in der Ausrichtung Sozialer Arbeit dringend notwendig ist. Die aktuellen Entwicklungen in der Sozialen Arbeit – zunehmende Marktorientierung, prekäre Arbeitsbedingungen, fehlende Ressourcen im Umgang mit der wachsenden Neoliberalisierung – zeigen dies deutlich. Abgesehen von der Verbesserung konkreter Einzelbedürfnisse der Beteiligten schwächen die „Teilerfolge“ einer unreflektierten Sozialarbeit die Verfolgung übergeordneter Ziele, da sie ein „gemeinsam empfundenes Unbehagen an den gegebenen Verhältnissen“ (S. 168) verdecken: Um die „versteinerten Verhältnisse zum Tanzen (zu) bringen“ (Marx) bedarf es einer anderen Melodie.

Zusätzlich verwendete Literatur

Burri, Thomas (2004): Marxistisch orientierte Theorien der Sozialen Arbeit. In: Sozialistische Positionen 4. Online einsehbar hier. Staub-Bernasconi, Silvia (1995): Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit – Wege aus der Bescheidenheit. Soziale Arbeit als „Human Rights Profession“. In: Wendt, Wolf Rainer (Hg.): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses. Lambertus Verlag, Freiburg.

Leonie Wagner (Hg.) 2010:
Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen.
VS Verlag, Wiesbaden.
ISBN: 978-3-531-91901-0.
279 Seiten. 42,99 Euro.
Zitathinweis: Johanna Bröse: Soziale Arbeit in Bewegung? Erschienen in: Radikale Soziale Arbeit? 33/ 2014. URL: https://kritisch-lesen.de/s/J2xsh. Abgerufen am: 21. 12. 2024 17:09.

Zum Buch
Leonie Wagner (Hg.) 2010:
Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen.
VS Verlag, Wiesbaden.
ISBN: 978-3-531-91901-0.
279 Seiten. 42,99 Euro.