Rüsten für die arbeitspolitische Abwehrschlacht
- Buchautor_innen
- Hans-Jürgen Urban
- Buchtitel
- Gute Arbeit in der Transformation
- Buchuntertitel
- Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus
Gibt es eine sozial-ökologische Interventionsstrategie gegen den Griff nach dem ganzen Menschen?
Die Beschäftigten in der Automobilindustrie stehen vor einem Dilemma. Sie wissen, dass das Konzept „Auto“ vor großen Veränderungen steht: Die Städte und Straßen verstopfen, China gibt die Elektromobilität als Marschrichtung vor und die Klimadiskussion offenbart, das eine andere Art der Mobilität notwendig wird. Schätzungen der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität sehen 400.000 Arbeitsplätze in Gefahr. Gleichzeitig hängen die Lohnabhängigen – zu Recht – an ihren Arbeitsplätzen und den guten tariflichen Standards, die noch in der Branche herrschen. Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften ringen um eine Strategie, wie diesen Veränderungen zu begegnen ist.
Arbeitgeber:innen und Industrie nutzen die Verheißungen der Digitalisierung und die Ökologiedebatten für einen Angriff auf die Arbeitsbedingungen und Zeitsouveränität der Beschäftigten. Der Gewerkschafter und Industriesoziologe Hans-Jürgen Urban versorgt uns mit dem nötigen Rüstzeug, um die Mystifizierungen der „Industrie 4.0“ und der „Digitalisierung“ zu entlarven und die passende Interventionsstrategie zu entwickeln.
Digitalisierung – Mehr Risiko als Chance
Die Digitalisierung ist, so Urbans Kernaussage, derzeit hauptsächlich Treiber und Katalysator eines neuen Rationalisierungsschubes. Dabei wäre eine bequemere und demokratischere Arbeitswelt durch Roboter und vernetzte IT-Systeme durchaus möglich: Die Digitalisierung, so seine These, beinhalte das Potential für eine Humanisierung der Arbeitswelt. Doch derzeit stehen die Chancen dafür denkbar schlecht. Wahrscheinlicher sei ein engerer Griff des Marktes „nach dem ganzen Menschen“ (S. 108). Die Richtung, in welche sich der Megatrend laut Urban entwickelt, ist jene hin zu einem sich verschärfenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit.
Empirisch unterfüttert mit Statistiken und Betriebsbefragungen, zeichnet Urban die Entwicklungen in der Arbeitswelt nach. Er zeigt auf, wie alles miteinander zusammenhängt: Die Privatisierung der sozialen Sicherung führt zur Überforderung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, da diese zunehmend für steigende Altersarmut und sinkende Rentenniveaus mitverantwortlich gemacht wird. Leistungsverdichtung und Beschleunigung werden zur „Geißel der modernen Arbeit“ (S. 64). Physische und psychische Belastungen nehmen immer weiter zu. Zugleich drohen Roboter und Automatisierung den eigenen Arbeitsplatz zu ersetzen. Viele Fronten, an denen die Gewerkschaften gleichzeitig kämpfen müssen.
Gute Arbeit als strategische Intervention
Urban setzt den Rationalisierungsstrategien von Unternehmen und Verbänden das normative Widerstandskonzept der „Guten Arbeit“ entgegen. Er meint damit nicht das gute alte Normalarbeitsverhältnis des Fordismus, sondern eine noch auszuhandelnde „Neukombination aus belastbaren kollektiven Rechten und individuell verfügbaren Autonomiespielräumen“ (S. 18). Da das fordistische Modell auch auf einer „fossilistischen Wachstumsökonomie“ (ebd.) basiert habe, müsse in einer sozial-ökologischen Arbeitspolitik der gesellschaftliche Gebrauchswert der Arbeit diskutiert werden. Es gelte sich gesellschaftlich darauf zu verständigen, welche wirtschaftlichen Bereiche wachsen sollen und welche schrumpfen müssen. Diese Perspektive der Guten Arbeit als Zukunftskonzept, das auch die „soziale Phantasie“ (S. 30) anregen könne, mache den gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch der Gewerkschaften wieder anschlussfähig für Ökologie- und Demokratiebewegungen. Urban bleibt bei der konkreten Umsetzung schwammig. Vorstellbar sind jedoch Workshops in Automobilzuliefererbetrieben, wo Facharbeiter:innen, Ingenieur:innen und Vertreter:innen des regionalen Umwelt- und Politikbetriebes gemeinsam Konzepte entwickeln, was mit dem vorhandenen Know-How und den Maschinen noch produziert werden könnte. Einzelne von Betriebsräten angestoßene Projekte führten beispielsweise schon zur Umstellung der Produktion von Auto-Kupplungen zu Fahrradnaben. Da es hierbei schnell um harte Investitionsentscheidungen geht, führen solche Diskussionen immer auch zu Macht- und damit Demokratiefragen.
Anfang der 1990er Jahre war die IG Metall schon einmal weiter und hatte eine große Debatte über sozial-ökologische Konversionsprojekte. Diese Konzepte sind leider aufgrund der analytischen und strategischen Engführung der IG Metall in der Mottenkiste verschwunden, wie Urban selbst kritisch feststellt. Der Durchmarsch des „Shareholder-Value“-Denkens – auch in die Gewerkschaften – und die Abwehrkämpfe im Zuge der deutschen Einheit verdrängten die progressiven Ansätze. Diese offensiven Strategieansätze gelte es zu revitalisieren. Daher plädiert Urban gegen einen erneuten Rückzieher der IG Metall angesichts der täglichen Horrormeldungen über Stellenstreichungen aus dem Autosektor. Ökologie und Soziales müssen wieder konsequent zusammen gedacht werden, so das Credo. Wirtschaftsdemokratie soll dabei als „Transformationshebel“ (S. 215) dienen.
Grenzen der Sozialpartnerschaft
Auch sei es die „demokratiepolitische Bringschuld“ (S. 205) der Gewerkschaften, den Kampf mit der AfD aufzunehmen. Diese versucht sich vermehrt als Auto-Partei zu inszenieren und bereitet mit konstanter Hetze, wahlweise gegen die Klimapolitik der Bundesregierung oder die, in ihren Augen, „autohassende“ und „links-grün versiffte“ Jugend, eine Dolchstoßlegende für die Autoindustrie vor. Die nächste Wirtschaftskrise bahnt sich bereits an und wird derzeit durch die Corona-Pandemie verstärkt. Sie wird besonders in der bisher verschont gebliebenen Autoindustrie ihre Spuren hinterlassen. Die Auto-Konzerne und ihre Lobby haben in der AfD einen vortrefflichen Sündenbock gefunden: Man wolle ja was ändern, doch aus Angst vor einem weiteren Aufstieg der AfD müsse alles bleiben, wie es ist. Doch genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nur mit einer ambitionierten sozial-ökologischen Transformation sind überhaupt gute Arbeitsplätze und Wertschöpfung zu halten. Mit einem „muddling through“ (Konzept aus der Betriebswirtschaftslehre, auf deutsch: „Sich-Durchwurschteln“) von Unternehmen und Politik ohne Veränderung an der industriellen Basis wird die gesamte deutsche Autobranche vor die Wand fahren. Doch gleicht die sozial-ökologische Transformationsstrategie „einer Operation am offenen Herzen“ (S. 201), wie Urban mit Verweis auf die wettbewerblichen und technologischen Restriktionen deutlich macht. Sie könne nur gelingen mit einer gemeinsamen offensiven Intervention von Gewerkschaften und Umweltbewegung, die auch vor einer „Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen und eine[r] Ausweitung der Arbeitsmacht“ (S. 230) nicht Halt macht.
Daraus zieht Urban am Ende des pointierten Werkes die Erkenntnis, dass eine echte sozial-ökologische Transformation eine Fortsetzung des Korporatismus unmöglich macht: „Die Grenzen der Sozialpartnerschaft sind evident.“ (ebd.) Zu gegensätzlich sind die Interessen, die sich im Transformationsprozess gegenüberstehen. Vor diesem Hintergrund mutet das von der IG Metall kürzlich vorgeschlagene „Moratorium für einen fairen Wandel“, ein Stillhalteabkommen gegenüber den Arbeitgeber:innen, wie kollektives Betteln an und nicht, wie die Mobilisierung der eigenen Machtressourcen für den wohl historisch schwierigsten Konflikt, dem die Industriegewerkschaft entgegengeht. Hoffnung machen jedoch die Demonstrationen in Stuttgart und Berlin für einen fairen Wandel und das mit 98,3 Prozent beste Wahlergebnis eines Vorstandsmitglieds der IG Metall für Hans-Jürgen Urban auf dem Gewerkschaftstag 2019. So werden die IG Metall-Fahnen auf den Fridays-for-Future-Demos hoffentlich häufiger zu sehen sein. Dann unterstützen die klimabewegten Schüler:innen auch die Arbeiter:innen bei ihren Kämpfen für Gute Arbeit in der Transformation.
Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus.
VSA Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-96488-012-3.
264 Seiten. 19,80 Euro.