Postmigrantische Paradoxien
- Buchautor_innen
- Aladin El-Mafaalani
- Buchtitel
- Wozu Rassismus?
- Buchuntertitel
- Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand
Nach Halle, Kassel und Hanau ist das Sprechen über Rassismus im Mainstream angekommen. Doch es gibt weiterhin Leer- und Schwachstellen im aktuellen Diskurs.
Aladin El-Mafaalani, so wird die Neue Deutsche Medienmacherin Ferda Ataman in einem RBB-Radiointerview zitiert, sei ein „Star-Soziologe“ und der „Integrations-Mufti“ unserer Tage. Und mehr als das: Der Diskriminierungs-, Bildungs- und Migrationsforscher war Berufsschullehrer und Abteilungsleiter im Integrationsministerium NRW und ist nun Professor an der Universität Osnabrück. Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten hat sich El-Mafaalani zuletzt auch der Sparte Sachbuch gewidmet und in relativ kurzer Zeit drei Bestseller hintereinander veröffentlicht: Das Integrationsparadox, Mythos Bildung und Wozu Rassismus.
Der Autor schreibt in letzterem zusammengefasst (und wenig überraschend), dass es heute noch einen strukturellen Rassismus in Deutschland gibt. Dieser sei ein Überbleibsel des alten kolonialen Rassismus; doch hätten soziale Fortschritte diese Überbleibsel fast aufgelöst, sodass man mit „Gelassenheit“ (S. 9) in die Diskussionen darüber gehen solle. Viele seiner Thesen sind natürlich nicht neu: Der Autor verknüpft sie mit Ergebnissen bisheriger Diskriminierungsforschung; oftmals, ohne darauf zu verweisen, dass vieles davon schon jahrelang von migrantischen, antirassistischen Aktivist*innen sowie kritischen Rassismusforscher*innen thematisiert wurde. Das macht seine Thesen für ein breites bürgerliches Publikum anschlussfähig.
Rassismus gelassen nehmen
E-Mafaalani beklagt immer wieder den aktuellen emotionalisierten Diskurs rund um Rassismus. Das Niveau des Diskurses sei gesunken: Nunmehr redeten nicht nur Expert*innen, sondern alle über das Thema. Vor 30 Jahren hätte man das Thema Rassismus noch gar nicht ansprechen können, nun würden glücklicherweise auch diejenigen am Tisch sitzen, die als Betroffene des Rassismus oder zusätzlicher Diskriminierung (etwa sexistischer) früher Ausgeschlossene waren. Je mehr Menschen mit Migrationsgeschichte heute integriert seien, desto mehr Teilhabe forderten sie und umso mehr würden altbekannte Vorgehensweisen und Regeln hinterfragt. Das führe auch zu Konflikten: Einige Gruppen wehren sich gegen die neue Radikalität in der Debatte. Sie fürchten um ihre Privilegien, die sie als Angehörige der Dominanzgesellschaft verteidigen. Dieses „Integrationsparadox“ sei aber im Endeffekt positiv zu bewerten, so El-Mafaalani, da es den Partizipationsgrad der Migrierten und die Offenheit der Gesellschaft aufzeige, die nunmehr so weit sei, diese Diskussion zuzulassen. Einerseits würden die „Neuen“ die kleiner gewordenen „Restprobleme“ skandalisieren und moralisieren, andererseits führe dies zu aber mit der Zeit zu Wandel. Anzumerken ist, dass sehr lange weiße Wissenschaftler*innen mit denselben Argumenten verhindert haben, dass migrantische und aktivistische Positionen an den Universitäten angenommen wurden. Die Positionen der kritischen Rassismusforschung wurden von Beginn an als Moralismus, Skandalisierung und Übertreibung diskreditiert.
Die eingangs erwähnte Ferda Ataman spricht davon, dass sie eine Sache faszinierend fände: Wenn El-Mafaalani über Rassismus spreche, würden selbst Konservative, die sich sonst immer über die bloße Erwähnung desselben aufregten, plötzlich „Joa, stimmt irgendwie“ sagen. Der Autor versucht, seine Kritik so herüberzubringen: Missstände thematisieren, ohne von Schuldigen zu sprechen. Diese Strategie vermag bei den Leser*innen zwar gut anzukommen, unterschlägt aber die gesellschaftliche Mitverantwortlichkeit an der aktuellen Konjunktur des Rassismus. Diese nahm in den letzten Jahren eine immer gewalttätigere Dimension an, während der Diskurs in der Mitte der Gesellschaft ständig neue „Fremde“ geformt hat.
Gesellschaftskritik nach Chemnitz
Gesellschaftliche Bestandsaufnahmen werden immer wieder durch rassistische Realitäten durchgerüttelt, die zeigen, auf welchen wackeligen Beinen allzu positive Beschreibungen stehen. Das zeigte sich nicht zuletzt, als in den letzten Jahren größere Diskrepanzen in Situationsanalysen unterschiedlicher Migrationsforscher*innen auftraten.
Von der weißdeutschen Akademia bis zu ehemaligen Kanak Attak-Mitglieder*innen ist der Begriff der „Postmigration“ in aller Munde. In postmigrantischen Gesellschaften wird Migration als Normalität anerkannt, während diese Gesellschaften gekennzeichnet sind durch Konflikte, Debatten und Spannungen, die die Transformationen der Gesamtgesellschaft verdeutlichen. Teilhabe- und Partizipationsfragen werden neu verhandelt, während die rassistischen Ein- und Ausschlüsse durch die Rekonfiguration rechtlicher Bedingungen, unter denen die Migrantisierten leben, von den Staatsapparaten der jeweiligen Situation angepasst werden. Der mediale Diskurs flankiert die Neujustierungen und skandalisiert dabei unerwünschte Gruppen. Tatsache ist, dass Formen der Exklusion auch heute noch funktionieren, weil Teile der Gesellschaft die Ansicht vertreten, dass politische Rechte nicht allen zugestanden werden sollen.
Wir schreiben das Jahr 2018, gerade hat El-Mafaalani sein Buch „Das Integrationsparadox“ veröffentlicht. Er dockt darin unter dem Namen der „offenen Gesellschaft“ inhaltlich an postmigrantische Thesen an, aber nutzt stattdessen einen eigenen Begriff. Im selben Zeitraum zeigen unter anderem die Nazi-Ausschreitungen in Chemnitz, die immer wieder befeuerte Geflüchtetendebatte, der Aufstieg der AfD, aber auch die Özil-Debatte die Polarisierung der Gesellschaft. Der Bezug auf Chemnitz ist hier besonders wichtig, da es noch am Beginn der Attentate und Massenmorde von Halle, Kassel und Hanau sowie vor der Ermordung von George Floyd und der anschließenden weltweiten Protestbewegung steht. Der damalige Bundesinnen- und Heimatminister, Horst Seehofer, übte Verständnis für die Rechtsradikalen, indem er die Migrationsfrage als „die Mutter aller politischen Probleme im Land“ bezeichnete. In Chemnitz manifestierte sich dieselbe Tonlage und Sprache, wie man sie bei Politiker*innen nach den rechten Angriffen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda hören konnte.
Die Migrationsforscherin Naika Foroutan ist nach den Geschehnissen von Chemnitz entsetzt: Die Sarrazin-Debatte in den 2010er Jahren habe diese destruktive „präfaschistische Phase“ eingeleitet, während die Gegner*innen bewusst geschwiegen haben, sagt sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel im Juli 2018. Aladin El-Mafaalani hält die Analysen von Foroutan jedoch für übertrieben: Deutschland sei vielmehr „richtig geil“ und im Ergebnis laufe doch auf dem Wohnungs-, Arbeits- und Ausbildungsmarkt sowie in der Schule vieles besser als früher, resümiert er damals in einem taz-Interview. Man solle doch mehr das Positive sehen und nicht nur das Negative. Auch im Nachgang der Ereignisse von damals zeugten die Konflikte vielmehr von einem gestiegenen Selbstbewusstsein der neuen Generation der Migrant*innen; und gerade, weil die Diskriminierung im Verlauf zurückgegangen und die Teilhabechancen gestiegen seien, könnten Diskriminierte mehr über Diskriminierung sprechen (S. 132). El-Mafaalani bleibt auch in seinem neuesten Buch dieser Linie treu.
Der herrschaftsstabilisierende Migrationsdiskurs
Die generelle Veränderung hin zu einer offeneren Gesellschaft sei im Ergebnis auch auf die Migrant*innen zurückzuführen, die sich in der Jugend El-Mafaalanis unter anderem den Verbotsschildern „Grünfläche betreten verboten“ einfach widersetzt hätten; irgendwann saßen auch die Deutschen auf den Grünflächen und die Verbote wären obsolet geworden.
Eine offene Gesellschaft entsteht aber nicht nur durch beharrliches Sitzen auf Grünflächen. Skandalisierungen und bürgerliche Moralexzesse gegenüber den Kindern der sogenannten Gastarbeiter*innen sind immer noch Bestandteil einer staatlichen Sozial- und Sicherheitspolitik. Diese knüpfen an ältere Narrative und Skandalisierungen nach dem Anwerbestopp, bei der Einführung von Zuzugssperren, bei Ghetto-Vergleichen und bei den Rückkehrprämien mit dem Ziel der Halbierung der Ausländer*innenzahl an – denen wiederum Parolen wie das „Boot ist voll“, „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“ folgten oder vorausgingen.
Heute sind es Shisha-Bars, Sportcafés und Wettbüros, also oftmals die Rückzugsräume der dritten Generation, die durch Innenministerien und Polizei als Orte der Clankriminalität diffamiert werden und wo der Rassismus todbringend zuschlägt. Dies kritisiert auch El-Mafaalani in seinem aktuellen Buch. Der institutionelle Rassismus ist für den Autor jedoch im Endeffekt – neben einer problematischen Organisationskultur – ein individualisierter Prozess, der durch „bestimmte Innenminister“ (S. 81) forciert würde; so wie es einige wenige rechtsextreme Polizist*innen gibt oder sich der Staat bei der NSU-Mordserie „– gelinde gesagt – nicht von seiner besten Seite“ (Das Integrationsparadox, S. 45) präsentiert habe.
Das sind die Grenzen des Rassismus-Verständnisses und der Staatskritik des Autors. Die Funktion von neoliberalen Leistungsidealen im rassistischen Diskurs sowie die Messung des Wertes von Menschen über ihre ökonomische „Nützlichkeit“, also die Verschränkung von Kapitalismus und Rassismus, wird ebenfalls nicht thematisiert. Und noch ein Zusatz zum NSU-Komplex: Hätte der Staat nach der Enttarnung des NSU die Orte der rechten Szene, die Kameradschaften und die Wohnungen des Unterstützer*innenumfelds genauso mit Razzien und Repression überzogen, wie in der (kaum versteckt anti-muslimischen) Shisha-Bar-Kampagne der Polizei NRW, wäre heute weitaus mehr über den NSU-Komplex bekannt. Tatsächlich passiert noch immer genau das Gegenteil. Vor kurzem wurde das Urteil für den letzten Angeklagten und Helfer des NSU, A. Eminger, vom BGH für rechtskräftig erklärt. Eminger mietete Wohnungen und Wohnwagen für den NSU an und half dabei, dass diese im Untergrund leben konnten. Die lächerliche Haftstrafe von 2,5 Jahren wurde bestätigt und die Akte juristisch geschlossen. Der NSU-Komplex kann nicht einfach mit behördlichen „Pannenserien“, Behördenmentalitäten, Routinen und mit persönlichen Fehlern einiger Beamt*innen erklärt werden, wie es der Autor tut (S. 82). Rassistische Morde an nicht Deutsch gelesenen Menschen werden nicht als Bedrohung gegen den Staat bewertet und interessieren die Staatsapparate ohne gesellschaftlichen Druck daher herzlich wenig. Gleichzeitig wird die Bewertung „rassistisch“ in den Apparaten vermieden, wo es nur geht. Viele Migrantisierte gehen daher von einer Wiederholung des NSU oder von ähnlichen Mordserien wie in Hanau aus, weil das Problem eben tiefer liegt und unabhängig von Personen weiterbesteht. Es handelt sich dementsprechend auch nicht um die bloße Skandalisierung losgelöster Einzelfälle, sondern um die Benennung von Kontinuitäten.
Paradoxien der Migration
Der Aufstieg der Migrierten in die Leuchttürme der Nation, also eine verbesserte Partizipation, ist eine Marketinglüge. Mitunter werden Tokens und „Quoten-Migrant*innen“ mit wahrer Partizipation verwechselt. Während noch vor einigen Jahren das in der Kunst- und Kulturszene entwickelte Konzept Postmigration sogar radikal war, wird heute davor gewarnt, dass postmigrantisch immer mehr eine herrschaftsstabilisierende Funktion annimmt. Das Ankommen im Mainstream fällt leider auch mit der Entleerung des kritischen Potenzials zusammen. Die Kritik fußt darauf, dass das Konzept keine deutliche Abkehr von der Kategorie Weiß-Sein und einer hiernach geformten deutschen Identität sowie eines entsprechenden narzisstischen, europäischen Geschichtsbildes auf Seiten der Dominanzgesellschaft fordert. Stattdessen werden toxische Integrations- und damit auch Heimatmetaphern inkorporiert, wie im Konzept der „offenen Gesellschaft“ von El-Mafaalani.
Dass Deutschland nicht mehr so reaktionär ist wie in den 1950er Jahren lag vor allem am Protest der 68er Generation und dem Kampf der progressiven feministischen, antirassistischen Bewegungen. Der Beitrag der Kämpfe der Migrierten an der Modernisierung der Gesellschaft kann kaum erfasst werden, da deren Kämpfe bis heute kaum historisch aufgearbeitet oder adäquat analysiert worden sind – noch nicht mal die Arbeitskämpfe. Vielleicht lag der Fehler auch darin, dass die Migrationsforschung sich auf das postmigrantische Paradigma stürzte, bevor es das migrantische Reservoir des Widerstands und des Wissens untersucht hatte. Kanak Attak hatte dies versucht, ist aber mittlerweile auch schon Geschichte.
So wie Post-Racial im US-Kontext die systemische Form des Rassismus negiert und die institutionelle Diskriminierung von Minderheiten als eine Phase der Vergangenheit ausmacht, bedienen Bücher zu Rassismus, die postmigrantische und integrationistische Diskurse bündeln, heute nur noch den Massengeschmack. Die Thesen von El-Mafaalani fußen auf zahnlosen Konstrukten, die daher auch Konservative nicht einmal mehr beunruhigen. Während auf der Straße die gesellschaftliche Realität auch ohne wissenschaftliche Konzepte auskommt, erschaffen sich die Menschen ihre Utopien in der Praxis immer wieder neu. Nicht umsonst sagt man, die Straße sei der Theorie immer schon zwei Schritte voraus. Das ist bei Forscher*innen, die bisher nur auf akademischem Niveau in ihren Expert*innenzirkeln diskutiert haben, aber die Niedrigschwelligkeit der heutigen Diskurse beklagen, noch nicht ganz angekommen.
Wozu Rassismus?. Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand.
Kiepenheuer & Witsch, Köln.
ISBN: 978-3462002232.
192 Seiten. 12,00 Euro.