Ohne den Prophetenbart
- Buchautor_innen
- Hans Jürgen Krysmanski
- Buchtitel
- Die letzte Reise des Karl Marx
In seiner Erzählung über die letzte Reise des Karl Marx verwebt Hans-Jürgen Krysmanski kunstvoll historische Fakten und Fiktion.
Ein Foto ist nicht erhalten geblieben. Ende April 1882, weniger als ein Jahr vor seinem Tod, hatte Karl Marx „den Prophetenbart und die Kopfperücke weggeräumt“ (S. 12). Wegräumen lassen – von dem Barbier E. Duterte in Algier. Hans-Jürgen Krysmanski erzählt die Anekdote am Beginn seines Büchleins „Die letzte Reise des Karl Marx“. Motiv für das „Haaropfer“ (Marx) war die nordafrikanische Hitze, aber auch der Versuch, seiner „Ikonisierung als Markenzeichen“ (S. 57) entgegenzutreten, vermutet Krysmanski.
Es war seine angeschlagene Gesundheit, die Marx im Februar 1882 von London aus diese Reise antreten ließ – die erste außerhalb Europas. Im milden Mittelmeerklima wollte er seine chronische Bronchitis kurieren und diverse andere Krankheiten lindern. Das war letztlich vergeblich – Marx starb am 14. März 1883 in London.
Krysmanski erzählt aber nicht die Geschichte eines erfolglosen Kuraufenthalts, sondern anregende Wochen im Leben eines revolutionären Denkers, den er verehrt, aber nicht heroisiert. Marx‘ unangenehme Eigenschaften verschweigt er nicht. Da ist etwa sein „ausgeprägter Hang zu persönlichen Fehden mit tatsächlichen und eingebildeten Feinden“, mit denen er „viel zu viel Zeit und Lebenskraft“ (S. 25) verschwendete. Beispielhaft zitiert er Marx‘ ziemlich niveauarme Beleidigungen Bakunins, die komplette Generationen von Marxist_innen zu ähnlich platten Phrasen gegen den „großsprecherischen Radikalinski“ und seine anarchistischen Anhänger_innen animierten.
Mag man Marx‘ Streitsucht als persönliche Schwäche abtun, so gilt das nicht für die Leerstellen seiner Theorie. Um das zu verdeutlichen, erfindet Krysmanski die junge Feministin Vera Stirner, der Marx schon auf der Überfahrt nach Nordafrika begegnet. In Algier zeigt sie dem alten Mann seine persönlichen und politischen Grenzen auf, angeregt durch die Lektüre von August Bebels einflussreichem Bestseller „Die Frau und der Sozialismus“. „In der Liebeswahl müsse die Frau dem Manne frei und ungehindert sein“, referiert sie Bebel, den Marx seinen Freund nennt, aber von rechts kritisiert: „Ja, dieser Bebel, dieser Brausekopf, manchmal übertreibt er.“ (S. 71f.) Ein Wegbereiter des Feminismus war Marx mit Sicherheit nicht, eher ein gütiger Patriarch und Familienmensch, der gern mit den Enkelkindern herumtollte: „Das ist es, was ich unter Ruhe verstehe: Familienleben, den Lärm der Kinder, diese mikroskopische Welt, die viel interessanter ist als die makroskopische.“ (S. 76)
Auch wenn die Kur unter der Sonne Algiers nicht anschlug, war die Reise für Marx nicht wirkungslos. Nun, da sein „Gehirn immer wacher und der Körper immer gebrechlicher wurde“ (61), brachten die Wochen im Süden neue Erkenntnisse, politische und wissenschaftliche. Bei einem Zwischenstopp auf der Rückreise lässt Krysmanski Marx – wie passend: in Monte Carlo! – zum Entdecker des „Kasinokapitalismus“ werden. Sich selbst zitierend (MEW 23: 788), „schreit“ er am menschenleeren Strand die Wahrheit über die kriminelle Energie des Kapitals „hinaus“ in die Welt: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital wach ... 100 Prozent, es stampft alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ (S. 73) Eine gern zitierte „Stelle“, die sich mal wieder im Zusammenhang zu lesen lohnt – genauso wie diverse andere Zitate aus den blauen Bänden, die Krysmanski verwendet.
Vollständig fiktiv ist dann wieder eine Szene, in der Marx seiner Tochter Laura sein neu gewecktes Interesse am Finanzkapital, der Börse und den dort handelnden – und profitierenden – Personen erläutert und andeutet, welchen Stellenwert das in den folgenden Kapital-Bänden haben solle:
„Ja, es gehe um Klassen, um mehr als die zwei, von denen alle Welt redet, und auch um neue Eliten. Zu diesen Handelnden habe er bislang zu wenig geschrieben. Da seien Algier und vor allem Monte Carlo eine Offenbarung gewesen.“ (S. 81)
Was Marx versäumte, hat sein Biograf nachgeholt: Krysmanski gilt als Mitbegründer der Power Structure Research; in mehreren Büchern hat er untersucht, wie die globale Geldelite politische Entscheidungen in ihrem Sinne beeinflusst. Nimmt man die ausgedachte Szene für bare Münze, dann hat er seinen Forschungsauftrag indirekt vom großen Meister bekommen. Wer Krysmanski („Krys“) gekannt hat, wird – neben der kleinen Eitelkeit – auch die in dieser Passage enthaltene Selbstironie nicht übersehen.
Hans-Jürgen Krysmanski starb, 80 Jahre alt, im Sommer 2016. Seine politischen Analysen – etwa über die „0,1%“ der Superreichen und ihren Einfluss auf die globale Politik – mögen wichtiger sein als „Die letzte Reise des Karl Marx“. Mit der teils historisch belegten, teils fiktionalen Erzählung hat er aber etwas hinterlassen, das die allermeisten marxistisch geschulten Intellektuellen nicht nur seiner Generation hoffnungslos überfordern würde: ein kleines Juwel, gut geschrieben, humorvoll und unterhaltsam im besten Sinne, zugleich aber dazu anregend, die zitierten „Stellen“ aus den blauen Bänden noch einmal nachzulesen und auf ihren Gebrauchswert für linke Debatte und Politik heute zu überprüfen.
Die letzte Reise des Karl Marx.
Westend Verlag, Frankfurt a. M.
ISBN: 978-3-86489-072-7.
109 Seiten. 10,00 Euro.