Negative Diskriminierung
- Buchautor_innen
- Robert Castel
- Buchtitel
- Negative Diskriminierung
- Buchuntertitel
- Jugendrevolten in den Pariser Banlieues
Sehr gut arbeitet Castel heraus, dass es sich bei den riots in Paris nicht um den Aufstand eines Ghettos handelt, sondern um das Aufbegehren missachteter Bürger des Staates Frankreich.
Castel beginnt seine wissenschaftliche Studie mit zwei Unterscheidungen. Die französischen Jugendlichen in den Vorstädten sind nicht als Ghetto-Bewohner zu verstehen. Ghetto, das würde -wie in den USA- Herkunftsgleichheit voraussetzen und zugleich relative Verwahrlosung, was Arbeitsangebote, Schulen und klinische Versorgung angeht. Die Franzosen in den banlieues um Paris leben in gemischten Siedlungen, durchaus in räumlicher Nachbarschaft mit Franzosen aus dem Inland und Migranten anderer Herkunft, vor allem aus Nordafrika.
Das Wichtigste: die französische Vorstellung von Bürgerschaft und Bürgerrecht erkennt jeden mit französischer Staatsbürgerschaft als prinzipiell gleich jedem anderen an. Insofern ist auch die Schulversorgung in den betreffenden banlieues gar nicht so viel schlechter als in anderen Gegenden Frankreichs. Das Problem ergibt sich nach Castel gerade daraus, dass französische Bürgerschaft einem Bekenntnis gleichen soll zu allgemeinen Prinzipien. Vor allem der Trennung von Kirche und Staat. Die Abstraktion des zugehörigen Staatsdenkens verwirft ausdrücklich die Beibehaltung von Sitten und Gebräuchen des Herkunftslandes. Damit ist ein grundsätzlicher Konflikt gegeben.
Er steigert sich in der langfristigen Krise, die Castel von 1978 an beginnen lässt. Nach demselben Mechanismus, der auch in Deutschland greift, werden Arbeitsplätze und Lehrstellen immer weniger an erkennbare Bewohner der banlieues gegeben, je schwerer die Krise drückt. Damit entsteht verschärft ein Widerspruch, der jeden drückt, der durch Aussehen, Sprachbeherrschung, Familiennamen ausgesondert und erkannt werden kann.
Die riots in den französischen banlieues erklären sich dann als Explosion - Aufruhr gegen die reale Diskriminierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des staatsbürgerlichen Anspruchs.
Tatsächlich lassen sich gerade in den rap-songs, die in den banlieues angestimmt werden, die Anklagen vernehmen nicht so sehr solcher, die sich als Fremde verstehen, sondern derer, die Franzosen sein wollen - denen aber gerade das verwehrt wird. Etwa in den häufigen Anrufen von „MARIANNE”, dem Inbegriff Frankreichs als Figur, wird der Anruf der verstoßenen Kinder hörbar. (So wie in den Songs der Edelweißpiraten, deutscher Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg, die Anrufungen des „Eisbären” oder „Rübezahls” der Erhebung eines Anspruchs dienen, der unerfüllbar bleibt.)
Das Anzünden von Autos, so wenig es zur Besserung der Lage beiträgt, wird dann von Castel als in gleicher Weise berechtigter Ausdruck der Wut angesehen - wie das Absingen solcher Songs. Wenn er, etwas verlegen, auch zugibt, dass die Polizei da natürlich einschreiten muss.
Die riots in den banlieues also als verzweifelter Versuch, sichtbar zu werden. Ins Blickfeld derer einzudringen, die sich normalerweise im Wegschauen üben. In der Fiktion, das Ideal des bürgerlichen citoyen sei nicht nur herrschende Realität, sondern auch eine Instanz, aus der universelle Forderungen an alle gleichermaßen abzuleiten wären.
Soweit die Grundanlage, die zu immer neuen Konflikten in Frankreich führen.
Hinzu kommt -zur Verschärfung der Lage- die ideologische Verarbeitung des Widerspruchs. Wie von Broder und ähnlichen Denkern in Deutschland in seiner „Achse des Guten” wird aus der Tradition der Aufklärung der Islam an sich als größte Bedrohung des französischen Laizismus entwickelt. Besonders hervorgetan scheinen sich einige von den inzwischen angerosteten, ehemals „neuen” Philosophen zu haben, wenn sie nicht gerade einen Krieg zu befürworten hatten. Alain Finkielkraut hat Castel deshalb besonders ins Herz geschlossen.
Leider haben die Absonderungen solcher Leute trotz allem größeren Einfluss gewonnen auf die bürgerliche Gesellschaft. „Bürgerlich” hier verstanden, wie CDU/FDP das gerne hätten. So kam es immer wieder zu sinnlosen Wallungen im Publikum, wenn etwa einige Schülerinnen nordafrikanischer Herkunft mit Kopftuch in die Schule wollten. Inzwischen scheint Sarkozy erst mal ein Burka-Verbot in Erwägung zu ziehen. Die nur zu bekannte Technik von Staaten, durch Ersatzfeldzüge die Bewohner des Landes von der Behandlung der wirklichen Probleme abzulenken, ja zu entbinden.
Im Gegenzug, berichtet Castel, finden sich dann immer wieder Jugendliche der banlieues, die in Attentätern wie denen vom September 2001 Rächer der Entehrungen sehen wollen, die sie erlitten haben. Nachdem - siehe oben - das ganze gebildete Frankreich den „ISLAM” an sich dafür verantwortlich gemacht hat - und daraus folgernd, sämtliche Personen islamischer Religion, egal, wie oft oder -häufiger- wie selten die sich auch in der Moschee sehen lassen.
Interessant im Rahmen dieser offenbar von Foucault angeleiteten Denkweise ist die Beantwortung der Frage, wie Aussonderung (Diskriminierung) und Ausbeutung eigentlich zusammenhängen. Die Antwort erschwert sich dadurch, dass bei der hohen Arbeitslosigkeit in den entsprechenden Vorstädten die einzelnen als Arbeitslose gerade unter ihrer Nicht-Ausbeutung leiden.
Klar ist auf jeden Fall, dass durch die Diskriminierung, die Castel offen „rassistisch” nennt, die Niederhaltung einer ganzen Arbeitergruppe ermöglicht wird, der man erfolgreich die Suggestion aufzwingt, es sei naturgegeben, dass sie weniger verlangen könnten als „eingeborene Franzosen”.
Umgekehrt, so Castel, lassen sich die Aufstände in den Vororten unter keinen Umständen als Teilrevolutionen wie die zum Beispiel von 1848 verstehen. Warum nicht?
Die 1848er Revolution entzündete sich an der Parole „Recht auf Arbeit” - mitgedacht: für alle. Insofern konnte die ganze Arbeiterklasse unabhängig von der Herkunft sich anschließen. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund dagegen, die um Sichtbarkeit ringen, erheben sich als Teil der Franzosen - für sich selber. Zum Teil im offenen Gegensatz zu allen andern, die ihre Arbeit haben. Insofern bleibt es einstweilen beim Ausdruck. Zielbewusste Handlungen entfallen bis jetzt.
Schade, dass das Buch zwar treffend, aber sehr abstrakt die Grundlinien des Konflikts heraus arbeitet. Sehr selten werden Zeugnisse der Jugendlichen selbst vorgelegt. So wie es zum Beispiel in der von Bourdieu angeregten Interview-Sammlung „Das Elend der Welt” (La misère du monde) geschehen ist.
Castel fügt am Ende seines Buches Vorschläge zur „positiven Diskriminierung” hinzu: eben besondere Schulen und Schulverhältnisse in den kritischen Bezirken usw. Man gewinnt aber den Eindruck, dass er selbst die Chancen einer Durchführung in einem Land nicht sehr hoch einschätzt, mit einem Präsidenten Sarkozy. Man erinnert sich, dass dieser zur Zeit der Vorstadt-Unruhen mit Wasserschleudern arbeiten wollte, um das „Ungeziefer” wegzubekommen. Auch wenn er jetzt gemäßigter auftritt - es ist kaum anzunehmen, dass er den Anhängern der „Gleichheit aller Bürger” die bewusste -positive- Ungleichbehandlung der Benachteiligten abringen will und wird.
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Die Rezension erschien zuerst im Januar 2010 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, ast, 12/2010)
Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues.
Hamburger Edition, Hamburg.
ISBN: 978-3-86854-201-1.
122 Seiten. 15,00 Euro.