Methodologische Methodenkritik
- Buchautor_innen
- Theodor W. Adorno
- Buchtitel
- Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen
- Buchuntertitel
- Band 12: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft
Adorno entfernt sich von allen konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und sinniert über die Möglichkeit von Theorie überhaupt; lesenswert sind dabei vor allem seine Randnotizen.
Wie jedes Jahr ist auch 2023 wieder ein Band Adornos verlegt worden: „Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft“. Gleich zu Beginn sei festgehalten: Das Studium des Bandes lohnt sich, und es wäre ein leichtes, eine längere Rezension mit den verschiedenen bedenkenswerten Stellen als aphoristischen Blick auf die Vorlesung aus dem Jahre 1964 zu konzipieren. Es würde dem Anspruch der Vorlesung aber nicht gerecht werden, sie auf ihre richtigen Gedanken zum Verhältnis von Wesen und Erscheinung oder seinen Überlegungen zur falschen Marx-Rezeptionen in der ehemaligen Sowjetunion zu reduzieren, warum im Folgenden auch versucht werden soll, das Anliegen der Vorlesung zu würdigen, die Grundlagen einer Theorie der Gesellschaft zu reflektieren.
Methodische Widersprüche zur Einleitung
Der bürgerlichen Soziologie seiner Zeit wirft Adorno zu Beginn der Vorlesungen vor, keine Rechenschaft über ihre philosophischen Grundlagen ablegen zu wollen. „Eigentlich fast jeder Soziologe“ (S. 13) heute (also 1964) führe nur noch „irgendwelche begrenzten Untersuchungen“ (S. 13) aus. Wer dieser Selbstbeschränkung nicht nachkomme, handele sich schnell den Vorwurf der Metaphysik ein. Gegen jene Trennung von Philosophie und Soziologie, Empirie und Theorie redet Adorno in seiner Vorlesung an. Er will eben auf jene philosophischen Elemente hinweisen und sie auch entwickeln, die er als notwendig erachtet für die Grundlage einer Theorie der Gesellschaft. Dabei will er nicht als Kritiker der Empirie auftreten, sondern diese um die Theorie ergänzt wissen:
„[…] daß die Art Theorienbildung, um die es mir dabei geht, ihrerseits eigentlich abhängt von den zu behandelnden Tatsachen […]. [D]ie Vorstellung von Theorie, die mich geleitet, ist die, gerade durch die Versenkung in die Konkretion über das bloß Faktische hinauszukommen, also sich so sehr den einzelnen Materialien anzuvertrauen, daß dadurch mehr dabei herausschaut als eben bloß das blinde, begriffslose Material.“ (S. 24)
Der an Hegel geschulte Adorno hat hier einerseits recht, dass die Wissenschaft eine Bekanntschaft mit ihren Gegenständen voraussetzt: „Die Philosophie kann daher wohl eine Bekanntheit mit ihren Gegenständen, ja sie muss eine solche, wie ohnehin ein Interesse an denselben voraussetzen, schon darum, weil das Bewusstsein sich der Zeit nach Vorstellungen von den Gegenständen früher als Begriffe von denselben macht und auf dasselbe sich wendend zum denkenden Erkennen und Begreifen fortgeht“ (Hegel, Enzyklopädie §1). Es kommt bei manch einem Gegenstand daher vor, dass man ihn unzureichend kennt, also Material zusammentragen, das heißt zur Kenntnis nehmen muss, bevor man sich überhaupt der wissenschaftlichen Tätigkeit widmen kann. Erkennen kann man nur, was bekannt ist.
Es ist andererseits nicht ohne Ironie, dass Adorno seine Überlegungen über die Möglichkeit von Gesellschaftstheorie – die auf der Notwendigkeit basiert, sich ganz den Fakten zu überlassen, um über diese hinauszukommen – zum Anlass für einen Metakommentar nimmt. So entfernt er sich von allen konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und reflektiert über die Möglichkeit von Theorie überhaupt, anstatt sie durchzuführen. Insofern emanzipiert sich Adorno von jeder Erklärung der bundesdeutschen Gesellschaft 1964, indem er sich den erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Erkennens selbst widmet. Sein Absehen von den konkreten Verhältnissen entspricht dabei ausgerechnet seinem Beharren darauf, sich in die Konkretion zu versenken. Er insistiert, sich ganz dem Gegenstand selbst ohne Entfernung zur Sache zu überlassen, während er sich von einer Theorie der Gesellschaft mit solchen methodischen Vorüberlegungen immer weiter entfernt.
Das „Versagen“ der Theorie
Sein Vorwurf gegen die empirische Sozialwissenschaft in dieser methodischen Einleitung besteht also darin, dass diese sich „von der Theorienbildung […] entfernt, als daß sie sich ihr näherte“ (S. 30). Der Fehler der modernen Soziologie liegt also nicht in dem, was sie tut und wie sie sich die Fakten erklärt, sondern darin, dass sie es immer weniger überhaupt täte, oder eben scheitere und insofern in Ungnade gefallen sei:
„Und wenn Sie in unserer Zeit heute ein so weitgehendes Mißtrauen gegen Theoriebildung überhaupt beobachten können, dann ist dieses Mißtrauen gegen Theoriebildung nicht nur das schlechte und armselige, ich würde sagen, Symptom des Angestelltendenkens, das es allerdings auch ist, sondern es hat zugleich sein fundamentum in re. Vor allem eben die ganz legitime Enttäuschung darüber, daß ungezählte sogenannte theoretische Entwürfe versagt haben. Und schließlich war ja sogar die Rassentheorie der Nationalsozialisten irgend etwas wie der Versuch einer Theorie der Gesellschaft, nur eben einer vollkommen zum Wahnsystem ausgearteten, die also einen vernünftigen Grund überhaupt nicht mehr gehabt hat.“ (S. 45)
Den „vernünftigen“ Grund der Rassentheorie – eine Rechtfertigung für die nationalsozialistische Politik mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu liefern – lässt der Philosoph nicht gelten, weil dies seinem Maßstab der Vernunft nicht standhält und damit in die Abteilung „Wahnsystem“ fällt: So lässt sich kein Fehler der Nazis ermitteln, aber ihre Theorieproduktion erfolgreich als unvernünftiger Wahnsinn verdammen. „Versagt“ hat eine „Wissenschaft“ wie die Schädel- und Nasenmesserei der deutschen Faschisten dabei auch nicht in ihrer Funktion, allerlei Belege zu finden beziehungsweise zu konstruieren, die nützlich für die ideologische Theorieproduktion im dritten Reich waren. Man muss der Rassentheorie schon etwas sachfremd den Zweck unterstellen, Erkenntnis über die menschliche Natur herausfinden zu wollen, um sie dann als gescheitert bezeichnen zu können. Das Ende der entsprechenden Lehrstühle jedenfalls verdankte sich nicht einer Einsicht in den interessierten Charakter entsprechender Studien, sondern dem „Wechsel“ des Herrschaftspersonals in Berlin und der entsprechenden Umstrukturierung der deutschen akademischen Landschaft.
Überhaupt die Rassentheorie zum theoriefernen Empirismus zu erklären, anstatt umgekehrt in ihr eine Ideologie zu entdecken, die noch jedes Faktum unter den vorher gefassten Entschluss subsumieren kann, Juden- und sonstige „Untermenscheneigenschaften“ zu „identifizieren“, illustriert die verkehrten Urteile des Frankfurter Soziologen, der Theoriebildung „an sich“ problematisiert. Da soll eine Skepsis gegen Theorie ausgerechnet daraus ihre Legitimität beziehen, dass man Theoriebildung ganz im Geiste der Rechtfertigung betreiben kann; ganz so, als hätten die Schädelmesser sich vertan und wenig entschlossen ein Projekt verfolgt, dass von Anfang an einen anderen Zweck hatte, als etwas zu erklären.
Zum Gegenstand der Reflexion machen
Mit diesen Überlegungen ist für Adorno der Gegenstand der Vorlesungen festgelegt: Das Problem von Theoriebildung allgemein, dabei ist die einzelne Theorie immer nur Exempel fürs Allgemeine. Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie wird vorstellig gemacht als eine Theorie der Gesellschaft und unter die sehr philosophische Botschaft subsumiert, die Adorno ihr abgelauscht hat:
„‚Seht euch einmal an, wie eure Gesellschaft als ein System nun wirklich funktioniert, also seht euch einmal an, was herauskommt, wenn man das liberale Prinzip des freien und gerechten Tausches sich allseitig entfaltet denkt‘, die bedeutet eben zugleich auch, daß dieses System, indem es sich selbst verwirklicht, sein eigenes Negatives wird.“ (S. 47)
Adorno stellt damit klar, worum es ihm geht: Ausgerechnet Marx‘ Werk, dass die Verkehrsformen des Kapitalismus darstellt, interessiert ihn gerade in der Absehung dieses Inhalts als ein Beispiel für die Problematisierung von Theorie der Gesellschaft überhaupt:
„Und ich glaube, wenn ich Sie hier in die Elemente einer philosophischen Theorie der Gesellschaft einführen soll, bin ich zunächst gehalten, Ihnen wenigstens kursorisch zunächst einmal einige der Momente zu nennen, in denen eben diese theoretische Einheit der Gesellschaft nicht mehr besteht, und daran anzuschließen die Frage, ob dadurch die Möglichkeit einer Theorie überhaupt [!] ausgeschlossen ist, und weiter die Frage – die nun freilich eine philosophische Frage ist und anders als philosophisch gar nicht beantwortet werden kann –, wie dann nämlich eine Theorie der Gesellschaft auszusehen habe, oder, um es vorwegzunehmen, dann die Frage anzumelden nach der Gestalt einer nichtsystematischen Theorie.“ (S. 48f)
Marx‘ Ausführungen zum gerechten Tausch, den dieser als Verkehrsform der kapitalistischen Ausbeutung denunziert, zitiert Adorno entsprechend seinem Projekt nur ganz beiläufig, ohne den Gedanken näher zu würdigen oder gar seinen Studierenden – und damit auch seinen Lesenden von heute – näher zu bringen. Alle Theorien der Gesellschaft sind für ihn eben nur das Sprungbrett für die Rückführung auf ihre philosophischen Elemente und damit Anlass zur Reflektion, wie eine kritische Methode der Theorie oder eine methodologische kritische Theorie auszusehen hat. Insofern sind auch diese Vorlesungen von Adorno ein Konjunktiv: Wie eine Theorie der Gesellschaft heute noch möglich wäre, die den Ansprüchen einer kritischen Theorie der Gesellschaft gerecht werden würde. Entsprechend dürftig fällt die Theorie der Gesellschaft aus, die im Titel angeführt wird; und entsprechend viel Raum nehmen die philosophischen Elemente ein.
Dennoch bleibt, was zu Anfang festgestellt wurde: Ausgerechnet jene Stellen, die für Adorno nur den Charakter des kursorischen Beispiels haben, sind immer wieder lesenswert und sind gerade in ihren Reflexionen auf die „Rolle der Technik“ (S. 210) im Kapitalismus – gerade im Zeitalter der Digitalisierung und KI – mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmen.
Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen. Band 12: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-30013-8.
278 Seiten. 25,00 Euro.