Marxistische „Feindbetrachtungen“
- Buchautor_innen
- Karl Reitter (Hg.)
- Buchtitel
- Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals?
- Buchuntertitel
- Zur Kritik der „Neuen Marx-Lektüre“
Wie kann man Kritik an der Neuen Marx-Lektüre üben, ohne diese gleich komplett als Frevel an Marx' Worten abzutun?
„Abstrakte Herrschaft“, „automatisches Subjekt“, „totale Vergesellschaftung“: Das sind die Signalwörter einer ganzen Diskursrichtung, die sich in den 90er Jahren entwickelt hat und sich mit einem „Zurück zu Marx“, aber auch mit kritischer Distanz zu sozialen Bewegungen hervortut. Während die hinter jenen Signalwörtern stehende Theoriebildung durchaus zu würdigen ist, geht sie politisch auf ziemlich problematische Wendungen hinaus: Die Kritik konkreter Akteure hebelt sie mit dem Hinweis auf die „abstrakte Herrschaft“ (das heißt die Herrschaft unpersönlicher Strukturen) aus, konkrete Kämpfe entwertet sie durch deren „bloße Systemimmanenz“. Sie weiß sich über den „Arbeiterbewegungsmarxismus“ erhaben und übt sich in einer überlegenen Reinheit der Kritik.
Diese Diskursformation zu kritisieren ist wichtig. Insbesondere deshalb, weil es sich bei ihr nicht um bloße Theoriezirkel handelt, sondern sie anleitend für zwei linksradikale, aktivistische Strömungen war und ist: Die antinationale Strömung, die in großen Teilen in die Gründung des „Ums Ganze“ Bündnisses mündete – der Kapitalismus kann nicht durch Teilkämpfe, sondern nur „als Ganzes“ abgeschafft werden –, und die antideutsche Strömung, die neben einigen treffenden Interventionen in einer ideologiekritischen Textindustrie und objektiv in der Bekämpfung linker Politik besteht.
Karl Reitter hat 2015 einen Sammelband herausgebracht, dessen Beiträge diese Diskursrichtung ins Visier nehmen – wie er sagt: die „Neue Marx-Lektüre“. Als Neue Marx-Lektüre wird ein deutschsprachiger Theoriezusammenhang bezeichnet, der in den 1960er Jahren von der Adorno-Schule ausging und zu deren namhaftesten Vertreter_innen Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt gehören. Das Problem mit der Bezeichnung ist, dass der Sammelband all diese Theoretiker_innen, auch Adorno, so liest, als würden sie ganz genau dieser Diskursrichtung entsprechen – was sie, obwohl ihre Vordenker, nicht tun. Problematisch ist auch, dass der Band neben der Neuen Marx-Lektüre auch die Wertkritik behandelt, eine ebenfalls deutschsprachige Theoriebewegung, zu deren wichtigsten Gruppen krisis, exit! und das ISF Freiburg gehören. Obwohl der Sammelband Neue Marx-Lektüre einerseits und Wertkritik andererseits unterscheidet, spricht er letztere mit der Neuen Marx-Lektüre irgendwie immer auch mit an. Dabei hat die Wertkritik, neben einigen Berührungspunkten, zum Teil deutlich abweichende Thesen und entwickelt – anders als die Neue Marx-Lektüre – auch Vorschläge für antikapitalistische Praxen.
Die Hüter des wahren Marx
Die meisten Autoren (Reitter schreibt im Vorwort, es sei ihm trotz aller Bemühungen nicht gelungen, Autorinnen zu finden) analysieren Texte der genannten Strömungen, insbesondere von Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich, Robert Kurz, Norbert Trenkle, Ernst Lohoff, und, als „Ahnherr“, Theodor Adorno. Sie formulieren eine Kritik an der neuen Marx-Lektüre, die sich wie folgt zusammenfassen lässt.
So sei darin der Kapitalismus ein geschlossenes System, dem alles, auch die Arbeiterklasse, bloß immanent ist. Ihre Analyse des Kapitalismus sei ahistorisch und ziele auf ideale, ewiggleiche Formen ab; die innere Geschichte der kapitalistischen Produktionsweisen werde systematisch ausgeblendet. Das Kapital werde als Theorie gelesen, die uns über das Funktionieren des Kapitalismus aufklärt; die von Marx herausgearbeiteten Brüche und Widersprüche, die über den Kapitalismus hinausweisen, werden von ihr jedoch nicht zur Kenntnis genommen. Die Neue Marx-Lektüre sehe kein Unterdrückungsverhältnis zwischen den Klassen, sondern lediglich abstrakte Herrschaft, denen alle gleichermaßen unterworfen seien. Konkrete Kämpfe sind für sie prinzipiell außerhalb des Blickfelds. Die Verhältnisse seien von einem fetischistischen Schein überzogen, so dass den Subjekten selbst keine Erkenntnis des kapitalistischen Systems möglich ist.
Exemplarisch ist das bei Tobias Brugger zu sehen, der in seinem Beitrag die Neue Marx-Lektüre anhand von „Marx im Westen“ von Ingo Elbe und „Die Wissenschaft vom Wert“ von Michael Heinrich kritisiert. Brugger zeigt, dass die Neue Marx-Lektüre Klassenkampf, konkrete Herrschaftsverhältnisse und systemstabilisierende Ideologie durch einen geschlossenen Gesellschaftszusammenhang mit einer abstrakten, subjektlosen Herrschaft ersetzt. Dieser informativen Übersicht stellt er verschiedene Argumente gegenüber. So werde die Herrschaft durch die Kapitalistensubjekte durchaus „konkret“ vollzogen, indem sie etwa durch Spaltungen der Arbeiterklasse durchgesetzt wird. Und Ideologie bestehe ebenso nicht in der bloßen fetischistischen Form, sondern werde durch konkrete Intellektuelle produziert und durch vielfältige Apparate vermittelt. Sowohl die Übersicht als auch die kritischen Argumente sind aufschlussreich. Nicht zutreffend ist jedoch, dass ein klassischer Autor wie Helmut Reichelt konkrete Herrschaftsverhältnisse schlicht für nichtexistent erklärt hat.
Leider werden die meisten Kritiken des Bandes keineswegs nüchtern, sondern in einem ganz aufgeregten Gestus vorgebracht: Diese Autoren meinen „das ureigenste Anliegen von Marx“ (S. 119) identifiziert zu haben und besprechen ihre Texte mit denunziatorischem Vokabular – „verheerend“ (S. 190), „bringt die zentrale Leistung von Marx zum Verschwinden“ (S. 110), „verfehlte Philosophierungen“ (S. 59). Im Grunde stellen sich die Autoren als Hüter des wahren Marx hin und kanzeln die Neue Marx-Lektüre als eine Art Frevel an ihm ab. Diese erboste Haltung kann ich nicht nachzuvollziehen, immerhin sind Neue Marx-Lektüre und Wertkritik prinzipiell antikapitalistisch eingestellt. Und obwohl der Sammelband ihnen sowohl die Vernachlässigung praktischer Perspektiven als auch die Verschleierung der sozialen Antagonismen vorwirft, korrespondieren ihnen durchaus auch aktivistischen Strömungen, die gute Sachen gemacht haben (z. B. intensive Antifa-Arbeit oder linksradikale Hochschulpolitik). Klar: Der Klassenkampf spielt für diese keine Rolle, aber müssen linke Positionen bekämpft werden, wenn sie kein Bewusstsein des Klassenkampfes haben?
Lieber keine Neue Marx-Lektüre?
Den Versuch, sich jenseits der Verteidigung des wahren Erbes auf die Begründungen der Gegner einzulassen, unternehmen nur Andreas Exner und Karl Reitter. Auch werden die tatsächlichen Arbeitsleistungen mit keinem Wort gewürdigt, etwa die Analyse des Finanzmarkts von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle in ihrem Buch „Die große Entwertung“ oder Helmut Reichelts „Interpretation des Kapital“, und hier ließe sich etliches mehr anführen. Offenbar wird das alles ohnehin für Unsinn gehalten, jedenfalls verhängen die Autoren ein totales und recht wütendes Verdikt gegen ihre Gegner. Das einzige und traurig schlichte Ziel des Sammelbands scheint darin zu bestehen, dass niemand mehr die Neue Marx-Lektüre und die Wertkritik zur Kenntnis nimmt. Das macht die Lektüre ermüdend und ärgerlich. Was sehr schade ist. Denn die meisten Beiträge geben mit ihren Ausführungen zu Klassenkampf, repressiver Arbeitsorganisation oder dem materiellen Charakter der Ideologie ja in der Tat auch gute Hinweise darauf, in welchen Bereichen die Neue Marx-Lektüre fahrlässig einseitig ist. Sie schärfen also den Blick.
Leider ist auch oft schwer zu entscheiden, ob die scharfen Polemiken überhaupt treffen, wenn man die Originaltexte nicht danebenlegt (wenn man sie denn kennt). Für eine kritische erste Information ist der Band nicht geeignet. Anlass zu dieser Skepsis geben fragwürdige Kritiken wie die von Georg Klauda. Der Autor zeigt, dass in der Kritischen Theorie der strukturelle Zwang der Eigentumslosigkeit und die Gewalt der Ausbeutung keine Rolle spielen. Hieran schließt er eine wuchtige Kritik an: Die Kritische Theorie pflege nur einen metaphorischen Gebrauch Marxscher Begriffe und bewege sich ansonsten auf dem lebensphilosophischen Terrain eines Georg Simmel oder Max Weber. Richtig ist, dass der strukturelle Zwang der Eigentumslosigkeit in der Kritischen Theorie keinen systematischen Stellenwert hat. Durchaus aber die Angst ökonomisch isolierter Individuen vor der strukturellen Gewalt der Gesellschaft, mit explizitem Augenmerk auf alle in abhängigen Stellungen. Und das ist ja durchaus marxistisch. Statt die Kritische Theorie nur als Entstellung des Marxschen Erbes zu bekämpfen, wäre auch hier mehr zu gewinnen gewesen, wenn Klauda die lebensphilosophischen Arbeiten der Kritischen Theorie darauf geprüft hätte, wo diese aus marxistischer Sicht zu modifizieren wären.
Philosoph der Befreiung und Theoretiker des Kapitals
Mein Einwand wäre also, dass die Arbeiten der Neuen Marx-Lektüre und der Wertkritik bei aller nötigen Kritik auch zu würdigen sind. Neben den materiellen Analysen fehlen im Sammelband vor allem zwei allgemeine Dimensionen. Die eine ist die Kritik am traditionellen Marxismus, wie er in der II. Internationale und im Staatskommunismus präsent war. Dieser staatsfixierte Marxismus hatte den Klassenbegriff auf das Industrieproletariat eingeschränkt und war von der geschichtlichen Mission dieses Proletariats, und sowieso einer Automatik der Revolution ausgegangen. Neue Marx-Lektüre und Wertkritik stehen heute, auch durch die kritische Wiederaneignung von Marx selbst, zentral für die Kritik an diesem traditionellen Marxismus. Auch die Autoren des Bandes merken wiederholt an, dass diese Kritik notwendig ist. Aber indem sie wirklich kein gutes Haar an ihren Gegnern lassen, ist völlig unklar, wie sie sich vom traditionellen Marxismus abgrenzen wollen. Da bei ihnen nichts Konkretes zu dessen Kritik kommt, scheinen sie mit ihrem Beharren auf Klasse und Revolution doch ziemlich in orthodoxem Fahrwasser zu schwimmen.
Die zweite Dimension betrifft den Problemkreis der unpersönlichen abstrakten Herrschaft und der verselbständigten Systemimperative. Zwar erkennen die Autoren in ihren Worten immer wieder an, dass es diese Problematiken gibt. Wie sollte man Marx’ Ausführungen zum Wertgesetz und zum Verwertungsprozess des Kapitals auch sonst verstehen, wenn es keine verselbständigten Systemimperative, sondern nur persönliche, konkrete Herrschaft gäbe? Aber da die Autoren (bis auf Andreas Exner) alles verdammen, was die Neue Marx-Lektüre und die Wertkritik dazu ausgearbeitet haben, bleibt hier unklar, wie die Autoren sich das vorstellen.
Ohnehin ist fraglich, warum beide „Lager“ in so eine dichotome Frontstellung gebracht werden müssen. Es ist allzu plakativ, wenn im Titel Karl Marx als „Philosoph der Befreiung“ dem „Theoretiker des Kapitals“ entgegengestellt wird. Nicht einmal durch die etlichen Texte, die beides wirklich zusammendenken, fühlt sich der Sammelband irritiert, etwa die von Hans-Jürgen Krahl oder aktuell die in der Zeitschrift kosmoprolet. Leider wird nichts davon im Sammelband erwähnt.
Die eigentlich zu stellende Frage wäre gewesen: Wie müssen wir unpersönliche Herrschaft, verselbständigte Systemlogik und fetischistischen Schein fassen, damit ihr innerer Zusammenhang mit der Klassenherrschaft und ihrer Gewalt verständlich wird? Denkbar wären hier Antworten etwa in der Richtung, dass die Arbeiter zwar das Kapital verwerten und insofern das eigentliche Subjekt sind, sie aber zugleich vom Kapital abhängig sind, was sie in eine paradoxe und gespaltene Position zwingt. Um solche Fragen zu bearbeiten, wäre einiges an Arbeit nötig gewesen. Allerdings trägt der Sammelband im Großen und Ganzen, bis auf die Aufsätze von John Holloway und Andreas Exner (gleich mehr dazu), nichts dazu bei. Immerhin hat er den Verdienst geleistet, auf eine gewisse Spannung zwischen beiden „Lagern“ aufmerksam zu machen. Diese Spannung wäre aber nicht als Problem der Theorie, sondern als Widerspruch der Wirklichkeit zu behandeln gewesen.
Mal wieder zu den Inhalten
Kommen wir zurück zu den Beiträgen des Sammelbands. Tatsächlich ist die Mehrzahl der polemischen Beiträge (bei Würdigung ihrer Leistung) handwerklich unzureichend. Sie zu lesen macht nicht wirklich Spaß. Eine Ausnahme stellen die Beiträge von Karl Reitter und Andreas Exner dar, die sehr gut geschrieben und auch inhaltlich hochinteressant sind. Reitter schreibt eine Widerlegung der „monetären Werttheorie“ anhand der Arbeiten von Backhaus und Heinrich. Monetäre Werttheorie bedeutet kurz gesagt, dass der Wert nicht im Warenkörper selbst steckt, sondern im Warentausch und in den Moneten beziehungsweise im Geld. Dem stellt er eine Theorie der realen Abstraktifizierung von Arbeit in ihrer realen Organisation gegenüber. Exner charakterisiert Grundpositionen der Wertkritik und stellt dann als einziger die Frage: „Was ist an diesen Kritiken positiv aufzunehmen, was ist zu problematisieren?“ (S. 213) Er zeigt, wie sachliche und persönliche Herrschaft im Verhältnis miteinander stehen. Zudem geht es ihm darum, herauszuarbeiten, wie die Arbeiter als Subjekt des Klassenkampfs, der sich dennoch unter objektiven Formzwängen vollziehen muss, gedacht werden können.
Des Weiteren gibt es drei Beiträge mit eigener konkreter Theoriebildung. Das ist zum einen der mitreißende Aufsatz von John Holloway, der die Bedeutung des ersten Satzes des Kapitals herausarbeitet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’“. Das Kapital beginne also mit dem Reichtum und nicht mit der Ware, so Holloway. Ausgehend davon zeigt er, wie grundlegend für Marx die Spannung zwischen dem Reichtum des gesellschaftlichen Lebens und den Formzwängen von Ware und Kapital war. Christoph Lieber versucht in einem weiteren Beitrag eine kommunistische Eigentumstheorie zu entwickeln, die ohne Staatseigentum auskommt. Nicht zuletzt gelingt es Roland Atzmüller, die Qualifizierung von Arbeitskräften in Fordismus und Neoliberalismus vor dem Hintergrund der Debatten zu Marx’ Begriff der komplizierten Arbeit zu erörtern.
Wie die Neue Marx-Lektüre haben sich mittlerweile die antinationale und die antideutsche Strömung zerfasert und auch weiterentwickelt. Der Diskussionsstand, den der Sammelband angreift, ist so nicht mehr aktuell: In einer relativen Breite wird seit einigen Jahren wieder von Klasse und Revolution gesprochen, und Teile der vormals antideutschen und antinationalen Szene versucht wieder, sich in Klassenkämpfe einzumischen. Im Sammelband fehlt jeder Hinweis darauf. Aber gerade diese Bewegungen könnten die Grundlagen für neue Bündnisse und für wirklichen Fortschritt in der marxistischen Theoriearbeit sein.
[Anmerkung Redaktion] Der Autor distanziert sich von der Überschrift, welche die Redaktion für diese Rezension wählte.
Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals?. Zur Kritik der „Neuen Marx-Lektüre“.
Mandelbaum Verlag, Wien.
ISBN: 9783854766391.
315 Seiten. 19,90 Euro.