Marx-Lektüre à la Althusser
- Buchautor_innen
- Louis Althusser / Étienne Balibar / Roger Establet / Pierre Macherey / Jacques Rancière / Frieder Otto Wolf (Hg.)
- Buchtitel
- Das Kapital lesen
- Buchuntertitel
- Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktationen zum „Kapital“
Ein mehr als 50 Jahre alter Klassiker des kritischen Marxismus könnte nach wie vor eine innovative Bereicherung für die deutschsprachige Linke sein.
Die Ansätze zu einer kritischen Gesellschaftstheorie aus dem Kreis um den französischen Philosophen Louis Althusser, auf dessen kollektive Anstrengung der voluminöse Band „Lire le Capital“ (1965) zurückgeht, sollten in Deutschland bereits in den theoretischen Kämpfen der 1970er Jahre aus dem Feld geräumt werden. Folgenreich polemisierte etwa Alfred Schmidt gegen die Ansätze im Althusser-Kreis, indem er sie eines „strukturalistischen Angriffs auf die Geschichte“ bezichtigte.
Ende der 1960er Jahre formierte sich in Deutschland ein anderes kollektives Projekt zur Neulektüre der Marx’schen Theorie, die auf einer Neuinterpretation der Werttheorie basierte. Diese wurde zur Wertformanalyse und Ökonomiekritik ausgeweitet. Unter dem Stichwort „Neue-Marx-Lektüre“ sind diese konkurrierenden Ansätze bis heute präsent. Die Arbeiten des Kreises um Althusser wurden im deutschsprachigen Marxismus hingegen nur spärlich publiziert und diskutiert. Die Einordnung und Kritik als strukturalistischer Marxismus hat sich gehalten und der größere Diskussionszusammenhang Althussers, in dem zahlreiche bekannte Theoretiker_innen (etwa Jacques Rancière oder auch der junge Michel Foucault) standen, wurde kaum wahrgenommen. Es waren die Bemühungen weniger, wie Peter Schöttler, der eine Reihe von Texten aus dem Umkreis von Althusser im VSA-Verlag herausgab, und kleiner Zeitschriften wie alternative und kultuRRevolution, die eine Diskussion der Ansätze des Althusser-Kreises ermöglichten. Frieder Otto Wolf, ein Weiterer dieser Wenigen, hat in den letzten Jahren zum zweiten Mal den Versuch einer deutschsprachigen Werkausgabe Althussers gestartet.
Innerhalb dieser ist mit der ersten vollständigen Ausgabe von „Das Kapital lesen“ fünfzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen wohl eine der innovativsten aber auch anspruchsvollsten Arbeiten eines kritischen Marxismus im 20. Jahrhundert den deutschsprachigen Leser_innen zugänglich gemacht worden. Der Band erlaubt durch die aufwendige redaktionelle und übersetzerische Arbeit, sowohl den Text der ersten Auflage als auch den gründlich überarbeiteten Text der zweiten Auflage zu rezipieren und ermöglicht so eine gründliche Lektüre. Einer solchen bedürfen die Texte auch, denn der begriffliche Apparat, den Althusser und seine Mitarbeiter in ihren Beiträgen aufbauen, erscheint, gerade in der heutigen theoretischen Konjunktur, schwer zugänglich und sperrig. Leider wird die Lesbarkeit durch eine zu vorsichtige und mit überflüssigen eckigen Klammern gespickte Übersetzung zusätzlich erschwert.
Marx auf Marx anwenden
In sechs Texten werden zentrale Aspekte der Marx’schen Theorie diskutiert: die Werttheorie und die Frage des Darstellungsprozesses im Kapital (Pierre Macherey), der Begriff der Kritik in der Entwicklung des Marx’schen Denkens (Jacques Rancière), der Aufbauplan des Kapitals (Roger Establet) beziehungsweise die bei Marx vorhandenen Grundbegriffe des historischen Materialismus (Étienne Balibar). Ich möchte hier auf zwei Begrifflichkeiten eingehen, deren Verwendung sich als unumgänglich erweist, um die grundlegende Argumentationsweise aller Beiträge des Bandes – gewissermaßen ihren gemeinsamen Nenner – zu erfassen. Sie beide werden in den Beiträgen Althussers entwickelt. Es handelt sich zum einen um das, was als symptomale Lektüre bezeichnet wird, und zum anderen um den Begriff der strukturalen Kausalität.
Mit symptomaler Lektüre wird die damals, als Dekonstruktion und Diskursanalyse noch in ihren Anfängen standen, grundlegend neue Art und Weise des Lesens umschrieben. „Das Kapital“ soll nicht länger als Ausfluss von Wahrheit, als heilige Schrift, aufgefasst werden. Vielmehr soll die radikale Art und Weise, in der Marx die klassischen politischen Ökonomen las und kritisierte – also anhand ihrer grundlegendsten Ausgangspunkte und Fragestellungen – auf Marx’ eigenen Text angewendet werden. Der Marx’sche Text wird so nicht länger als einheitliche, geschlossene Theorie aufgefasst, sondern seine Inkonsistenzen, Lücken, Ungenauigkeiten und Metaphern sollen als aufschlussgebende Mängel einer kritischen Bearbeitung unterzogen werden. Dadurch, so der Anspruch, soll dasjenige, was Marx theoretisch tut, aber nicht begrifflich ausspricht oder aussprechen konnte, auf adäquate Begriffe gebracht werden.
Jenseits des Basis-Überbau Schemas
Die von Althusser unternommene grundlegende Kritik an einem Großteil der marxistischen Tradition – etwa der stalinistischen wie der Marx-Auffassungen der 2. Internationale – kann auch heute noch an Denkweisen, die zahlreiche Argumente und Theorien einer gesellschaftskritischen Linken grundieren, fruchtbringend formuliert werden.
Die Theorie von Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewusstsein“, ist wohl die theoretisch elaborierteste Variante dessen, was von Althusser als Theorie expressiver Kausalität kritisiert wird. Soziale Phänomene werden hier als vermittelte Erscheinungen aufgefasst, die das Wesen einer (ökonomischen) Grundstruktur in entfremdeter, verkehrter oder verdinglichter Form zum Ausdruck bringen. Aus der kritischen Untersuchung der einzelnen Teile kann so das gesellschaftliche Ganze begriffen werden, da die einzelnen Teile immer nur, pars pro toto, einen anderen Ausdruck der gleichen Grundstruktur darstellen und von dieser determiniert werden.
Die symptomale Lektüre des Kapitals fördert im Gegensatz dazu ein gänzlich neues Modell von Kausalität zutage, das Althusser zufolge die grundlegende Neuartigkeit der Marx’schen Theorie gegenüber allen bisherigen philosophischen Modellen ausmacht. Die Vorstellung gesellschaftlicher Teilbereiche und Phänomene als Ausdruck einer zugrundeliegenden (ökonomischen) Struktur wird verworfen.
Jede historische Gesellschaftsformation wird nun als ein komplexes strukturiertes Ganzes, als ein Verhältnis von Verhältnissen, gefasst. Die verschiedenen Teilbereiche einer Gesellschaft werden als politische, ideologische, ökonomische Verhältnisse mit einer jeweils eigenen Materialität und je unterschiedlichen Herrschaftslogiken verstanden. Die Instanzen einer Gesellschaftsformation werden aber nicht wahllos in Kalküle, Strategien und mikrophysikalische Elemente aufgelöst. Vielmehr sind sie als Teile mit eigenständiger Wirksamkeit in ihren Effekten aufeinander bezogen und entfalten ihre Dominanz- und Subordinationsbeziehungen nur in ihrer Artikulation. In diesem Beharren auf einer Notwendigkeit von Gesellschaftstheorie besteht das marxistische Erbe fort – jener Teil, den Althusser in seiner Kritik der Ausdruckslogik zu retten versucht. Nicht Determination einer Instanz durch eine andere oder Wechselwirkung der Instanzen wie im Basis-Überbau-Modell, sondern Überdetermination der Instanzen ist in diesem Sinn der Schlüsselbegriff für Althussers Konzeption des gesellschaftlichen Ganzen. Was zunächst abstrakt erscheint, meint, dass eine gesellschaftliche Konjunktur niemals auf eine einzige Kausalität reduzierbar ist, sondern es notwendig macht, das Zusammenwirken verschiedener Herrschaftslogiken zu denken. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit tritt niemals einfach als solcher auf, sondern seine Wirkungen sind immer schon überformt. Die Gesellschaft lässt sich, wie Jost Müller in dem Buch „Ideologische Formen“ Althusser folgend schreibt, „als das umkämpfte Terrain verschiedener sozialer Praktiken rekonstruieren“. Die Formen des Kampfes und seine Subjektivitäten sind ebenso wenig homogen, wie die Weisen der Unterdrückung und Ausbeutung. Die Perspektive des Klassenkampfs wird damit eine des gemeinsamen Handelns Verschiedener.
Über Marx hinaus
Die unterschiedlichen Verhältnisse bilden in ihrem Zusammenwirken und ihrer Überdetermination historische Konstellationen. In der konkreten Analyse einer solchen Konstellation gilt es, die Ungleichzeitigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen Ökonomie, Politik und Ideologie zu berücksichtigen. Dafür reichen Marx’ Begriffe nicht, sondern es bedarf eigener abstrakter Begriffe für die Untersuchung der politischen und ideologischen Verhältnisse, die sodann zusammen mit den ökonomischen Begriffen der Marx’schen Theorie für eine bestimmte historische Konjunktur konkretisiert werden müssen. So entstanden aus dem Kontext des Kreises um Althusser in der Folge Theorien des kapitalistischen Staates und der Nation-Form politischer Herrschaft (etwa durch Nicos Poulantzas) und der Ideologie (maßgeblich durch Althusser selbst und durch einen weiteren seiner Mitarbeiter, Michel Pêcheux). Außerdem wurden Rassismus (etwa durch Étienne Balibar) und Modi patriarchaler Herrschaft (etwa bei Michele Barrett) auf eine nicht länger ökonomistisch-reduktionistische Weise marxistisch kritisierbar.
All diese Ansätze zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie gesellschaftliche Herrschaftsmodi und Unterdrückungspraktiken nicht auf einen immer gleichen Modus von Vergesellschaftung zurückführen müssen, aber trotzdem die Gesellschaft als ein (wenn auch vielfältig differenziertes) „Ganzes“ zu denken beanspruchen. Fern von Modellen expressiver Kausalität oder von Haupt- und Nebenwiderspruchsargumentationen, können so die unterschiedlichen Formen politischer Herrschaft, ideologischer Unterwerfung und ökonomischer Ausbeutung aufeinander bezogen werden. Mit der Neuausgabe von „Das Kapital lesen“ werden diese Ansätze auf ihre Prämissen und Grundbegriffe diskutierbar. Zu hoffen bleibt, dass sie dadurch auch im deutschsprachigen Diskurs wiederbelebt werden. Denn sowohl ökonomistische Reduktionen als auch das Aufgeben jeder zusammenhängenden Gesellschaftstheorie haben gravierende Folgen für die theoretische Selbstverständigung linker Kräfte und damit für die politische Praxis.
Zusätzlich verwendete Literatur
Müller, Jost (2017): Ideologische Formen. Wien.
Das Kapital lesen. Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktationen zum „Kapital“.
Westfälisches Dampfboot, Münster.
ISBN: 978-3-89691-952-6.
764 Seiten. 49,90 Euro.