Koalitionen der Differenzen
- Buchautor_innen
- Ika Hügel / Chris Lange / May Ayim et. al. (Hg.)
- Buchtitel
- Entfernte Verbindungen
- Buchuntertitel
- Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung
"Entfernte Verbindungen" gibt Einblicke in feministische Debatten zu Sexismus, Rassismus, Klassismus und Antisemitismus und fordert, Unterdrückungsverhältnisse zusammen zu denken.
[Bereits 1993 erschien diese Rezension erstmalig in der Hamburger Frauenzeitung, an Aktualität hat sie nicht eingebüßt.]
Rassismus, Antisemitismus und Klassenunterdrückung in der Frauenbewegung. „Entfernte Verbindungen“ heißt nicht zufällig „Entfernte Verbindungen“, denn viele Beiträge dieses neuen Orlanda-Bandes machen deutlich, dass sie der Leserin genau diese Ambivalenz nicht ersparen wollen: die Verlängerung der Enttäuschung vieler Migrantinnen, Afrodeutscher Frauen und Jüdinnen, dass nach zehn Jahren deutsch(sprachig)er Rassismusdebatte das Verhältnis zur weißen feministischen Bewegung noch immer ein entferntes ist, die Konfrontation mit der notwendigen Entfernung und mögliche Verbundenheit zwischen Frauen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Unterschiede ergibt, und demgegenüber oder dementsprechend die vehemente Forderung nach Koalitionen und Bündnissen.
Genug der Nabelschau
Gerade diese Forderung nach themenorientierten Koalitionen und einer tragfähigen “Bündnispolitik gegen nationalistische, rechtsradikale Tendenzen und destruktive gesellschaftliche Machtstrukturen” (S. 13) dokumentiert eine Verschiebung in der feministischen Rassismusdebatte, die von weißen Mittelschichtsfeministinnen als Herausforderung betrachtet werden sollte, - denn sie stellt Angebote dar. Demgegenüber stehen die 80er Jahre, die als eine Phase zwar nicht überzeugender, aber überzeugter Trennung Schwarzer und weißer feministischer Politik angesehen werden können: Schwarze und jüdische Feministinnen hatten die Schnauze voll, immer wieder ignorante rassistische und antisemitische Diskriminierungen über sich ergehen zu lassen und anschließend auch noch einfühlsam erklären zu sollen, was weiße Frau denn nun falsch gemacht habe. Während sie begannen, ihre eigenen Strukturen aufzubauen, sollten weiße deutsche Feministinnen sich gefälligst mit den rassistischen und antisemitischen Strukturen innerhalb ihrer Zusammenhänge auseinandersetzen und lernen, für ihre Privilegien Verantwortung zu übernehmen. Die Kritik, dass diese Auseinandersetzung, so sie geführt wurde, in eine Nabelschau weißer Feministinnen ausartete, die sich im Kreisen um “ihren eigenen Rassismus” nur eine neue, aber nicht weniger ausschließende, (politische) Identität schufen, hat sicherlich ihre Berechtigung. Vielleicht erklärt sie auch, wieso so wenige weiße Feministinnen so wenig lautstark so wenig eigenständige Aktionen gegen den sich verschärfenden offenen Rassismus außerhalb der Frauenbewegung entwickelt haben.
Rassismus wird immer noch als ein „Thema” neben (nicht inmitten!) vielen anderen wichtigen feministischen Themen, als eine Kann-Auseinandersetzung betrachtet. Aber angesichts der Tatsache, dass rassistische Gewalt immer offener und immer brutaler zu einem kaum noch kaschierten gesellschaftsbestimmenden Phänomen wird, reiche es nicht mehr aus, dass Feministinnen sich mit dem Rassismus innerhalb ihrer eigenen Gruppen, Projekte und Strukturen auseinandersetzen. - Auch wenn diese eine unverzichtbare Voraussetzung sei für die notwendigen Bündnisse Schwarzer und weißer Frauen (und Männer) gegen Rassismus, - als staatspolitischer, wie er sich im AusländerInnen- und Asylrecht zeigt, - als ideologischer, wie er von Medien, Politik und Wissenschaft entwickelt und verbreitet wird, - als offene rassistische Gewalt verbaler oder physischer Art.
Historische Erbschaften und mehrheitsdeutsche Privilegien
Immer wieder wird in „Entfernte Verbindungen“ herausgestellt, dass weiße deutscher Frauen sich von ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft nicht lossagen können, dass sie unweigerlich von ihr kulturell geprägt sind, am „kollektiven Gedächtnis” teilhaben und von politischen und ökonomischen Privilegien profitieren. Das heißt nicht, dass sie schuldig sind, aber dass sie Verantwortung zu übernehmen haben, zum Beispiel auch für die rassistischen Kontinuitäten einer oft „vergessenen” deutschen Kolonialgeschichte und der nationalsozialistischen Vergangenheit. Entsprechend ist auch die Frage nach der Bedeutung deutscher Staatsbürgerschaft und den daraus erwachsenden Bürgerrechten zu verorten, der im Vierten Teil des Buches unter der Überschrift “Zwischen Kontinenten: Staatsbürgerschaft als Mittel zur Ausgrenzung” in vier Beiträgen nachgegangen wird.
„Entfernte Verbindungen“ stellt durchaus einen ganz besonderen Beitrag zur feministischen Rassismusdebatte dar. Bis auf den Teil “Daheim unterwegs: Kritik weißer Feministinnen an der Frauenbewegung” sind die Aufsätze und Gedichte fast ausschließlich von Afrodeutschen Frauen, Migrantinnen und Jüdinnen geschrieben, richten sich aber mehr oder weniger explizit (auch) an die weiße Frauenbewegung, zielen auf Vermittlung und Kritik. Viele der Texte fußen auf einem persönlichen Erfahrungshintergrund, der deutlich die spezifischen Gegebenheiten deutscher gesellschaftlicher Wirklichkeiten sichtbar macht.
Vermittlung und Kritik aus situierten Perspektiven
Auch in den stärker abstrakten - theoretisch gehaltenen Aufsätzen findet sich dieser spezifisch deutsche Bezug, was insofern von besonderem Interesse ist, als dass sich die deutschsprachige Rassismusdebatte bisher hauptsächlich auf Texte aus den USA, Großbritannien und den Niederlanden bezogen hat. Dadurch konnten die besonderen Fragen, die sich zum Beispiel aus der deutschen Kolonialgeschichte oder aus der Tatsache, dass die meisten Migrantinnen in der Bundesrepublik aus den Mittelmeerländern kommen, leicht ausgeblendet werden. Solche Distanzierungsmanöver macht „Entfernte Verbindungen“ ihren Leserinnen sehr schwer. So setzt sich der dritte Teil des Buches „Verbundene Entfernungen: Das Vereinigte Deutschland“ damit auseinander, welche Bedeutung die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland, inklusive der offiziell-politischen und feministisch- politischen Folgeerscheinungen, für Schwarze Frauen hat, wie sie (sich in diesem) dieses Geschehen erleben. Aber auch im ersten Teil „Schattenküsse auf dem Weg: Unterschiede zwischen Frauen“ ist der Bezug zur BRD, vor allem konkret der Frauen(projekte)szene, immer wieder offensichtlich.
Dem bewussten Umgang mit Unterschieden zwischen Frauen, auch jeweils innerhalb der „eigenen”, scheinbar homogenen Gruppen, wird von den Herausgeberinnen immense Bedeutung beigemessen. So geben sie sich nicht mit dem Standard-Trio „Rasse, Klasse und Geschlecht” zufrieden, sondern lenken die Aufmerksamkeit auch auf Alter oder körperliche Fähigkeiten, auf den politischen und schichtspezifischen Hintergrund der Herkunftsfamilie oder auf die Art der Fluchtgründe oder die Frage nach Gewalt-, Sucht-, oder Psychiatrieerfahrungen von Frauen. Die Artikel im ersten Teil des Buches befasse sich mit den unterschiedlichen Erfahrung türkischer und / oder jüdischer Frauen in der BRD, mit den religiösen Alltäglichkeiten christlich säkularisierter Deutscher und mit der Teile-und-Herrsche-Taktik gegenüber AfrikanerInnen und AsiatInnen. Außerdem finden sich zwei Beiträge, die sich - auf ganz unterschiedliche Art – mit der spannenden Frage auseinandersetzten, wie und wieso die Frauenbewegung als eine bürgerliche weiße Mittelschichtsbewegung ihre Ignoranz gegenüber der Bedeutung von Schichtunterschieden und ökonomischen Analysen (und deren praktischen Konsequenzen!) kultiviert.
Politisches Handeln inmitten der Machtunterschiede
Der differenzierte Blick auf die Vielfalt der Unterschiede, der es unmöglich macht, sich auf einfache Kategorien zurückzuziehen, schafft vielleicht, so hoffen die Herausgeberinnen, „Ansätze für eine politische Zusammenarbeit” und damit die Voraussetzungen für politische Handlungsfähigkeit.
Hervorzuheben ist, dass es hierbei eben nicht wie in manchen postmodernen Multi-Kulti oder Differenz-Konzepten um die Unterschiede im Sinne einer vorgeblich natürlichen Verschiedenheit handelt, die es voller Toleranz zu akzeptieren gilt. Vielmehr benennen die Autorinnen sie explizit als „Machtunterschiede”. Es geht darum aufzuzeigen, wie Unterschiede politisch, ideologisch, ökonomisch und sozial entstehen und auch produziert werden, - und damit bewusst umzugehen, was auch heißen kann, politisch dafür zu kämpfen, sie abzubauen. Welche Lust und / oder den Anspruch hat, die „Konstruktionen weißer westlicher Weiblichkeit” zu reflektieren und mit ihnen bewusst umzugehen, findet in „Entfernte Verbindungen“ mit Sicherheit einige Anregungen für ihr eigenes privates Hirn, für Gruppendiskussionen und politische Praxis.
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Die Rezension erschien zuerst in der Hamburger Frauenzeitung Nr. 38, 09/1993 und wurde uns freundlicherweise von der Autorin zur Verfügung gestellt.
Ika Hügel / Chris Lange / May Ayim et. al. (Hg.) 1993:
Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung.
Orlanda Frauenverlag, Berlin.
ISBN: 978-3922166917.
280 Seiten. 15,50 Euro.Zitathinweis: Antke Engel: Koalitionen der Differenzen. Erschienen in: Überschneidungen von Unterdrückungen. 10/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/bBMnG. Abgerufen am: 21. 11. 2024 12:04.