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Katastrophe mit Ansage

Buchautor_innen
Karl Heinz Roth
Buchtitel
Blinde Passagiere
Buchuntertitel
Die Corona-Krise und ihre Folgen
Die Pandemie kann ohne den Blick auf ihre desaströse Vorgeschichte nicht verstanden werden.

Karl Heinz Roth ist ein operaistisches Urgestein, politischer Aktivist seit Jahrzehnten – und war gleichzeitig jahrelang praktizierender Arzt und Sozialhistoriker. Ihm zuzuhören, was er über die Pandemie und die sozialen und politischen Implikationen davon zu sagen hat, muss also Sinn machen. Oder?

Jahrhundertelanges Versagen

Mit „Blinde Passagiere“ ist Roth eine grundlegende, wenn auch etwas auschweifende Gesamtdarstellung des Pandemieverlaufs gelungen. Das ist auch insofern verdienstreich, weil er um eine Übersicht innerhalb der sich krisenhaft überschlagenden Medienberichte bemüht ist und diese zumindest bis zu Rechercheende Mitte 2021 auch immer wieder zueinander in Beziehung setzt. Zentrale Thesen seines Bandes: Die Lockdown-Politik in vielen Ländern der Welt war nicht alternativlos – und die Pandemie ist ein Desaster mit Vorlauf. Mit einem knappen historischen Einstieg über vorhergegangene Pandemien zeigt Roth: Es gab seit vielen Jahren ein enormes Wissen um Pandemiegeschehen, internationale Pandemiepläne und -übungen wurden mit enormen Kosten hochgefahren und so weiter und so fort. Warum aber haben die Machthabenden daraus so wenig gelernt?

Den politischen Entscheidungszentren war „das nationale Hemd näher als der Rock der internationalen Solidarität“ (S. 282), wie Roth schreibt. Impfnationalismus, Impfprotekionismus – „stillschweigende“ Exportverbote für im Inland erzeugte Vakzine, etwa in den USA und in der EU, aber auch in Indien – „Blankochecks“ (S. 282) mancher Staaten für Impfstoffe und so weiter sorgten im Verlauf der Pandemie dafür, dass Pläne der gerechten Impfstoffverteilung weltweit ins Abseits gerieten. Die Kapitel, in denen der Autor diese Entwicklungen zusammenfasst, gehören zu den lesenswertesten, zusammen mit den Darstellungen ökonomischer Paradoxien der Coronakrise am Ende des Bandes.

Der biotechnisch-pharmazeutische Komplex

Dem Autor gelingt eine differenzierte Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Die Gesundheitssysteme der westlichen Länder wurden nach ökonomischen Effizienzkriterien ausgeblutet, was systematisch zu fehlenden Kapazitätsreserven im Kontext der Gesundheitsversorgung führte. Die Umschichtungen von Personal im Kontext der Covid-19-Versorgung und damit die Überlastung der Kapazitäten in der Krankenversorgung insgesamt verstärkten diesen Misstand und wurden auch seitdem nicht behoben. Roth macht mit Blick auf die weltweiten Übersterblichkeitsstatistiken deutlich, in welchem Maße Menschen auch deshalb sterben mussten, weil medizinische Funktionsketten erschwert oder unterbrochen wurden. Die Verquickungen von Staaten, Privatstiftungen und Pharmaindustrie werden von Roth genau dargestellt, ohne dabei in verschwörungsideologische Mutmaßungen abzudriften. Wichtig sind hier auch seine Ausführungen zu Impfkampagnen und Machtpolitik rund um die Erstellung und Distribution von Impfstoffen. Roth zeigt, dass durch die einseitige Bearbeitung der Folgen eine Entwicklung beschleunigt wurde, die er als „neuartige(n) biotechnisch-pharmazeutische(n) Komplex“ bezeichnet – spannenderweise als einen, „der an die Seite des militärisch-industriellen Komplexes tritt“ (S. 438).

Roths Ansatz ist international und auch in Bezug auf Klassenlagen ausgerichtet. So gelingt ihm ein Blick auf die Ungleichheitsdimensionen weltweit; etwa, wenn er über die die „Polizeistaatsmethoden“ (S. 303) in weiten Teilen des Globalen Südens berichtet. Mittels Schließung von Märkten und öffentlichen Plätzen sowie dem erschwerten Zugang zu lebensnotwendigen Alltagsstrukturen wurde, so der Autor, „die in den informellen Sektoren lebende Armutsbevölkerung dem Hunger aus(geliefert)“ (ebd.). Roth jongliert in diesen Kapiteln mit zahlreichen internationalen Beispielen. Das führt zwar zu einem etwas labyrinthartigen Lesevergnügen, aber ist zur Dokumentation und Grundlage für spätere Vertiefungsarbeiten sicherlich sinnvoll.

Für mehr Staatskritik

Aus einer materialistischen Kritik an den Zuständen wird seine Darstellung allerdings dann unvollständig, wenn Roth alle möglichen durch die Covid-Priorisierung in der Gesundheitsversorgung und die durch die Maßnahmen zusätzlich erschwerten Krankheiten pauschal als „negative gesundheitliche Folgen des Lockdowns“ (S. 314) bezeichnet. Ja, durch die längeren Phasen der eingeschränkten sozialen Kontakte stiegen beispielsweise vielerorts die Anzahl derer, die von psychischen Erkrankungen berichteten: Depressionen, Ängste, Suchtmittel-Missbrauch und so weiter. Dies einzig als negative Folge der Lockdowns zu beschreiben, greift allerdings zu kurz. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vulnerabilität im kapitalistischen Verwertungssystem und die in den Pandemiejahren gestiegene Akzeptanz, psychische Erschöpfung auch nach außen zu tragen und nicht nur individualisiert auszuhalten, sind ebenfalls Faktoren, die diese Statistik beeinflussen. Was war zuerst da, der Lockdown oder der Kapitalismus, diese Differenzierung ist für ein genaueres Bild von Bedeutung. Wenn die gestiegene Zahl von Frauen in Japan, die sich im Jahr 2020 suizidierten, angeführt wird, woran gilt es dann Kritik zu üben? Einzig an den Pandemie-Maßnahmen – oder auch an einer gesellschaftlichen Normalität, in der Frauen diese in einem überproportionalen Maße auffangen müssen (prekäre Lohnarbeit, Reproduktionsarbeit, patriarchale Strukturen…)? Da fehlt insoefern die Kohärenz, als Roth auch wenige Seiten später Japan als Vorzeigeland für die Pandemiebewältigung ausmacht.

So oft Roth wichtige Punkte aufmacht – etwa, dass Pandemiekrisen vor allem schon zuvor aufgekommene wirtschaftliche Krisen verstärken und selbst nicht ursächlich sind – und mit seinem enormen Wissen glänzen kann: der Band weist blinde Flecken auf. Ausnahmezustände auszurufen und elementare Bürgerrechte einzuschränken, so resümiert Roth etwa angenehm unaufgeregt, seien nicht „in der Absicht (geschehen), das politische System dauerhaft autoritär umzugestalten“ (S. 404). Er übt dabei auch Kritik an alarmistischen Stellungnahmen wie der des Theoretikers Giorgio Agamben. Die Kampagne ZeroCovid reduziert er aber im gleichen Atemzug darauf, einzig eine Stimme für eine „mit Solidaritätsfloskeln bemäntelte Verschärfung der autoritären Maßnahmen“ (S. 402) zu sein. Er speist sie mit wenigen Worten ab, anstatt die Forderungen des linken Bündnisses als das zu verstehen, was sie sein sollen: Als Staatskritik und Aufruf für eine umfassende Veränderung des Gesellschaftssystems und als solche notwendigerweise auch utopisch. Es wird so gedreht, als seien die Linken, die demokratische Maßnahmen für wichtig erachten, plötzlich zu autoritären, eurozentrierten Diener:innen des Staats geworden. Dass die Kritik an den staatlichen Maßnahmen als ungenügend und schlichtweg tödlich, nicht gleichzeitig Unterstützung des autoritären Staatshandelns ist, müsste eigentlich einem alten Hasen wie Roth klar sein. Eine weitere Kritikerin von ZeroCovid, Tove Soiland, macht im Übrigen (etwa in einem jüngst publizierten Artikel beim Neuen Deutschland) noch einen unsolidarischeren Move: Die Forderungen seien aus einer feministischen Perspektive in höchsten Maße zu kritisieren, eine Erfüllung derselben „käme(n) (…) einer radikalen Umwälzung gegenwärtiger kapitalistischer Ökonomien gleich.“ Ja, genau! Da sich Roth auf nur einer handvoll Seiten seines Buches überhaupt mit der Frage nach Reproduktionsarbeit, der Lage von Frauen* in der Pandemie oder feministischen Analysen dazu beschäftigt, kommt diese Argumentationslinie bei ihm wenigstens gar nicht erst vor. Dazu passt, dass bislang nach Homepage des Autors nur Männer den Band besprochen haben. Das muss ja nicht an sich schlecht sein, Männer sollen ja komplexe soziale Problemlagen ebenfalls ganz gut durchdenken können, aber es zeigt, dass diese Leerstelle – der kaum vorhandene Blick auf die sekundäre Care-Ökonomie, die Reproduktionsarbeiten, die zusätzlichen Mehrbelastungen vor allem für Frauen*, im Falle fehlender oder ungenügend ausgearbeiteter Maßnahmen erhöhte Verantwortung zu tragen und so weiter – bislang noch nicht wirklich aufgefallen ist.

So gibt es an einigen Stellen sehr viel Verständnis und analytische Klarheit für Ambiguitätstoleranz, an Widersprüchlichkeiten und Dilemmata. An anderen verfährt der Autor holzschnittartig; etwa, wenn nach seitenlangen Ausführungen doch wieder die richtige Lösung des Autors danach klingt, einfach stärker auf Basishygiene und Eigenverantwortlichkeit zu achten. Leo Fischer schrieb dazu passend kürzlich im Neuen Deutschland: „So wird die eigentlich soziale Aufgabe, die Individuen vor Katastrophen zu retten, zum Gegenteil: Die Individuen nehmen Katastrophen hin, damit die Systeme nicht mehr in die peinliche Lage geraten, sie verhindern zu müssen.“ Während ich dieses Buch durcharbeite, kämpfen alleine in Deutschland immer noch zigtausende Menschen täglich mit den schweren Auswirkungen des Virus, viele sterben daran. Weiterhin. Ab jetzt geht es aber wieder um Eigenverantwortung des Infizierens, viele staatliche Maßnahmen fallen weg. Und wir sind, auch aufgrund der harten Bandagen, mit denen im linken Lager gekämpft wird, nicht viel weiter gekommen mit einer gemeinsamen solidarischen Perspektive des Umgangs. Schade.

Karl Heinz Roth 2022:
Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen.
Verlag Antje Kunstmann, München.
ISBN: 978-3-95614-484-4.
480 Seiten. 30,00 Euro.
Zitathinweis: Johanna Bröse: Katastrophe mit Ansage. Erschienen in: Pandemisches Zeitalter. 63/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1756. Abgerufen am: 24. 04. 2024 23:05.

Zum Buch
Karl Heinz Roth 2022:
Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen.
Verlag Antje Kunstmann, München.
ISBN: 978-3-95614-484-4.
480 Seiten. 30,00 Euro.